# taz.de -- Film „Sleep With Your Eyes Open“: Dauerhafte Durchreise | |
> Der Film „Sleep With Your Eyes Open“ erzählt von jungen Chinesinnen, die | |
> in Brasilien arbeiten. Ihr Leben führen sie in einer luxuriösen | |
> Parallelwelt. | |
Bild: Im schwülen Recife gibt's Momente, in denen dösen alles ist, was sich t… | |
Die Urlaubspostkarten vom brasilianischen Küstenort Recife sind „Made in | |
China“. Als sie das bemerkt, löst das Heimatgefühle in Xiaoxin aus, die in | |
Brasilien im Importhandel ihrer reichen Tante arbeitet. An China selber | |
kann sich die ewig Durchreisende dabei nur noch verschwommen erinnern, und | |
einigen anderen der kleinen Gruppe chinesischer Arbeitsmigranten, mit denen | |
sie in einem luxuriösen Wohnhochhaus lebt, geht es ganz ähnlich. | |
Wirklich da und angekommen ist jedenfalls niemand in dem Film „Sleep With | |
Your Eyes Open“ der aus Hannover stammenden Filmemacherin Nele Wohlatz. | |
Stattdessen scheinen alle wie Schlafwandler durch die fremde Stadt zu | |
laufen, deren Sprache sie nicht sprechen und für deren Bewohner*innen | |
sie alle gleich aussehen. „Warum erkennen sie sofort, dass ich eine Fremde | |
bin?“ fragt Kai aus Taiwan, die ebenfalls in Recife gestrandet ist: „Liegt | |
es an meinen Schuhen?“ | |
Obwohl kein deutsches Wort in ihm gesprochen und kaum etwas an ihm an | |
deutsches Kino denken lässt, ist „Dormir de olhos abertos“, so der | |
portugiesische (!) Originaltitel auch ein autobiografischer Film. Denn in | |
ihm beschreibt Nele Wohlatz ein Lebensgefühl, das ihr selber nicht fremd | |
ist: 1982 in [1][Hannover] geboren, studierte sie Kunst, Literatur und | |
Philosophie in Braunschweig, Karlsruhe und Buenos Aires. Danach lebte und | |
arbeitete sie zehn Jahre lang in Argentinien und drehte dort „El futuro | |
perfecto“, in dem sie vom Leben einer jungen Chinesin in [2][Buenos Aires] | |
erzählt. Dafür gewann sie 2016 in Locarno den Goldenen Leoparden für den | |
besten Debütfilm. | |
Wie schon damals, so erfasst Wohlatz in „Sleep With Your Eyes Open“ eher | |
einen Zustand als dass sie durchgängig eine Geschichte erzählen würde. Sie | |
flaniert mit ihrer Kamera durch die Milieus, in denen ihre Filme | |
angesiedelt sind. Sie lässt die Menschen erzählen und eher nebenbei | |
geschehen dann Absurditäten – wie etwa ein Regen von Geldscheinen, der | |
über Recife niedergeht. Wohlatz vermischt so Spiel- und Dokumentarfilm. | |
Die meisten ihrer Darsteller*innen sind Laien. | |
Und ihre Protagonist*innen sind nicht umsonst junge Frauen: Kai ist aus | |
Taiwan angereist, um in [3][Brasilien] Urlaub mit ihrem Freund zumachen, | |
doch der macht dann per Handy auf dem Flughafen von Recife Schluss mit ihr. | |
Eine Zeit lang folgen wir ihr bei ihren ziellosen Spaziergängen, auf denen | |
sie einen Laden für Regenschirme entdeckt. Den betreibt ein Chinese. | |
Regenschirme in Brasilien? Die erhoffte Regenzeit kommt nie und so bekommt | |
Kai aus der Konkursmasse des Ladens einen Karton mit Hunderten von | |
Postkarten, auf denen Xiaoxin in kleinen Texten ihr Leben beschrieben hat. | |
Xiaoxin ist längst weitergezogen: Die beiden Frauen begegnen sich also nie. | |
Doch durch die Notizen entsteht eine Verbindung zwischen ihnen. Diese | |
Verbindung aus zweiter Hand bringt die Situation und das Lebensgefühl | |
dieser Chines*innen in Brasilien auf den Punkt. Beide leben in Enklaven | |
und haben kaum Kontakt zum Land und den Brasilianer*innen. Die | |
Kommunikation ist seltsam unbefriedigend: Das Wichtigste kommt nie zur | |
Sprache, und es gibt viele Missverständnisse, da alle ständig zwischen | |
Sprachen wechseln müssen, die sie selber oft nur teilweise verstehen: | |
Xiaoxin spricht Spanisch statt Portugiesisch, weil sie davor in Argentinien | |
gelebt hat. | |
„Seid ihr nicht Arbeitssklaven“ fragt Xiaoxin etwa die anderen, weil diese | |
ohne Papiere und soziale Absicherung für ihre Tante arbeiten. Aber | |
Arbeitssklaven, die in einer Luxuswohnung leben und auch mal in eine andere | |
Stadt ziehen können, um dort auf eigene Rechnung ebenfalls mit einem Laden | |
für chinesische Importartikel pleite zu gehen? | |
Nele Wohlatz hat kein [4][Sozialdrama] inszeniert. Ihre | |
Protagonist*innen gehen eher entspannt durchs Leben. Der Film lebt | |
dabei vom genauen Blick auf Situationen, in denen Brasilianer*innen | |
und Chines*innen zusammentreffen – etwa den grotesken Kung-Fu-Tanz | |
zwischen einem betrunkenen Brasilianer und einem Chinesen, die beide nur | |
nachspielen können, was sie aus dem Kino kennen. Solche Szenen machen aus | |
„Sleep With Your Eyes Open“ einen sehr wachen Film. In dem fühlt man sich | |
schnell heimisch. Dabei erzählt er von nichts anderem, als dem Leben in der | |
Fremde. | |
12 Jun 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Hannover/!t5008211 | |
[2] /Buenos-Aires/!t5053281 | |
[3] /Brasilien/!t5010174 | |
[4] /Sozialdrama/!t5660906 | |
## AUTOREN | |
Wilfried Hippen | |
## TAGS | |
Film | |
Dokumentarfilm | |
China | |
Brasilien | |
Arbeitsmigration | |
Social-Auswahl | |
Marokko | |
Leiharbeit | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Fachkräftesuche in Marokko: Ein bisschen Willkommenskultur | |
Die Bundesregierung sucht weltweit Fachkräfte. In Marokko bemüht sich | |
Entwicklungsministerin Svenja Schulze, Deutschland als weltoffen | |
darzustellen. | |
Ausbeutung in der Champagnerproduktion: Blut, Schweiß und Schampus | |
Tausende Arbeitsmigrant*innen kommen als Saisonarbeiter für die | |
Champagner-Produktion nach Frankreich. Eine Recherche von moderner | |
Sklaverei und Rekordumsätzen. | |
Roman über globalisierte Arbeitswelt: Es sind alles nur Körper | |
Tash Aw verbindet Fiktion mit realen Orten und dem Thema Arbeitsmigration. | |
„Wir, die Überlebenden“ ist True-Crime-Story und Sozialkritik zugleich. |