| # taz.de -- Vordenkerin Susan Sontag: Ikone der Intensität | |
| > Susan Sontag, Amerikas glamouröseste Intellektuelle, wird drei Jahre nach | |
| > ihrem Tod neu entdeckt: als It-Girl einer Epoche, die noch voll | |
| > Beginnergefühl war. | |
| Bild: Mehr als nur eine Intellektuellendarstellerin: Susan Sontag | |
| Wir sehen, wonach wir suchen, und Größe liegt zunächst im Auge des | |
| Betrachters, was immer er im Betrachteten auch zu erkennen vermag. So sagt | |
| es, wenn eine Zeit einen Autor entdeckt oder wiederentdeckt, stets | |
| mindestens so viel über die Zeit selbst aus wie über den Autor. Was sie in | |
| ihm wahrnimmt, sind ihre Sehnsüchte. Und was sie ersehnt, ist das, woran | |
| sie Mangel zu leiden glaubt. "Die beiden Pole eines ausgeprägt modernen | |
| Bewusstseins sind Nostalgie und Utopie", schreibt Susan Sontag in dem Essay | |
| "Dreißig Jahre später", den sie der spanischen Neuauflage einer ihrer | |
| Schriften aus den frühen Sechzigerjahren voranstellte. "Das vielleicht | |
| interessanteste Merkmal der Zeit, die heute als die Sechzigerjahre | |
| etikettiert wird, war die Tatsache, dass es so wenig Nostalgie gab. In dem | |
| Sinne handelte es sich tatsächlich um einen utopischen Moment." | |
| Womöglich gibt es heute ein Verlangen nach einer Zeit ohne Nostalgie, nach | |
| den Augenblicken, die noch voll waren mit dem, was Bertolt Brecht | |
| "Beginnergefühl" nannte. Man blickt zurück in Zeiten, in denen allgemein | |
| nach vorne geschaut wurde. Nostalgische Sehnsucht nach der Utopie, kurios | |
| genug - aber Nostalgie und Utopie sind schon immer originelle Bündnisse | |
| eingegangen. "Dont look back", heißt P. A. Pennebakers legendärer Film über | |
| Bob Dylans Englandtournee, aber das war damals schon halb eine Beschwörung. | |
| Eine Konstellation, nicht ohne Paradoxie, innerhalb deren die | |
| Wiederentdeckung von Susan Sontag ein Symptom ist. Als sie vor drei Jahren | |
| starb, war Susan Sontag noch hoffnungslos "out", belächelte Repräsentantin | |
| der Kultur der "politisch intervenierenden Schriftsteller". Fad wie Grass. | |
| Keine Protestresolution, die nicht von ihr unterzeichnet war. In den USA | |
| behandelte man sie halb wie eine Närrin, halb wie eine Staatsfeindin, seit | |
| sie wenige Tage nach dem 11. September 2001 den Jargon des "Kriegs gegen | |
| den Terror" zornig attackiert hatte. | |
| Damals hatte sie geschrieben: "Wo findet sich das Eingeständnis, dass dies | |
| kein ,feiger' Angriff auf ,die Zivilisation' oder ,die Freiheit' oder ,die | |
| Menschheit' oder ,die freie Welt' war, sondern ein Angriff auf die selbst | |
| ernannte Supermacht dieser Erde, unternommen infolge ganz bestimmter | |
| Allianzen und Aktionen, auf die Amerika sich eingelassen hat? […] Und was | |
| das Wort ,feige' angeht, so trifft es auf Leute, die vom Himmel herab und | |
| unerreichbar für jegliche Vergeltung töten, wohl eher zu als auf jene, die | |
| bereit sind, zu sterben, um andere zu töten. Zur Frage des Mutes (einer | |
| moralisch neutralen Tugend) nur dies: Was immer man über jene sagen mag, | |
| die das Blutbad vom Dienstag angerichtet haben - Feiglinge waren sie | |
| nicht." | |
| Sontags Intervention, die sie damals zur Persona non grata machte, kann man | |
| in dem Band mit letzten Essays nachlesen, der jüngst im Hanser Verlag | |
| erschien - wenngleich man das skandalöse Potenzial dieser Wortmeldung nach | |
| sieben Jahren des Jingoismus von George W. Bush kaum mehr ermessen kann, | |
| weil die überwältigende Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten | |
| inzwischen die Dinge in etwa so sieht wie Sontag damals. | |
| Aber nicht nur deshalb ist die eben erst Verfemte mittlerweile beinahe so | |
| etwas wie eine Legende. Neben dem jüngsten Band mit literarischen Essays, | |
| politischen Kommentaren und diversen Preisreden ist unlängst eine erste | |
| Susan-Sontag-Biografie erschienen. "Geist und Glamour", so der | |
| programmatische Titel. Demnächst sollen auch Sontags Tagebücher sukzessive | |
| auf den Markt kommen, umfangreiche Auszüge brachte das New York Times | |
| Magazine bereits vorab. | |
| "Warum ist Schreiben so wichtig? Hauptsächlich wegen Egoismus, nehme ich | |
| an. Weil ich diese Person sein will, ein Schriftsteller, und nicht weil da | |
| etwas wäre, was ich sagen muss. Aber warum nicht auch deshalb? Mit etwas | |
| Ich-Modellierung - wie mithilfe dieses Tagebuches - sollte ich auch die | |
| Sicherheit gewinnen, dass ich (ICH) etwas zu sagen habe, das gesagt werden | |
| sollte", schrieb Sontag Ende der Fünfzigerjahre in ihr Tagebuch. Es sind | |
| erstaunliche Notate, die die Literaturtheoretiker und Kulturhistoriker auf | |
| Jahre hinaus mit Material ausstatten werden. Ab 2009 sollen sie auch in | |
| Buchform zu haben sein. | |
| Sontag hatte blutjung den Freudianer Philip Rieff geheiratet, mit ihm den | |
| Sohn David bekommen, ein paar Studienjahre eingelegt (unter anderem bei Leo | |
| Strauss, Jakob Taubes, Herbert Marcuse) und sich dann nach Paris | |
| davongemacht. | |
| Dort hat sie sich voller Lebensappetit in den Kreisen der hauptstädtischen | |
| Intelligenz herumgetrieben und ihre Homosexualität akzeptiert. Sie traf | |
| Sartre auf Partys, begegnete Simone de Beauvoir. Sie sog Ideen auf, aber | |
| auch Mentalitäten und Gesten. Später ging sie nach New York und schrieb | |
| dort für die führenden linken Blätter, voran die legendäre Partisan Review. | |
| Sontag sprengte die engen Rahmen, die hermetischen Zirkel der literarischen | |
| und akademischen Produktion. Sie interessierte sich für Populär- und | |
| Gegenkultur, für französische und japanische Filme, war Tag und Nacht auf | |
| den Beinen und wurde zur kultivierten Stimme eines "Lebensgefühls" zu einer | |
| Zeit, als dieses Wort noch nicht erfunden war. Und sie setzte als eine der | |
| ersten Intellektuellen eine moderne Prominenzstrategie ein - sie wurde ein | |
| "It-Girl" der Theorie. Sie platzierte ihre Texte auch in | |
| Lifestylezeitschriften. Ihr legendärer Essay "Trip to Hanoi" etwa erschien | |
| in Esquire. Ein kalkulierter Tabubruch, der ein raffiniertes | |
| Prominenzfeedback zur Folge hatte: Weil die junge, schöne, schicke Autorin | |
| Sontag in diesen Zeitungen veröffentlichte, steigerte das wiederum ihre | |
| Prominenz - das versicherte erst ihren Chic. | |
| Nebenbei wuchs ihre Bekanntheit über die Kreise hinaus, die sich ansonsten | |
| für Kulturkritik interessieren. Sie war eine Intellektuellendarstellerin, | |
| aber nicht nur; sie repräsentierte ein Zeitgefühl, aber immer auch mehr als | |
| das; in ihren Essays gab sie dem Augenblick die Stichwörter, aber die | |
| hatten eine Wahrheit über den Moment hinaus; sie war ein Postergirl des | |
| Radical Chic, das aber mit unironischer Ernsthaftigkeit. Über Albert Camus | |
| schrieb sie, er sei ein Autor, "der ein überaus interessantes Leben führte, | |
| ein Leben, das … nicht nur als Innenleben, sondern auch äußerlich | |
| interessant war". Wie immer schrieb die Kritikerin da auch ein wenig über | |
| sich. | |
| Dabei war sie sowohl Kind ihrer Zeit als auch ein Fall für sich. Sie pries | |
| die neuen Formen, hielt sich aber an die alten. Ihre Essays waren | |
| konventionell im besten Sinne - stilsicher war sie schon in ihren | |
| Zwanzigern, gelehrt, klug, hatte sie schnell ihren eigenen Sound. Sie sah, | |
| las und schrieb. Über Avantgardefilme, die neuesten Tendenzen der bildenden | |
| Kunst, Lebenskulturphänomene. Ihr Aufsatz über die "Camp"-Kultur - die | |
| augenzwinkernde Freude am Trash, wie man sie zuerst in der Schwulenszene | |
| kultivierte - machte sie zu einer Celebrity. Sontag drückte aus, was in der | |
| Luft lag, aber doch war sie es, die es ausdrückte - schließlich, wer ein | |
| Kind seiner Zeit ist, ist doch auch ein Akteur dieser Zeit. | |
| Oder ihr Essay "Against Interpretation". Darin beschwört sie das Eigenleben | |
| der Kunst und verdammt die intellektuelle Suche nach "Bedeutungen". Die | |
| Interpretation sei die "Rache des Intellekts an der Kunst", denn wer das | |
| Kunstwerk auf seinen "Inhalt" reduziert, der zähmt es. Es ist ein Hohelied | |
| auf die "sinnliche Erfahrung". Es war, in gewissem Sinn, ein Angriff der | |
| Kritikerin auf ihr ureigenes Geschäft, der antiintellektuelle Wutausbruch | |
| einer Intellektuellen. | |
| Es ist ein alteingesessenes intellektuellenfeindliches Vorurteil, dass das | |
| Denken lustfeindlich wäre. Wie falsch das ist, zeigen viele | |
| Intellektuellenleben. "Sinnliche Erfahrung", "sensorische Fähigkeiten", | |
| "Abstumpfung", "Erotik der Kunst" - es sind solche Formulierungen des | |
| reichen Erlebens, die Sontags "Interpretations"-Essay durchziehen. | |
| Antagonistisch zum kritischen Räsonieren muss eine solche Sensitivität | |
| nicht sein. "Intellektuelles ,Begehren' wie sexuelles Begehren", notierte | |
| sie in ihr Tagebuch. Und: "Intellektuelle Ekstase". Auch die Dichte des | |
| Denkens ist eine Intensität des Erlebens. Kaum ein Begriff steht so zentral | |
| in Sontags Essayistik wie der Begriff der "Intensität". Große | |
| Schriftsteller, schreibt sie, "sind entweder Ehemänner oder Liebhaber. | |
| Bekanntermaßen sind Frauen bereit, beim Liebhaber um des intensiven Gefühls | |
| willen, das er in ihnen erweckt, Eigenschaften - wie launisches Gebaren, | |
| Selbstsucht, Unzuverlässigkeit und Brutalität - zu tolerieren, die sie beim | |
| Ehemann niemals dulden würden." | |
| Über die Spannung zwischen Lyrik und Prosa schrieb sie, die Romantik | |
| verteidigte die Lyrik, indem sie die Prosa verächtlich machte, indem sie | |
| "prosaisch" zu einem herabsetzenden Begriff machte, "in der Bedeutung von | |
| langweilig, abgedroschen, alltäglich, zahm", während die Poesie "als ein | |
| Ideal von Intensität" gefeiert würde. Die Prosa galt da schnell als etwas | |
| für lahme Gemüter. | |
| Immer wieder fällt bei ihr dieses Stichwort: Intensität. Tempo, der Reiz, | |
| den eine "Tendenz zum Ungesunden" verströmt, das Ideal persönlicher Kraft. | |
| Oder auch, wie noch in den spätesten Essays: Risiko. | |
| Wenn Susan Sontag von etwas getrieben war, dann von der Gier nach Leben, | |
| der Sucht nach Intensität. Sie hat das durchgezogen, bis sie mit | |
| einundsiebzig Jahren starb. In Daniel Schreibers fesselnder Biografie kann | |
| man das nachlesen. Radikal war sie noch im Kampf gegen den Tod, den sie als | |
| 42-Jährige erstmals gewann, als sie sich mit den härtesten Therapien gegen | |
| den Brustkrebs verteidigte, und später noch einmal, als sie eine seltene | |
| Form von Unterleibskrebs bezwang (erst die Leukämie, Folge der | |
| Chemotherapien, brachte sie mit 71 Jahren um). Selbst in Phasen der | |
| Rekonvaleszenz warf sie sich ins Leben: Kein Tag ohne Kino, kein Abend ohne | |
| Ausstellungsbesuch, immer unterwegs zwischen New York, Paris, Berlin, | |
| Sarajevo. Und alles, noch der Krebs, wurde Material: "Krankheit als | |
| Metapher" wurde einer ihrer berühmtesten Essays. | |
| Es gibt zwei romantische Ideen -wenn man so will: Klischees - vom | |
| Schriftsteller: die vom solitären Genie und die vom dem, der sich der Welt | |
| aussetzt, das Leben in seiner dichtesten Form als Rohstoff nimmt. Der eine | |
| schreibt seine Verse, wo immer er einsam genug dafür ist, ihm brennt sich | |
| seine Zeit ein, weil er sich von ihr fernhält; der andere braucht die | |
| anderen, er verkörpert seine Zeit, indem er sie möglichst nahe an sich | |
| heranlässt. Wie jedes Klischee hat auch dieses seine Verankerung in der | |
| Realität. Es gibt Orte, an denen sich ein Übermaß an Talenten konzentriert, | |
| und Momente, in denen der Zeitgeist dem Neuen günstig ist. Greenwich | |
| Village war so ein Ort, und die frühen Sechzigerjahre waren so eine Zeit. | |
| Und Susan Sontag war so ein Autorentypus. Sie war, im besten aller | |
| möglichen Sinne, Produkt ihrer Umstände. Wer ein Programm wie das ihre auf | |
| sich allein gestellt zu verfechten suchte, der stünde auf verlorenem | |
| Posten. So befruchtete sich eine ganze Generation gegenseitig: der | |
| Sänger-Poet Bob Dylan, Konzeptkunst, die Happeningszene, Autoren wie | |
| William S. Burroughs und Alain Ginsberg, die nach einer neuen Sprache | |
| suchten, Musiker wie John Cage. Sex, Drugs, Rock n Roll. Norman Mailer, | |
| Andy Warhol, Merce Cunningham, Robert Wilson - man hatte bei Gott nicht | |
| immer gemeinsame ästhetische Konzepte, aber man bewohnte dasselbe Viertel. | |
| Mit Warren Beatty hatte sie damals eine Beziehung, ihr letztes | |
| Männerverhältnis. Später wurde sie mit der Starfotografin Annie Leibovitz | |
| New Yorks "First Lesbian Couple". Publik machte Sontag, die ansonsten so | |
| sehr auch auf die öffentliche "Celebrity" achtete, ihre Beziehung nie. | |
| Offenkundig, weil sie die allgemeine Reputation als "Schriftstellerin" der | |
| speziellen Reputation der "lesbischen Schriftstellerin" vorzog. | |
| Biotop nannte man solche Gegenden, schon bevor noch von "Creative | |
| Industries", "Creative Classes" und "Gentrifizierung" die Rede war. Man war | |
| jung in einem eminenten Sinne. "Forever Young", sang Bob Dylan. Damit war | |
| mehr gemeint als die biologische Jugend, aber es war auch eine jener | |
| Illusionen, für die biologische Jugend anfällig macht. "Die Angst, alt zu | |
| werden", notierte Susan Sontag in ihr Tagebuch, "entspringt der Einsicht, | |
| dass man nicht das Leben lebt, das man zu leben wünscht. Es ist ein anderer | |
| Ausdruck für das Gefühl, die Gegenwart zu missbrauchen." Sie war damals | |
| gerade achtundzwanzig. | |
| Es ist ein Glück, solchen Beginner-Generationen anzugehören. Aber auch ein | |
| Fluch. Man macht reinen Tisch, begründet mit Wucht eine neue Zeitrechnung, | |
| im Sinne des "positiven Begriffs von Barbarentum", von dem Walter Benjamin | |
| sprach, jener Walter Benjamin übrigens, dem Susan Sontag gewiss nicht | |
| zufällig einen ihrer großen Essays widmete. Aber man hat dann, wenn die | |
| dichten Jahre vorbei sind, das Milieu, aus dem man schöpfte, zerfallen und | |
| der Zeitbruch vollzogen ist, oft auch seine Zukunft hinter sich - | |
| wenigstens läuft man leicht der Grandiosität von drei, vier Saisons | |
| hinterher. Und geht als Denkmal dessen durch die Welt, der man in seinen | |
| Zwanzigern war. Das bleibt auch den Besten nicht erspart, selbst wenn sie | |
| viel daransetzen, sich regelmäßig neu zu erfinden. "Die Sechziger waren | |
| eine grandiose Zeit, die wichtigste meines Lebens", sagte Sontag einmal. | |
| Und an anderer Stelle schrieb sie von "jener inzwischen mythischen Epoche, | |
| die als die Sechzigerjahre bekannt ist". Nur, damals, als die Epoche | |
| lebendig war, "waren es eben noch nicht die Sechzigerjahre". | |
| Als Autorin war Susan Sontag originell und unoriginell zugleich, man kann | |
| auch sagen: modern und modisch. Stets war sie auf der Suche, türmte fast | |
| obsessiv Wissen auf, entdeckte neue Autoren - landete dabei aber doch bei | |
| dem, was spätestens kurz danach dem Zeitgenössischen gut und teuer sein | |
| würde: bei Godard und Ingmar Bergman, bei Roland Barthes, Joseph Brodsky, | |
| Cioran, Canetti. Auch sie blickte zurück: in ihrem Benjamin-Essay, auf | |
| Dostojewski, Rilke, Pasternak, Paul Valéry, André Gide. Ihre Essayistik | |
| orientierte sich an den formalen Kategorien, die diese Vorbilder etabliert | |
| hatten, was freilich auch heißt, dass ihr Stil nicht wirklich "jung" war - | |
| ein Susan-Sontag-Essay hatte in etwa jenes formale Niveau, wie es seit den | |
| Dreißigerjahren etabliert war, etwa auf den Seiten der Neuen Rundschau, um | |
| nur ein Beispiel zu nennen. "Jung" waren eher die Themen: Film, Fotografie, | |
| Happenings. Sie war von fast altmodischer Gelehrsamkeit, aber vom Jargon | |
| des Akademischen früh geheilt. Es war unverkennbar positiv geurteilt, wenn | |
| sie über Roland Barthes schrieb: "Indem er sich von den Theorien | |
| verabschiedete, legte er auch weniger Gewicht auf den zur Moderne | |
| gehörenden Standard der Schwerverständlichkeit." | |
| Jeder Essayist schreibt, wenn er über einen anderen schreibt, immer auch | |
| über sich. Bei Susan Sontag war diese Eigenart nur besonders ausgeprägt, | |
| aber vielleicht lag das an einer Leidenschaftlichkeit, die es ihr nicht | |
| möglich machte, diese Spuren des Selbst hinter Subtilitäten zu verbergen. | |
| Es schreit, gerade da, wo sie am besten ist, förmlich aus ihr heraus: So | |
| will ich auch sein! So präsentiert der packendste Essay des eben posthum | |
| erschienenen Aufsatzbandes den unorthodoxen Trotzkisten Victor Serge. | |
| Der als Sohn russischer Emigranten in Belgien geborene Schriftsteller und | |
| Revolutionär ist einer der großen, vergessenen Helden des zwanzigsten | |
| Jahrhunderts. Erst kämpfte er aufseiten der Bolschewiki, dann aufseiten der | |
| trotzkistischen Poum im Spanischen Bürgerkrieg, aber auch Trotzki verstieß | |
| ihn, weil er sich keiner Dogmatik unterordnen wollte. Und zeitlebens war er | |
| ein ebenso produktiver wie großartiger Stilist, der Romane, Pamphlete, | |
| Biografien schrieb. Mit regelrechter Verehrung schreibt Sontag über Serge | |
| "und die Fragen, denen er seinen Scharfblick, seine Redlichkeit, seinen | |
| Mut, seine Niederlagen widmete - Wie soll man leben? Wie kann man seinem | |
| Leben einen Sinn geben? Wie kann man den Unterdrückten ein besseres Leben | |
| verschaffen?". | |
| Man geht anders durchs Leben, wenn man seine Niederlagen noch vor sich hat. | |
| Und gewiss auch hat die Zeit größere Niederlagen für Menschen wie Serge | |
| bereitgehalten als die ihre für Leute wie Sontag. Aber doch war die | |
| Generation der jungen Sontag die letzte, die von einem vorbehaltlosen | |
| Bekenntnis zu ihrem Zeitalter geprägt war. Es ist, zumal für kulturell | |
| Moderne, eine Frage von eminenter Relevanz: Wie steht man zu seinem | |
| Zeitalter? Kann man modern sein ohne Zukunftspathos? Wie ist es um den | |
| Index der Zeit bestellt, wenn die Illusionen verbraucht sind und an den | |
| "Fortschritt" nur mehr Arbeitgeberfunktionäre glauben, die mit diesem eine | |
| Mischung aus Globalisierung, Deregulierung der Arbeitsmärkte und | |
| Computerisierung meinen? Modernes Bewusstsein, zumal wenn es mit | |
| rebellischem Elan legiert ist, war, um es mit Benjamins Worten zu sagen, | |
| immer getragen von Kritik der Gegenwart bei gleichzeitig "rückhaltlosem | |
| Bekenntnis" zu dieser - oder einfacher gesagt, von utopischem | |
| Fortschrittsbewusstsein. "Die Moderne war", schreibt Susan Sontag in | |
| "Dreißig Jahre später" über die Sixties, "immer noch eine lebenssprühende | |
| Idee. (Das war vor den Kapitulationen, die sich in der Vorstellung der | |
| ,Postmoderne' verkörpern)." Weiter: "Wie wundervoll das alles im Rückblick | |
| erscheint. Wie sehr man sich wünschte, dass ein wenig von der Kühnheit, dem | |
| Optimismus, der Verachtung für den Kommerz überlebt hätte. […] Die Zeit, in | |
| der wir leben, wird nicht als utopischer Moment erfahren, sondern als das | |
| Ende - genauer gesagt, als die Zeit unmittelbar nach dem Ende - jedweder | |
| Ideale. […] Heute kommt den meisten Menschen allein schon die Idee des | |
| Ernsthaften (und des Ehrenhaften) kurios vor, ,unrealistisch'." | |
| Sontag hat wohl verstanden, dass sie verstrickt war in die Prozesse, deren | |
| Resultate sie so beklagte. Sie modellierte sich zur Medienintellektuellen | |
| mit Glamour, war aber damit Teil der Auflösung aller Seriosität in das | |
| Spiel mit der Beachtung. "Der Einfluss, den ein Schriftsteller heutzutage | |
| ausüben kann, ist rein zufälliger Art. Er ist nichts weiter als ein | |
| Bestandteil der Prominentenkultur", führte Sontag in einer ihren letzten | |
| Reden aus. | |
| Doch in den Sechzigerjahren war ihr noch nicht klar, "dass der Ernst selbst | |
| anfing, in der Kultur insgesamt an Glaubwürdigkeit zu verlieren, und dass | |
| ein Teil der mehr auf Verstöße abzielenden Kunst, die mir zusagte, dazu | |
| diente, frivole, lediglich am Konsum ausgerichtete Verstöße zu | |
| unterstützen." | |
| Das Künstler-Ich war selbst ein konsumierbares Produkt geworden, und auch | |
| die Autorin mit der Witterung für das "Next New Thing" wurde zu einer | |
| stilisierten Marke, die Aufmerksamkeit dafür bekommt, wie sie etwas sagt, | |
| für ihre Gestik, ihre Theatralik - schön und cool. Im Fernsehzeitalter | |
| agiert der öffentliche Intellektuelle stets, auch wenn keine Kamera auf ihn | |
| gerichtet ist, als wäre eine Kamera auf ihn gerichtet. | |
| Der gesellschaftliche Wandel, der die Voraussetzung für Sontags Kultstatus | |
| war, bewirkte auch, dass die Wörter auf zunehmend schwankendem Boden | |
| standen. Was genau sie sagte, war nicht so wichtig, oder besser, es war im | |
| Notfall austauschbar, sofern nur der Sound passte und die Figur stimmig | |
| war: "Der Anspruch, möglichst das letzte Wort zu haben, wohnt allem | |
| kraftvollen Formulieren inne." Sontag hat das früh und eher instinktiv | |
| erkannt. In ihr Tagebuch schrieb sie über die Fortschritte an einem Essay | |
| über Pornografie, den sie gerade in Arbeit hatte. "Ich komme ans Ende der | |
| Besprechung. […] Sie ist okay. Freilich, ich glaube kein Wort von dem, was | |
| ich sage." Die moderne Infotainmentkultur winkte da bereits, in der weniger | |
| zählt, was jemand sagt, und mehr, wie er oder sie es sagt. | |
| Es hat in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in den letzten | |
| beiden Jahrzehnten eine erschreckende Verschiebung von moralischen | |
| Einstellungen gegeben. Ihr Markenzeichen ist die Diskreditierung jedweden | |
| Idealismus, ja des Altruismus selbst, und hoher Maßstäbe aller Art, | |
| kultureller wie moralischer", schrieb Sontag Ende der Neunzigerjahre in | |
| Beantwortung eines Fragebogens. Gewiss hat das mit dem ideologischen | |
| Klassenkampf von oben zu tun, der es schaffte, alles Streben jenseits | |
| nackten Eigennutzes mit dem Flair des Lächerlichen zu umgeben und umgekehrt | |
| das Gewinnstreben mit einem Heroismus der kalten Schneidigkeit zu | |
| verbinden. Schon John Maynard Keynes wusste: Dass die Lehre des radikalen | |
| Marktliberalismus, "in die Praxis übersetzt, spartanisch und oft | |
| widerwärtig war, verlieh ihr einen Anspruch von Tugend". | |
| Seit Keynes hat der Kapitalismus seine widerwärtigen Seiten nicht verloren, | |
| im Gegenteil, aber doch sein asketisches Ideal. Der brutale | |
| Herrenreitergestus ist der Freihandelsapologie zwar geblieben - schließlich | |
| habe man kalten Herzens die Realitäten "zur Kenntnis zu nehmen", aber die | |
| Härte ist auch von einer Korona der Frivolität umkränzt. Denn im | |
| Konsumismus ist der Kapitalismus ein Bündnis mit den Lastern eingegangen - | |
| die Konsumtionsspirale hält auch am Laufen, wer Hardcore-Pornos schaut, | |
| tonnenweise Fastfood in sich hineinstopft oder sich eine private | |
| Flugzeugflotte hält. "Ich sehe Vielversprechendes in den Aktivitäten der | |
| jungen Leute", sagte Sontag in ihrer berühmten Rede "Whats happening in | |
| America?", "dazu gehört sowohl ihr Interesse an Politik […] wie auch die | |
| Art, zu tanzen, sich zu kleiden, ihre Haare zu tragen, Randale und Liebe zu | |
| machen." Der Spaß erschien damals noch als Spielart der Subversion. Heute | |
| ist er der Motor der Konsumnachfrage. | |
| Die Moral hat einen schweren Stand, weil ihr Bündnis mit dem Fortschritt | |
| zerbrach. Die Moral hat etwas Leichtes und Kräftiges zugleich, wenn sie von | |
| der Gewissheit getragen ist, dass sie die Geschichte auf ihrer Seite hat | |
| und der Fortschritt zur moralischen Verbesserung der Menschheit beiträgt, | |
| kurzum: wenn sich die Moral selbst "mit den Realitäten" im Bunde weiß. | |
| Moral mit Modernismus gepaart ergibt Optimismus. Auf sich allein gestellt | |
| neigt sie zum Moralisieren. Moral, die den Wind im Rücken wähnt, kann sich | |
| im Impliziten begnügen. Bläst ihr der Wind aber ins Gesicht, wird die Moral | |
| schnell als Moralismus ostentativ, sie herrscht einen an, geht einem auf | |
| die Nerven. "Es ist korrumpierend, wenn man schon in der Absicht, zu | |
| moralisieren, schreibt, mit dem Ziel, die moralischen Standards der | |
| Menschen zu heben", notierte Susan Sontag Ende der Fünfzigerjahre. | |
| Mit dem Hang zur Selbststilisierung, besessen davon, eine zu sein, die sie | |
| selbst bewundern kann, prätendierte Sontag zunehmend, "in den Ruinen der | |
| Geschichte" (New York Review of Books) zu stehen. Aber Melancholie ist ein | |
| ungesundes Weltverhältnis. Modernität ist auch ein Willensakt. Die Dichte | |
| der Sprache, die Sontag in den Sechzigerjahren schrieb, in diesen Essays, | |
| in denen jeder Satz ein Hackenknall war und jede These wie ein Degenhieb | |
| saß, könnte uns auch daran erinnern, dass der unbedingte Wille, modern zu | |
| sein, auch schierer Voluntarismus ist. Rimbauds "Il faut être absolument | |
| moderne" ("Wir müssen unbedingt modern sein") klingt hier nach. Die | |
| "Moderne" hatte ihre besten Momente, wenn genügend Menschen diesen | |
| Willensakt aufbrachten. Selbstredend, wir wissen, um Marx zu | |
| paraphrasieren, die Menschen machen ihre Moderne selbst, aber sie machen | |
| sie nicht aus freien Stücken. Doch sie machen ihre Umstände schon auch in | |
| demselben Maße, wie die Umstände sie machen. | |
| Wir sollten wieder modern sein. | |
| ROBERT MISIK, Jahrgang 1966, lebt als | |
| Journalist und Schriftsteller in Wien | |
| LITERATUR: Susan Sontag: "Zur gleichen Zeit". Hanser Verlag 2008, 296 | |
| Seiten, 21,50 Euro | |
| Daniel Schreiber: "Susan Sontag. Geist und | |
| Glamour". Aufbau-Verlag 2007, 342 Seiten, | |
| 22,95 Euro | |
| Annie Leibovitz: "A Photographers Life". | |
| Schirmer/Mosel 2006, 472 Seiten, 78 Euro | |
| Sontags Bücher erschienen auf Deutsch im Hanser Verlag, als Taschenbücher | |
| im Fischer Verlag | |
| 22 Aug 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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