# taz.de -- Klimaschutz als Privileg: Lieber Schamflüge und Extra-Scheine | |
> Züge sind teurer als Billigflieger und brauchen länger. Deshalb können | |
> sich nicht alle Menschen leisten, klimafreundlich zu reisen. | |
Bild: Wer Zug fahren will, braucht gute Nerven – und Geld | |
Das Jahr 2022 war für mich das Jahr des Zugfahrens und damit anders als die | |
beiden Pandemiejahre zuvor. Zum einen saß ich selbst ständig in Zügen | |
[1][auf dem Weg zu Lesungen überall im Land]. Die Geschichten von Zügen, | |
die plötzlich und stundenlang in der Pampa stehen bleiben, vom Warten auf | |
Anschlüsse in kalten Bahnhofshallen mit abmontierten Sitzbänken, vom Frust | |
über das beschränkte Angebot (Wasser und Currywurst) im Bordbistro, von | |
durch Waggons fliegenden Beleidigungen wegen der Aufforderung, eine Maske | |
zu tragen, erspare ich Ihnen jetzt mal. Es saßen zum anderen nämlich auch | |
die Menschen, denen ich begegnete, viel häufiger in Zügen, wie sie bei | |
jeder Gelegenheit stolz verkündeten. | |
„Es ist einfach unverantwortlich, angesichts des Klimas zu fliegen,“ sagte | |
mir etwa eine Mutter, kurz bevor sie allein mit ihrem 3-Jährigen in den Zug | |
stieg, um eine 20-stündige Reise mit fünf Umstiegen nach Südeuropa | |
anzutreten. Respekt, dachte ich mir. Natürlich hat sie recht, doch gehört | |
neben einem ökologischen Bewusstsein nicht auch sehr viel körperliche und | |
mentale Kraft dazu, einen Koffer, fünf Essenspakete und eine 15 Kilo | |
schwere Nervensäge einen Tag lang von Zug zu Zug zu schleppen? Wie lange | |
muss ein Urlaub sein, damit er nicht allein dem Erholen von solch einer | |
Anreise dient? Wer hat überhaupt so viel Zeit? | |
Mittlerweile empfehlen ja auch Institutionen, die zu Vorträgen ins Ausland | |
einladen, ihren Gästen, besser den Zug zu nehmen. So fällt mir erst auf, | |
welche innereuropäischen Strecken gut angebunden sind. Von Berlin nach | |
London etwa kommt man anscheinend schon in zwölf Stunden mit zwei | |
Umstiegen. Kann man durchaus machen (daumendrückend, dass der deutsche Teil | |
der Zugreise auch pünktlich losgeht und nicht irgendwo lahmliegt). | |
Allerdings liegt der Gesamtpreis der Zugverbindung bei mittelfristiger | |
Buchung ziemlich genau beim doppelten Preis des Hin- und Rückflugs mit | |
Ryanair, jeweils in eineinhalb Stunden. Auf Einladung zu einer Konferenz | |
kann man sich den Luxus bestenfalls vom Gastgeber bezahlen lassen. Wer | |
allerdings mit Kind und Kegel eine private Reise plant, müsste ein enormes | |
Budget haben und noch dazu ein sehr großes Herz – fürs Klima, für | |
gelangweilte Kinder und insbesondere für England. | |
## Klassistische Forderung | |
[2][Natürlich ist Flugscham nichts Neues], sie scheint nur von Jahr zu Jahr | |
präsenter zu werden, ohne dass wirklich politische Konsequenzen daraus | |
folgen. Okay, es wäre toll, wenn wir alle ganz individuell unsere | |
CO2-Fußabdrücke minimierten, während Industrie und Handel die Erde fröhlich | |
weiter verpesten. Aber wäre es nicht noch toller, wenn es günstiger käme, | |
klimafreundlich zu verreisen? | |
Wenn Zugreisende mehr Urlaubstage bekämen, weil sie mehr Zeit für die Reise | |
aufbringen müssen, und diese Reisen halb so viel kosten würden wie der | |
Billigflieger, und nicht umgekehrt? Andernfalls bleibt klimafreundliches | |
Reisen allein Distinktionsmerkmal einer aufgeklärten Schicht, der es | |
anscheinend an Ressourcen wie Zeit und Geld sowieso nicht mangelt. Und eben | |
Geduld, wo immer die Deutsche Bahn involviert ist. | |
Die Abschaffung des Billigfliegers ist ja auch so eine klassistische | |
Forderung, die vor allem die Diaspora regelmäßig in Rage bringt. Wer auf | |
dem Landweg fünf Tage bräuchte, um in die Heimat zu reisen und der Oma | |
zweihundert Euro zuzustecken, kann sich die Flugscham schlicht nicht | |
leisten. Wen wundert es da also, wenn viele sich denken: Dann lieber den | |
Schamflug buchen und ein paar Extra-Scheinchen für die Lieben mitbringen. | |
Ist ja auch nicht so, dass Scham allzu oft in der Geschichte für | |
Fortschritt gesorgt hätte. Protest hingegen schon. Wenn also Aktivist_innen | |
von Letzte Generation sich auf Fluglandebahnen kleben, dann dürfte das | |
durchaus mehr Konsequenzen haben als eine brave Mittelschicht, die sich am | |
Bahnsteig auf die Schulter klopft. | |
6 Dec 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Dschinns-von-Fatma-Aydemir-im-Theater/!5866500 | |
[2] /Klimagerechtigkeit-beim-Flugverkehr/!5768259 | |
## AUTOREN | |
Fatma Aydemir | |
## TAGS | |
Flugscham | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Mobilität | |
Kolumne Red Flag | |
Bahnfahren | |
Luftverkehr | |
Schulferien | |
Kolumne Red Flag | |
Kolumne Red Flag | |
Schwerpunkt Rassismus | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Whistleblower zu Boeing: Vorwürfe wegen Sicherheitsmängeln | |
Lockere Schrauben, Haarrisse – der Flugzeughersteller habe technische | |
Probleme teils selbst verschuldet, legt ein Whistleblower nahe. | |
Verfrühter Sommerurlaub: An berufstätige Eltern denkt niemand | |
Jetzt gehen wieder die Debatten um die Fehlzeiten kurz vor Ferienbeginn | |
los. Die wahren Schulverweigerer sind jedoch die Schulen. | |
Weihnachten und Pop-Musik: Carey ist der Weihnachtsmann | |
Mariah Carey ist nicht mehr nur eine Begleiterscheinung von Weihnachten. | |
Sie ist die popkulturelle Personifizierung des Feiertags. | |
Bombenanschlag in Istanbul: Wenn Schwurbler Popcorn essen | |
Die blitzschnelle Aufklärung des Istanbul-Anschlags lässt Fragen offen. | |
Wenn die Realität zum Blockbuster verkommt, braucht es kein Geschwurbel | |
mehr. | |
„Dschinns“ von Fatma Aydemir im Theater: Die Geister der Vergangenheit | |
Die Familie ist ein schönes und wackliges Konstrukt in „Dschinns“. So hei�… | |
in Mannheim ein Theaterabend nach dem Roman von Fatma Aydemir. | |
Klimagerechtigkeit beim Flugverkehr: Die Verschmutzer*innen-Elite | |
Vielfliegen ist besonders klimaschädlich. Eine neue Studie zeigt, dass | |
wenige Reiche für einen Großteil des globalen Flugverkehrs verantwortlich | |
sind. |