# taz.de -- Grafic Novel „Sibylla“: Die Überbegabte | |
> Unerschrocken visionär erzählt Max Baitinger von den Gedichten des | |
> Greifswalder Mädchens Sibylla Schwarz. Die ist 1638 gestorben – mit 17 | |
> Jahren. | |
Bild: Eine Frau Aug in Aug mit dem Tod: Max Baitinger zeigt Sibylla Schwarz in … | |
Da ist mal eine kühne Setzung: Auf der ersten Seite seiner Graphic-Novel | |
„Sibylla“ zieht Max Baitinger einen Strich. Er lässt diese gebogene | |
fettstiftschwarze Linie von außerhalb ins säuberlich gerahmte Bildkästchen | |
stürzen, das eine angedeutete Küstenlandschaft zeigt. Vom oberen Seitenrand | |
her kommend, vom Jenseits des Buchs her, aus dem Nichts fährt sie wie ein | |
dunkler Blitz quer durch den mintfarbenen Himmel ins zart aquarellierte | |
Meerwasser. | |
Und wie eine Spiegelung auf kräuselnden Wellen greift Baitinger sie da dann | |
fragmentierender und gebogener wieder auf: „Einen Strich in die Landschaft | |
und behaupten …“, kommentiert der Text dieses erste Panel das eigene | |
Vorgehen, „… das hier sei jetzt Sibylla Schwarz“. | |
Sibylla Schwarz kennen zwar die wenigsten. Aber das ist eine Wissenslücke, | |
die jeder beklagt, der sie geschlossen hat. [1][Denn ihre Lyrik ist – | |
Hammer]. Schwarz ist vielleicht die bedeutendste Dichterin | |
Norddeutschlands. Gelebt hat sie im Zeitalter des Barock, genauer: Während | |
des Dreißigjährigen Kriegs. | |
Am Dienstag 5. April stellt Baitinger das Buch im Hamburger B-Movie vor, | |
die Woche drauf bei Feinkost Lampe in Hannover. Und vielleicht lässt sich | |
dabei klären, ob nicht der Niedersachse Wilhelm Busch mit seiner „Anleitung | |
zu historischen Porträts“ Pate bei dem spektakulären Anfang gestanden hat. | |
Mit der hatte der Urahn des Bildergeschichten-Erzählens einst humoristisch | |
gezeigt, wie sich der Alte Fritz, also der Preußenkönig Friedrich II., aus | |
Zickzacklinien und eine Napoleon-Karikatur aus U-s, geraden Strichen und | |
Kreissegmenten [2][zusammensetzen lässt.] | |
Diese zeichnerische Reflexion des Zeichnens ist sehr komisch. Und Baitinger | |
nutzt ihren Witz auch weidlich aus, geht aber darüber hinaus. So vermag er | |
eine tiefe Skepsis gegenüber dem eigenen Vorhaben zu artikulieren. | |
Die begründet ist: Legion sind ja die üblen, meist in | |
Regionalmarketingabsicht erstellten Comic-Biografien, die einen | |
abgestandenen Geniekult in neue Sprechblasen füllen. Zumal das Beethoven- | |
und das Lutherjahr massenhaft solche Mistbildungen in die Regale gespült | |
hatten. In ihrem Gemeinschaftsprojekt „funk.net“ fördern ARD und ZDF den | |
unseligen Trend [3][zum schematischen Illustrieren von | |
Lebensgeschichtsfloskeln jenseits aller Individualität und bar jeden | |
Nachdenkens]. | |
Baitinger hingegen versteht sich als Künstler. Das verdeutlichen seine | |
bisherigen Comics. Insofern ist es glaubwürdig, wenn er im Comic „Sibylla“ | |
eingangs behauptet, wenig beglückt reagiert zu haben, als der dem Andenken | |
dieser Lyrikerin gewidmete Greifswalder Verein an ihn herangetreten war mit | |
dem Wunsch nach einer Sibylla-Schwarz-Graphic-Novel. Zum 400. Geburtstag, | |
2021. | |
„Wenig Hoffnung“ habe er den Schwarz-Enthusiasten gemacht, so Baitinger | |
[4][in einem Interview]. Zumal er ja auch mit Barocklyrik nichts | |
anzufangen wisse. Um dann eben doch Feuer zu fangen, gerade weil sich das | |
Leben dieses überbegabten Mädchens – Schwarz ist 1638 gestorben, mit gerade | |
mal 17 Jahren – gar nicht erzählen lässt: Man weiß fast nichts gesichert | |
über sie. | |
Dokumentiert ist, dass sie, extrem frühreif wie Jahrhunderte später | |
vielleicht Arthur Rimbaud oder Sabine Sicaud, fast 100 Gedichte geschrieben | |
hat, die zwölf Jahre nach ihrem Tod [5][in einer zweibändigen Ausgabe im | |
Druck erschienen sind]. | |
Man weiß, dass sie die jüngste Tochter einer Greifswalder Patrizierfamilie | |
war, und dass ihre Mutter an der Pest starb, als sie neun war. Frieden muss | |
ihr als süße Fiktion erschienen sein: Ihre Heimatstadt war immer wieder | |
umkämpft, erst von kaiserlichen Truppen erobert, dann von schwedischen | |
Truppen befreit. Sie erlebt Plünderungen, Hunger, Seuchen. | |
Aus Angst vor den Soldaten hat sich der Vater mit ihr aufs Landgut Frätow | |
im Distrikt Karrendorf direkt am Bodden zurückgezogen, gut zehn Kilometer | |
nördlich der Hansestadt. Belastende Einquartierungen gibt es dann auch | |
dort. Irgendwann brennen Gustav Adolfs-Mannen den Weiler nieder. | |
## Spottgedichte über Adels-Dünkel | |
Diese Nöte und Ereignisse finden sich in Schwarz’ Lyrik wieder. Aber ein | |
realistisches Paradigma ist nicht die Sache des Barock: Sie führt ihre | |
Leser*innen in allegorische Landschaften, in denen die Dichterin | |
Götterkollegien „wegen einäscherung ihres Freudenorts Fretow“ beraten | |
lässt. Auch in der Kritik wird Wirklichkeit stets mythologisch überhöht. | |
Wenn Schwarz ein – unerhörtes – Spottlied „An den unadelichen Adel“ | |
adressiert, fasst sie dessen unerträgliche Hochmut [6][im Bild des Ikarus, | |
der seinen Vater Dädalus übertrumpfen will]. Doch während Dädalus mit | |
seinen selbstgebastelten Flügeln in die Freiheit fliegt, stürzt der | |
Jüngling mit den vom Vater fabrizierten ab und „muß auff Erden liegen // | |
Als er wil gen Himmel fliegen“, wie Sibylla Schwarz keck reimt. | |
In biografisches Framework, das er spielerisch aufnimmt, hat Baitinger | |
Entsprechungen für dieses visionäre Verfahren montiert. Wo die Dichterin | |
o!, den bittersüßen Tod als nur angedeutete Personifikation anfleht, sie in | |
seinen Rachen aufzunehmen, lässt der Comic sie auf einer Zunge im | |
luftleeren Raum einem nur lose aus Versatzstücken angedeuteten | |
Monsterschlund gegenübertreten. | |
Die Schrecken des Kriegs, den Wahnsinn seiner religiösen Begründungen fasst | |
Baitinger im Zentrum des Buchs zu einem schwarz-roten Bilderbogen zusammen. | |
[7][Dessen Ästhetik erinnert am ehesten an die präkolumbianischen Fresken | |
Mexikos.] | |
Entstanden ist also ein Kunstwerk ganz für sich. Fensterlos wie eine Monade | |
enthält es die gesamte Welt der Sibylla Schwarz. Um den Comic zu verstehen, | |
wird niemand, der ihn rezipiert, ihr Œuvre lesen müssen. Aber jeder, der es | |
verstanden hat, wird wild darauf sein, endlich mehr von ihrer Lyrik zu | |
kennen. | |
5 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] http://www.sibylla-schwarz.de/ | |
[2] https://de.wikisource.org/wiki/Anleitung_zu_historischen_Portraits | |
[3] https://www.funk.net/channel/der-biograph-12076/bevor-josef-stalin-beruehmt… | |
[4] https://www.reprodukt.com/interview-mit-max-baitinger-sibylla-zum-400-gebur… | |
[5] http://diglib.hab.de/drucke/229-2-quod-5a/start.htm | |
[6] https://www.gottwein.de/Lat/ov/met08la.php#Daedalus | |
[7] https://universes.art/de/art-destinations/mexiko/tour/teotihuacan/13 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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Herfried Münkler | |
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