# taz.de -- Chinesischer Film „Caught by the Tides“: In das Leben hineinsto… | |
> Mit „Caught by the Tides“ folgt der Regisseur Jia Zhang-ke einem Paar, | |
> dessen Schicksal für die Transformation der chinesischen Gesellschaft | |
> steht. | |
Bild: Qiao (Zhao Tao) lässt den Blick schweifen über die Straßen von Datong … | |
In sich gekehrt lächelnd und mit erhobenen Händen eine Strickjacke | |
zuhaltend geht Qiao (Zhao Tao) eine Straße in einem Außenbezirk der | |
Bergbaustadt Datong herunter. Einige der Häuser am Rand der Straße sind nur | |
halbfertig, andere schon wieder am Verfallen. Eine Gruppe junger Männer | |
beginnt, die Frau mit Motorrädern zu umkreisen. Anfangs stört das Qiaos | |
Vergnügen nicht, doch mit wachsender Aufdringlichkeit der Männer werden | |
ihre Gesichtszüge ernster, sie weicht entschlossener aus, bis sie | |
schließlich einen Backstein von einer der Baustellen am Wegrand aufhebt und | |
in Richtung der Nervbolzen wirft. | |
Dann geht Qiao zügig, aber erhaben weiter. Auch in „Caught by the Tides“ | |
(auf Deutsch: Von den Gezeiten ergriffen) bringt der chinesische Regisseur | |
Jia Zhang-ke wieder aus seinem früheren Schaffen vertraute Elemente | |
zusammen: Die Bergbaustadt ist seit einem Vierteljahrhundert ein | |
wiederkehrender Ort in Jias Filmen, und die Schauspielerin Zhao Tao, die | |
Jias Filme beinahe ebenso lang prägt. [1][„Caught by the Tides“ feierte | |
letztes Jahr im Rahmen der Filmfestspiele von Cannes seine Premiere], nun | |
kommt er auch in Deutschland in die Kinos. | |
In einem gemeinsamen Interview erklärte Jia 2010, was ihn an Zhao als | |
Schauspielerin so fasziniert: „Sie hat eine besondere Fähigkeit: Sie kann | |
sich sehr schnell an einem Ort einfügen.“ In „Caught by the Tides“ gleit… | |
Zhao als Qiao wortlos durch die sich wandelnde Umgebung. Qiaos Partner Bin | |
(Li Zhubin) beschließt bald, sein Glück im Immobilienboom der frühen 2000er | |
Jahre im Südwesten Chinas zu versuchen. Er verlässt Datong und lässt Qiao | |
zurück mit dem Versprechen, sie nachzuholen, wenn er sich etabliert hat. | |
Als er sich nicht mehr meldet, reist Qiao ihm schließlich hinterher und | |
beginnt, in der Großstadt nach ihm zu suchen. | |
## Großes Panorama | |
„Caught by the Tides“ verwebt elegant Material aus verschiedenen | |
Zeitebenen. Zugleich zieht Jia unübersehbare Verbindungslinien zu seinen | |
früheren Filmen. So taucht die Figur Qiao erstmals in „Unknown Pleasures“ | |
von 2002 auf, in dem drei junge Leute dabei gezeigt werden, wie sie durch | |
Datong driften. Am offensichtlichsten sind die Bezüge zu Jias letztem | |
[2][Spielfilm „Asche ist reines Weiß“ von 2018]. Beide Filme breiten ein | |
großes Panorama der Veränderungen aus, die Datong, aber auch die Regionen, | |
die vom Dreischluchtendamm betroffen sind, in dem Vierteljahrhundert seit | |
Beginn der 2000er Jahre durchlaufen haben. Durch seine Protagonistin, die | |
Ähnlichkeit ihrer Partner in den beiden Filmen und die Schauplätze wirkt | |
„Caught by the Tides“ wie der zweite Teil eines Diptychons, in dem „Asche | |
ist reines Weiß“ sich auf die männliche Figur konzentriert und Jias neuer | |
Film auf eine weibliche Perspektive. | |
Wie „Asche ist reines Weiß“ beleuchtet „Caught by the Tides“ über die… | |
als 20 Jahre dauernde Geschichte der Beziehung zwischen Qiao und Bin – und | |
eine Zeitspanne, die zu den prägendsten der Volksrepublik China gehörte. | |
Jia macht dabei die Veränderungen und Verwüstungen sichtbar – individuell | |
wie gesellschaftlich. Qiao und Bin stehen nach dem Ende des Bergbaus in | |
Datong beide vor einem Neuanfang und gehen dabei sehr unterschiedliche | |
Wege. Während Bin für kurze Zeit am großen Boom teilzuhaben glaubt, wird er | |
schon bald zum Bauernopfer einer Unternehmerin und geht für deren Geschäfte | |
ins Gefängnis. | |
Qiao hingegen steht nach der erfolglosen Suche nach Bin ein weiteres Mal | |
vor einem Neuanfang, diesmal ohne männlichen Ballast. In einem Interview | |
mit Jia, das im Pressematerial zum Film wiedergegeben wird, schlägt er als | |
Übersetzung des Originaltitels „Feng Liu Yi Dai“ vor: „Eine treibende | |
Generation“. Wie viele seiner Filme ist „Caught by the Tides“ individuelle | |
Geschichte und prototypisches Generationenporträt zugleich. | |
2001 reiste Jia Zhang-ke erstmals nach Datong, im Norden seiner | |
Heimatprovinz Shanxi. Der erste Film, der daraus entstand, war der kurze | |
Dokumentarfilm „In Public“ (2001), der den Alltag in der ehemaligen | |
Bergbaustadt kurz nach Schließung der Kohleminen zeigte. | |
Vor allem zu Beginn von „Caught by the Tides“ greift Jia immer wieder | |
Material auf, das auf dieser und weiteren Reisen nach Datong entstand. So | |
in einer Szene mit einer Gruppe Frauen in einer Art Wartesaal, die | |
klassische und damals populäre Lieder ansingen, soweit ihre Textkenntnisse | |
reichen, oder in einer Sequenz, die einen Mann zeigt, der dem örtlichen | |
Kulturhaus neues Leben einhauchen will. Jia verschränkt dieses Material | |
elegant mit neu gedrehtem, etwa wenn Qiao auf einer der Straßen von Datong | |
steht und den Blick von rechts nach links schweifen lässt. Ihr gegenüber | |
steht eine Gruppe von Menschen, gefilmt Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zuvor. | |
Jia Zhang-ke ist einer der zentralen Regisseure, die dem Kino der | |
Volksrepublik in den 1990er Jahren den Realismus zurückgegeben haben. Mit | |
nüchternem Blick haben Jia und die anderen Regisseure der sogenannten | |
Sechsten Generation in ihren Filmen die Transformation der chinesischen | |
Gesellschaft und deren Auswirkungen vor allem in den Städten in den Blick | |
genommen. Jias Filme sind stärker als die von Regisseuren wie Lou Ye, Zhang | |
Yuan oder Wang Xiaoshuai durch den Wechsel zwischen den Formen geprägt, | |
zwischen Kurz- und Langfilm, zwischen Spiel- und Dokumentarfilm. Wie die | |
seiner Kollegen umspannen viele von Jias Filmen in ihrer Handlung einen | |
langen Zeitraum. | |
Vor allem im letzten Jahrzehnt ist Jia zudem zu einem ebenso wichtigen wie | |
eigensinnigen Akteur der Kulturszene Chinas geworden. 2017 fand erstmals | |
das von ihm gegründete Pingyao Film Festival statt, seit 2019 organisiert | |
Jia in seiner Heimatstadt ein Literaturfestival, zu sehen in seinem | |
Dokumentarfilm „Swimming Out Till the Sea Turns Blue“, der 2020 auf der | |
Berlinale Premiere feierte. | |
Zhao Taos Karriere begann mit einer Ausbildung als Tänzerin, die sie auf | |
dem Umweg über Auftritte als Tänzerin in dem Themenpark „Fenster zur Welt“ | |
im südchinesischen Shenzhen als Tanzlehrerin an die Universität von Taiyuan | |
in Shanxi führte. Bei einer ihrer Unterrichtsstunden wurde Jia auf sie | |
aufmerksam und besetzte sie 2000 in „Platform“, seinem ersten Film, der im | |
Wettbewerb eines internationalen Festivals lief. Seither spielte sie in | |
vielen von Jias Filmen die Hauptrolle. 2012 heirateten die beiden. | |
Anders als der Vorgängerfilm „Asche ist reines Weiß“ entspannt „Caught … | |
the Tides“ kein episches Panorama der Transformation Chinas, sondern zeigt | |
zwei Leben, die von Entscheidungen und den Umständen geprägt vor dem | |
Hintergrund dieser Transformation zusammen- und wieder auseinanderdriften. | |
Qiao und Bin sind zwei Vertreter_innen der „treibenden Generation“, die | |
sich inmitten der Auswirkungen der Politik und den Läufen des Lebens zu | |
behaupten versucht. | |
Am Ende des Films tut man gut daran, sich zu erinnern, dass der Film mit | |
einem Song der Pekinger Punk-Band Brain Failure begonnen hat. Die Textzeile | |
aus „Underground“ lautet übersetzt: „Nicht einmal ein Lauffeuer kann all… | |
Unkraut verbrennen, es wird in einer Frühlingsbrise nachwachsen.“ Brain | |
Failure, gegründet 1997, treten weiterhin auf. Auch die Selbstbehauptung | |
angesichts der Unbill, die Qiao in Jias neuem Film verkörpert, ist durchaus | |
prägend für jene Generation, die in ein Erwachsenenleben in der | |
Volksrepublik der 1990er Jahre hineingestolpert ist. „Caught by the Tides“ | |
findet eine Filmsprache für diese Poesie des eigensinnigen Lebens und durch | |
diese zu einer seltenen Schönheit. | |
14 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Fabian Tietke | |
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