# taz.de -- Neuer Roman von Colson Whitehead: Aufstiegsträume und ihr Preis | |
> Colson Whitehead erzählt in seinem neuen Roman vom Harlem der frühen | |
> sechziger Jahre. Nur im Hintergrund: Rassismus und Bürgerrechtsbewegung. | |
Bild: Zerstörte Ladenfronten in Harlem nach der Ermordung des Schwarzen Teenag… | |
Zum ersten Mal hört Raymond Carney von der Dorvay, die sich vom | |
französischen dormir, schlafen, und veiller, wach sein, ableitet, in einem | |
Finanzbuchhaltungskurs. Dort erzählt der Professor, ein Einwanderer aus | |
Osteuropa, wie sein Vater sich täglich zur immer gleichen Zeit über die | |
Bücher gebeugt habe – und zwar um Mitternacht. | |
Bis zur Erfindung der Glühbirne nämlich habe die Menschheit grundsätzlich | |
in zwei Schichten geschlafen und die nächtliche Wachzeit genutzt, um zu | |
„lesen, beten, lieben, dringende Arbeiten (zu) erledigen oder überfällige | |
Muße (zu) genießen“. Der New Yorker Möbelhändler erkennt in der Dorvay den | |
„Ganovenhimmel, wenn die ehrliche Welt schlief und die korrupte sich an die | |
Arbeit machte“. Zeit, seine eigenen nicht ganz legalen Rachepläne zu | |
schmieden. | |
Colson Whiteheads neunter Roman „Harlem Shuffle“ spielt zwischen 1958 und | |
1964 – dem Jahr, in dem nach der Ermordung des Schwarzen Teenagers James | |
Powell durch einen weißen Polizisten die Straßenschlachten in Uptown | |
Manhattan zur nationalen Protestwelle anschwollen. | |
Doch nach Whiteheads bisher größtem Erfolg von 2017, als er mit dem | |
inzwischen auch grandios verfilmten [1][Sklavenroman „Underground | |
Railroad“] sowohl den [2][National Book Award als auch den Pulitzer Price] | |
gewann, bilden Segregation, Rassismus und die Bürgerrechtsbewegung hier | |
eher die Hintergrundmusik für die nach einem auf Triolen basierenden | |
Jazz-Rhythmus benannte Stadtteil-Hommage. | |
Deren Protagonist Raymond Carney lebt selbst mit je einem Bein in | |
verschiedenen Welten. In der einen ist er als rechtschaffener Familienvater | |
mit Elizabeth verheiratet, Tochter aus gutem Schwarzen Anwaltshaus, deren | |
Eltern den Schwiegersohn mit kaum verhohlener Verachtung beäugen. In der | |
anderen ist er der in ärmlichen, unsicheren Verhältnissen aufgewachsene | |
Sohn seines berühmt-berüchtigten Vaters Big Mike, in dessen Fußstapfen der | |
seriös ausgebildete Carney auf keinen Fall treten will – und doch immer | |
wieder tritt. | |
## Verschliffener Rhythmus | |
Schuld daran ist vor allem Cousin Freddie, der sich gleich im ersten | |
Romandrittel am Überfall auf das Theresa Hotel beteiligt – und seinen | |
Cousin ungefragt als Hehler ins Spiel bringt. Trotz minutiös aus | |
Ganovenperspektive geschildertem Überfall gewährt dieses erste Kapitel | |
keinen leichten Start in die Erzählung: Es braucht Zeit, in meinem Fall | |
sogar das halbe Buch, um in Whiteheads dichtem Storytelling Fuß zu fassen. | |
Zwar erzählt er meist aus Carneys Perspektive, jedoch nicht simpel linear; | |
es gibt Rückblenden, Reflexionen und Anekdoten, häufiger aber noch | |
kleinteilige Schnittwechsel vor und hinter einem Ereignis – | |
Rhythmusverschleifungen, könnte man sagen. | |
Hinzu kommt, dass Carney als Möbelhändler mit einem wachsenden Business in | |
Harlems zentraler 125th Street stets auch ein Auge auf Sitzecken, Sofas und | |
Einbauküchen, auf Stoffe, Trends und Marken seiner Zeit wirft, die er mit | |
echter Berufshingabe noch in der bizarrsten Location zärtlich taxiert – und | |
damit nicht selten die Spannungskurve überdehnt. | |
## Kriminalität als Beruf | |
Whitehead beleuchtet das Panorama von oben, von unten und in der ganzen | |
Breite der Farbpalette, wozu er in unregelmäßigen Abständen auch zu | |
Nebenfiguren wechselt. Etwa zu Pepper, der schon als Kumpan von Carneys | |
Vater mit jenem zusammenarbeitete und dessen furztrockene Repliken zu den | |
komischen Highlights zählen: „Wie war Raymond denn so?“, fragt ihn einmal | |
Elizabeth. „Als er klein war?“ „So ziemlich wie heute. Bloß kleiner.“ … | |
Pepper verkörpert vielleicht am besten, was der Roman ebenfalls erzählt: | |
Auch Krimineller ist ein Beruf. | |
Die kleinen Hehlerdienste, der Kontakt zu jüdischen Juwelieren in Midtown, | |
der korrupte Streifenpolizist, der allmonatlich im Revier seine Umschläge | |
einsammelt – sie sind der Preis dafür, dass Carney sich nach und nach seine | |
Träume erfüllen kann: Umzug in eine bessere Gegend von Harlem, eine größere | |
Wohnung. Amerikanische Familienfotos mit der eigenen Polaroidkamera. Ein | |
stabiler Tresor im Geschäft. | |
Doch wirklich Fahrt nimmt die Geschichte erst durch die Kränkung auf, die | |
Carney im Dumas Club erfährt, wo der Schwarze Bankier Wilfried Duke zwar | |
sein Geld einsammelt, ihn aber dennoch nicht ins erlauchte Netzwerk | |
aufnehmen will. Das komplexe Rachekomplott, das Carney während der Dorvay | |
einfädelt und mithilfe einer Prostituierten ins theatrale Werk setzt, | |
bleibt auch tatsächlich nicht ohne durchschlagende Wirkung. | |
## Die Oberschicht kommt ins Spiel | |
Während Carney die Kategorien von anständig und böse, kriminell und ehrlich | |
jederzeit auseinanderhalten kann, während er virtuos zwischen ihnen hin und | |
her tänzelt, wird im dritten Teil diese Trennschärfe ernstlich bedroht – | |
und zwar von der weißen New Yorker Oberschicht, die nun ins Spiel kommt. | |
Wieder ist es Cousin Freddie, der Carney in Schwierigkeiten bringt, aber | |
diesmal ist die Sache mehr als heiß: „Jetzt hatten Freddie und Linus Ärger | |
von ganz anderer Größenordnung entfesselt, hatten reichen Leuten ans Bein | |
gepisst, die genauso kriminell waren wie Gangster, sich aber nicht | |
verstecken mussten. Sie taten es in aller Offenheit, ließen ihre Untaten | |
notariell beglaubigen oder in Messingplatten für Gebäudefassaden | |
eingravieren.“ | |
Doch unter Leuten wie Carney und Freddie sind das eher sachliche | |
Feststellungen als hochtrabende Einsichten und keine Jammertiraden wert. | |
Überhaupt ist Whitehead groß darin, Pathos geschickt zu unterlaufen. Sein | |
Buch endet an der Baustelle des World Trade Centers, von dem Carney | |
unmöglich ahnen kann, dass es einmal zum Schicksalsplatz der USA werden | |
wird. | |
1 Sep 2021 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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