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# taz.de -- Schwedisch-dänische Grenze: Kalte Heimat
> Seitdem die Öresund-Brücke gesperrt ist, versuchen Flüchtlinge mit Booten
> nach Schweden zu gelangen. Die Meerenge könnte zur tödlichen Falle
> werden.
Bild: Dänische Polizisten riegeln einen Zug zwischen Kopenhagen und Malmö ab.
Flensburg/Kopenhagen/Malmö taz | Die Freiwilligen am Flensburger Bahnhof
sind für den großen Ansturm gerüstet. Die Kleiderkammer ist gefüllt, Hosen,
Pullover und Schuhe liegen in allen Größen sortiert in den Regalen.
Hunderte Packungen Antipasti warten auf Abnehmer. Doch Lena Reimers sitzt
tatenlos an einem kleinen Tresen.
Kein Flüchtling ist an diesem Mittag in Flensburg gestrandet. Der „Angstzug
aus Hamburg“, wie die junge Ehrenamtliche ihn nennt, war an diesem Tag
menschenleer – erstmals seit Monaten. Seit September kamen mit der
Regionalbahn, die täglich um 11.49 Uhr Hamburg verlässt, oft Hunderte
Flüchtlinge an. Von hier traten sie die letzte Etappe ihrer Reise nach
Schweden an.
Doch seit die Regierung in Stockholm vor knapp zwei Wochen Grenzkontrollen
einführte und Dänemark kurz darauf nachzog, kommen immer weniger
Flüchtlinge in die Stadt im Norden Deutschlands kurz vor der dänischen
Grenze. Das Europa der freien Grenzen ist passé, geopfert den nationalen
Abwehrkämpfen gegen die Schutzsuchenden. Das hat sich auch unter den
Flüchtlingen aus Syrien oder Afghanistan herumgesprochen. Was ihnen bleibt,
sind die geheimen, oftmals gefährlichen Wege.
## Kein Pass, keine Durchreise
Mitten hinein in die Stille der Bahnhofhalle klingelt das Telefon der
Helfer. „Hallo Hamburg, hier ist Lena aus Flensburg“, sagt Reimers zur
Begrüßung. „Nein, ohne Pass ist eine Durchreise nicht möglich.“ Was sie …
neuen Freiwilligen am Hamburger Bahnhof, die selbst gerade Flüchtlinge
berät, erklärt: Ohne gültige Ausweispapiere ist eine Reise durch Dänemark
und weiter nach Schweden unmöglich. „80 Prozent der Geflüchteten haben aber
keine Dokumente“, sagt Reimers – „und syrische Papiere, die die dänische
Polizei nicht lesen kann, werden auch nicht akzeptiert“.
Die 16-jährige Reimers ist seit Anfang September im Dauereinsatz. Hunderte
Flensburger strömten damals mit Spenden zum Bahnhof. Lena Reimers schloss
sich einer Gruppe an, die seitdem rund um die Uhr dort präsent ist. Ihr
Motto: „Wir sagen Moin.“ Etwa 80.000-mal haben sie das getan.
Reimers sagt, sie könne die Tage, an denen sie nicht am Bahnhof war, an
einer Hand abzählen, sogar auf eine Woche Ferien habe sie verzichtet.
Stattdessen hieß es täglich nach der Schule: Brote schmieren, Fahrkarten
kaufen, Handys aufladen, Menschen mit einem Lächeln Willkommen heißen. Doch
wie lange sie noch hier gebraucht wird, ist ungewiss.
## Eine Syrerin will zu ihrem Mann nach Schweden
Flensburg ist nicht länger das Tor nach Skandinavien. Am Nachmittag kommt
eine Frau zum Bahnhof, die von der dänischen Polizei aus der Bahn nach
Fredericia, dem Umsteigebahnhof auf dem Weg nach Kopenhagen gefischt und
zurück nach Deutschland geschickt wurde. Sie gehört zu den 195 Menschen,
denen in den ersten acht Kontrolltagen die Einreise verwehrt wurde. 28.000
Menschen wurden in der Zeit kontrolliert.
Nun sitzt sie auf einer der Bierbänke in der Bahnhofshalle. Durch ihre
großen dunklen Augen schaut sie hilflos umher. Den vor ihr stehenden Teller
mit hart gekochten Eiern, einer Banane und Fladenbrot, lässt sie
unangetastet. „Ich wollte nach Schweden, weil mein Mann dort ist“, erzählt
sie der Arabischdolmetscherin Loubna, deren Name und Sprachkompetenz auf
einer roten Weste geschrieben steht.
Ihr Mann sei schon vor einigen Monaten aus Damaskus geflohen, damals habe
das Geld aber nur für ihn gereicht, sagt die Frau. Immer wieder stützt sie
ihre Stirn auf ihre linke Hand, an deren Ringfinger der goldene Ehering
steckt. Wann und wo sie ihren Mann wiedersehen wird, ist ungewiss. Vorerst
wird sie in Deutschland Asyl beantragen müssen.
## Die Polizei kontrolliert jeden Reisenden
Kurz darauf muss sich eine achtköpfige Gruppe Afghanen und Iraner von den
Helfern erklären lassen, dass der Versuch der Reise Richtung Schweden
hoffnungslos ist. Schon nach einem kurzen Snack lassen sie sich von
Bundespolizisten zur Wache bringen, bevor auch für sie in Neumünster über
den vorläufigen Endbahnhof ihrer Flucht entschieden wird.
Eine mit Plastiktüten schwer bepackte Familie aus Kuwait steigt am späten
Nachmittag in einen Zug nach Dänemark. Beim ersten Stopp hinter der Grenze,
in Padborg, verlassen die Eltern mit ihren vier Kindern den Zug – noch
bevor die Polizisten, die sich im Fünf-Meter-Abstand auf dem Bahnsteig
aufgereiht haben, durch die Abteile gehen. Die Familie gehört zu der
kleinen Zahl Geflüchteter, die tatsächlich nach Dänemark wollen. Verwandte
wohnen im Land. Im Zug lassen sich die Polizisten von jedem Fahrgast den
Ausweis zeigen – von Stichproben kann keine Rede sein.
## Dänemark will Flüchtlinge abschrecken
Im vergangenen Jahr haben nur etwa 20.000 Menschen in Dänemark einen Antrag
auf Asyl gestellt, dennoch versucht die rechtsliberale Regierung,
Flüchtlinge mit allen Mitteln abzuschrecken. Am Mittwoch beriet das
Parlament in erster Lesung eine Asylrechtsverschärfung, die eine
Fristverlängerung für den Familiennachzug auf bis zu drei Jahre und das
Beschlagnahmen von Wertgegenständen ab einem Wert von 10.000 Kronen
vorsieht.
„Eine Schande“, sagt Line Søgaard in einem Café im migrantisch geprägten
Stadtteil Nørrebro von Kopenhagen. In der Nähe ragen die zwei bunt
verzierten Minarette der Imam-Ali-Moschee in den Abendhimmel, in den
geschäftigen Straßen finden sich „Halal Slagter“ und Baklava-Läden.
Søgaard ist die Sprecherin vom linken Netzwerk „Welcome to Denmark“.
Nachdem sie sich im September zusammengefunden hatten, stand zunächst die
praktische Unterstützung der Flüchtlinge im Vordergrund, erzählt sie.
Inzwischen seien sie jedoch vor allem mit politischer Kampagnenarbeit
beschäftigt.
## Die Aktivisten der Flüchtlingshilfe haben reichlich zu tun
Nur drei Stunden hat Søgaard in der Nacht zuvor geschlafen; ihre
dunkelbraunen Augen sind müde, doch ihre Standpunkte könnte sie auch im
Schlaf herunterrasseln. „Tag und Nacht arbeite ich für dieses Thema“ sagt
sie, „doch es bleibt das Gefühl, dass das nicht reicht.“
Gesetzesverschärfungen, Grenzkontrollen, Rechtshilfe für Flüchtlinge und
Aktivisten, Unterstützung für Geflüchtete im Land und Hilfe für jene, die
noch weiter nach Schweden wollen – die Liste der Aufgaben ist lang.
„Seit 1975 gab es zwischen Dänemark und Schweden keine Grenzkontrollen
mehr“, sagt die 31-Jährige, die als Kind aus dem Libanon adoptiert wurde.
Die Situation heute bezeichnet sie als „großen Rückschritt“. Während sie
gestikuliert, verrutscht ihr Ärmel und offenbart eine Tätowierung auf ihrem
rechten Arm. In arabischen Lettern steht dort das Wort „Salam“ – Frieden.
## Private Sicherheitsleute fotografieren Pässe
Über die acht Kilometer lange Öresund-Brücke sind der Kopenhagener
Hauptbahnhof und das schwedische Malmö miteinander verbunden. Doch seit
anderthalb Wochen drängeln sich Pendler und Touristen zunächst in den Zügen
zum Flughafenbahnhof Kastrup. Hier heißt es umsteigen.
Am Bahnsteig 1 hat die dänische Staatsbahn DSB einen Checkpoint aus
schwarzem Absperrband errichtet. Überall stehen Mitarbeiter einer privaten
Sicherheitsfirma, ausgestattet mit gelben Warnwesten und Smartphones. Sie
fotografieren jeden Lichtbildausweis – erst danach dürfen die Fahrgäste in
den Öresundståg-Zug steigen.
In Hyllie, dem ersten Halt auf schwedischer Seite, warten Polizisten. Etwa
zwei Dutzend von ihnen überprüfen ein weiteres Mal, dass sich kein
Flüchtling unter den Reisenden befindet. Aus zwanzig Minuten Fahrtzeit im
einst freien Europa ist so fast eine Stunde geworden.
## Die Angst vor einem Unglück auf dem Meer wächst
Angekommen in Malmö erinnert nichts mehr an das Land, das im vergangenen
Jahr europaweit die meisten Flüchtlinge pro Einwohner aufgenommen hat.
Helfer und Polizei sind verschwunden, der Bahnhof bietet ein verschlafenes
Bild – und ist so aufgeräumt und ruhig, wie die sich anschließende
Innenstadt.
Die zunächst nur für zehn Tage angekündigten Grenzkontrollen hat Dänemark
am Donnerstag um zwanzig Tage verlängert. Schweden macht vorerst bis zum 8.
Februar weiter. Flüchtlinge weichen daher aus, viele wollen mit Autos über
die Grenze fahren, sagt Søgaard.
Anfang der Woche versuchten fünf Flüchtlinge sogar zu Fuß die
Öresund-Brücke zu überqueren. Das ist lebensgefährlich. Die dänische
Küstenwache meldete vorher schon ein mal, sie habe ein motorisiertes
Schlauchboot auf dem Öresund abgefangen, darin ein Mann ohne Papiere und
ein Iraker mit norwegischen Dokumenten. Der Öresund wird zum neuen
Mittelmeer, fürchtet Søgaard.
Die Gruppe „Mit den Schmugglern“ hat im September – als die Polizisten
nicht so genau hinschauten – Flüchtlinge über das Meer nach Schweden
gebracht. Die Aktivisten halten Kontakt zu 25 Schiffsbesitzern. „Momentan
ist es zu gefährlich, das Wasser zu kalt, aber die Schiffe werden für das
Frühjahr präpariert“, sagt Søgaard. Ein waghalsiges Unterfangen, auch weil
die Küstenwache ihre Kontrollen verstärkt hat. Die Angst vor einem Unglück
auf dem Meer ist groß. Es wäre das sichtbarste aller Zeichen für eine
menschenfeindliche Politik.
15 Jan 2016
## AUTOREN
Erik Peter
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