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# taz.de -- Susan Sontags Tagebücher: Das Innere, ein Gefängnis
> Der zweite Band von Susan Sontags Tagebüchern liegt vor. Er zeigt ihre
> Verzweiflung, ihre Unsicherheit und bisweilen auch ihre Grausamkeit.
Bild: Sie war eine der wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit und ein Mensch.
BERLIN taz | Vor ein paar Wochen verbrachte ich einen Nachmittag mit
Benjamin Moser – Autor eines wunderbaren Buches über die brasilianische
Schriftstellerin Clarice Lispector – , der gerade an einer Mammut-Biografie
über Susan Sontag arbeitet.
Eine der ersten Fragen, die er mir stellte, war, ob ich auch so ambivalente
Gefühle gegenüber Sontag gehabt hätte, als ich vor sechs Jahren an meiner
Biografie über sie schrieb, in der es vor allem um Sontags Selbsterfindung
als öffentliche Figur ging. Ich war unglaublich erleichtert, dass es nicht
nur mir so ging.
Bis heute berichten mir Menschen, die sie kannten, immer wieder, wie
schwierig der Umgang mit ihr war. Wenigen Autorinnen schlug so viel
Bewunderung für ihr Schaffen entgegen, wenigen so viel Enttäuschung und
Verbitterung auf privater Ebene. Sie konnte warmherzig, auf sympathische
Weise verrückt und eine gute Ratgeberin sein.
Sie war aber auch egomanisch, neigte zur Selbstüberschätzung und verhielt
sich manchmal auf eine regelrecht grausame Weise. Auch wenn diese
Eigenschaften für die Brillanz und die einschneidende Klarheit vieler ihrer
Texte mitverantwortlich waren, sorgten sie in ihrem persönlichen Leben für
großes Unglück.
Nachdem ich meine Biografie über sie beendet hatte, wollte ich eigentlich
nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ich fühlte mich wie nach dem Ende einer
langen, zermürbenden Beziehung und stand ihr wie einer einst sehr wichtigen
Freundin gegenüber, deren Gegenwart man nunmehr als toxisch empfindet.
Egal, wie sehr man sie immer noch mag.
## „Ich werde überleben“
Der erste Band von Sontags Tagebüchern, der vor drei Jahren auf Deutsch
erschien, erinnerte mich wieder daran, wie bewundernswert sie war. Mit wie
viel Mut sie darin alle Konventionen der 1950er und 1960er Jahre in den
Wind schlägt, um ein unabhängiges Leben als schreibende, lesbische und
alleinerziehende Mutter in Paris und New York zu führen, ist unfassbar
beeindruckend.
Die auch hier schon deutlichen egomanischen Anflüge liest man eher als eine
notwendige Begleiterscheinung dieses Weges. Ausschnitte aus „Wiedergeboren“
sollten als feministischer Grundlagentext in Schulklassen verteilt werden.
Mit der Veröffentlichung des zweiten Bandes „Ich schreibe, um
herauszufinden, was ich denke“ allerdings, der Sontags Aufzeichnungen
zwischen 1964 und 1980 umfasst, einer Zeit, in der sie amphetaminabhängig
war, kommt das Gefühl der Ambivalenz zurück. Viele der geistreichen
Einträge dieses Tagebuchs berühren.
Ihrer langen Reihe unglücklicher Beziehungen mit Maria Irene Fornes, Jasper
Johns, Carlotta del Pezzi und Joseph Brodsky zum Beispiel ringt Sontag
immer auch Sätze ab wie: „Nichts ist rätselhaft, keine menschliche
Beziehung. Nur die Liebe.“ Oder: „Ich bleibe so nackt. Und es wird wehtun.
Aber ich werde überleben.“
Trotzdem legt man dieses Buch mit einem Unwohlsein aus der Hand. Das
Spielerisch-Aphoristische des ersten Tagebuchs macht hier dem
Unzusammenhängenden, dem Apodiktischen und dem oft Banalen Platz. Anstelle
unnachgiebiger Selbstbefragungen füllt Sontag viele Seiten mit quälenden
Anfällen von Selbstmitleid. Der Wille, sich selbst zu verbessern, etwas aus
sich zu machen, schlägt nach und nach in das Verlangen um, das entworfene
Selbstbild von ihrer Umwelt genauso widergespiegelt zu bekommen, wie sie es
sich ausgedacht hat.
## Obszessives Schreiben auf Speed
War „Wiedergeboren“ noch vom Ausprobieren verschiedener Ich-Positionen
bestimmt, legt sich Sontag im Laufe von „Ich schreibe“ auf zwei fest: Auf
die willfährige Diva und auf das bemitleidenswerte Opfer. „Ich schreibe“
ist über lange Strecken die Fallstudie einer Verzweiflung, für die man nur
wenig Empathie aufbringen kann.
Dass Sontag in jener Zeit fast täglich Amphetamine brauchte, um zu
funktionieren, ist dabei keine Nebensächlichkeit. David Rieff, ihr Sohn und
der Herausgeber der Tagebücher, streut diese Information, die nie ein
Geheimnis war, en passant in den Text ein.
Bei den Dexamyl-Tabletten, ohne die Sontag bis in die Mitte der 1980er
Jahre glaubte, nicht schreiben zu können, handelte es sich um Speed.
Vielleicht klingt die Sprache dieser Aufzeichnungen auch deshalb häufig
manisch, atemlos, ja schrill. Im Amerikanischen fällt dieser Ton noch mehr
auf als in der deutschen Ausgabe. Die kluge Übersetzung von Kathrin Razum
tut Sontag einen Gefallen und lässt viele Stellen schöner klingen als im
Original.
Sontags Dexamyl-Missbrauch wirft auch ein Licht auf ihre eher mediokren
Werke jener Zeit – auf den Roman „Todesstation“, eine kaum lesbare,
erratische Kopfgeburt, auf die im Vergleich zum furiosen „Kunst und
Antikunst“ eher dünnen Essays in „Gesten radikalen Willens“, auf ihre
beiden recht unverständlichen Spielfilme, die sie in Schweden drehte. Über
all diese Werke, und auch über ihre großen Bücher „Krankheit als Metapher�…
und „Über Fotografie“, die Ende der Siebzigerjahre entstanden, erfährt man
zudem ohnehin wenig in diesen Tagebüchern.
Der Großteil der Aufzeichnungen besteht aus Listen noch zu lesender oder
schon gelesener Bücher, aus Anordnungen an sich selbst, mehr wie Hannah
Arendt zu schreiben oder in Interviews mehr wie der amerikanische
Intellektuelle Robert Lowell aufzutreten, aus unzähligen, manchmal nach
25-stündigen Wachphasen notierten Ideen für Romane, Erzählungen und Filme,
die nie realisiert werden.
Und schließlich immer wieder aus langen Passagen, in denen sich Sontag
obsessiv darüber Gedanken macht, was für eine Autorin sie ist („Ich bin
eine angriffslustige Schriftstellerin, eine polemische Schriftstellerin.
Ich schreibe, um zu unterstützen, was attackiert wird, und um zu
attackieren, was gefeiert wird.“); aus Absätzen krankhaften Ehrgeizes, in
denen die Mittdreißigerin ohne jede Ironie über den Gewinn des
Literaturnobelpreises nachdenkt und sich mit Proust, Melville oder
Dostojewskij vergleicht („Ich will auch etwas Bedeutendes schreiben.“).
## Psychoanalyse und Flucht
Die meisten selbstbezogenen Menschen interessieren sich so für sich selbst,
weil sie im inneren Gefängnis einer alles bestimmenden Unsicherheit leben.
Sie versuchen permanent herauszufinden, wie man zu sein hat oder wie sie
auf andere wirken, weil sie sich jedes Gefühls, das sie haben, jedes
Anflugs von Angst, schämen.
Man merkt „Ich schreibe“ an, dass es über lange Strecken während einer f�…
Sontag sehr wichtigen Psychoanalyse bei der Analytikerin Diana Kemeny
entstanden ist, der sie ihren Roman „Todesstation“ widmete.
Abhängige, egal wie klug sie sind, erweisen sich bekanntermaßen oft
resistent gegen den psychoanalytischen Prozess. Sie sind zu sehr damit
beschäftigt, vor sich selbst zu fliehen. Sie haben schon etwas, von dem sie
glauben, dass es ihnen hilft. Die Aufzeichnungen legen die Vermutung nahe,
dass das auch bei Sontag der Fall gewesen ist.
An vielen Stellen scheint hindurch, dass Sontag, wenn sie ihren mangelnden
Selbstrespekt beklagt, aggressives Durchsetzungsvermögen meint. Sie füllt
Seiten mit bitteren Betrachtungen darüber, wie ihre Beziehungen sie
beschädigt und verwundet haben, ohne ihren eigenen Anteil daran zu
reflektieren. Auch noch mit Mitte vierzig hängt sie den ihr von ihrer
Mutter Mildred zugefügten inneren Verletzungen nach.
Anstatt über ihre eigene Homosexualität nachzudenken, notiert sie obsessiv,
wie ihre vielen schwulen Freunde leben. Anstatt ihren Sohn David Rieff
hinzunehmen, wie er ist, erzählt sie ihm als Neunjährigen, dass er nicht so
klug ist, wie sie es als Kind gewesen war. Über alldem hängt ein Schleier
des Selbstbetrugs, des undurchdringlichen alltäglichen Unglücks.
## Bildungsroman mit manischen Listen
In seiner Einleitung zu „Ich schreibe“ erklärt David Rieff, dass dieser
Tagebuchband eine Art Bildungsroman darstelle. Ich frage mich, ob er der
richtige Herausgeber für die Tagebücher seiner Mutter ist. Elterliche
Selbstmythologisierungen sind nur schwer zu durchbrechen.
In seiner Einführung fährt Rieff etwa noch einmal den Mythos von Sontags
gymnasialer Wallfahrt zu Thomas Mann auf, obwohl ihre Aufzeichnungen in
„Wiedergeboren“ belegen, dass sie Mann erst besuchte, als sie schon lange
in Berkeley studierte. Zum Ende von „Ich schreibe“ muss man trotzdem an
seine Bildungsroman-Analogie denken.
Während ihrer ersten Krebserkrankung im Sommer 1976 hat Sontag leider kaum
Tagebuch geführt. In den Jahren danach aber werden ihre Einträge ruhiger
und zusammenhängender. Anstelle manischer Listen führt sie mit einem Anflug
von Humor Dinge auf, die sie mag („Louis-XIII-Möbel“, „Ahornzucker“,
„Eukalyptusbäume“) und nicht mag („Paare“, „Nasentropfen“, „haar…
Männer“).
In elegischen Passagen beschreibt sie, warum sie Venedig liebt. Und in
Joseph Brodsky scheint sie wenigstens für ein paar Jahre einen Partner
gefunden zu haben, der sie nicht nur unglücklich macht. Der Schleier von
Sontags Selbstbetrug scheint hier an manchen Stellen durchsichtiger zu
werden. Nicht genug, um diesen Tagebuchband als Buch zu retten, aber genug,
um auf den nächsten gespannt zu machen.
29 Sep 2013
## AUTOREN
Daniel Schreiber
## TAGS
Tagebücher
Feminismus
Psychoanalyse
Literatur
deutsche Literatur
Queer
Alice Schwarzer
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