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# taz.de -- Neues aus dem Genre Tagebuch: Hier spricht die Gegenwart
> Das Genre Tagebuch wird wieder goutiert. Zwei recht gegensätzliche
> Herangehensweisen zeigen die Autoren Helmut Krausser und Clemens Meyer.
> Der eine lässt tief blicken, der andere verschwindet in der Fiktion.
Das Tagebuch. Ein traditionelles, demokratisches Hilfsmittel - viele führen
es oder haben es geführt - und so etwas wie der Film unter den
literarischen Gattungen, denn es kann alle anderen in sich vereinen: Im
Tagebuch ist Platz für Gedichte, für Randnotizen, längere Erzählungen, für
Berichte, Vermischtes, für unabgeschickte Liebesbriefe, sogar für Dialoge.
Das Tagebuch kann sich - wie die "Jahrbücher" aus den frühen
Achtzigerjahren - ganz einem speziellen Thema widmen oder allumfassend
sein. Es kann aus dem Persönlichen politisch werden und umgekehrt. Das
Tagebuch ist das intimste Medium und gleichzeitig das, mit dem der Autor,
die Autorin transparent wird: Das Tagebuch bietet einen Blick hinter die
Kulissen, leuchtet das Leben einer Schriftstellerin aus, fungiert manchmal
als Making-of, das germanistisch korrekt als Begleitlektüre zum Hauptwerk
gelesen werden kann.
In diesem Bücherfrühling sind zahlreiche interessante, lesenswerte
Tagebücher erschienen, von Martin Walser, Max Frisch, Susan Sontag.
Sozusagen zeitnäher sind die von Helmut Krausser und Clemens Meyer.
Krausser, Schriftsteller aus München, mittlerweile via Kreuzberg in Potsdam
gelandet, seit Jahren so umtriebig, dass kein Genre vor ihm sicher war, hat
zwölf Jahre lang Tagebuch geführt, nämlich von 1992 bis 2004, in jedem Jahr
einen Monat lang. Heraus kamen zwölf Bücher, die dann zu vier
Taschenbüchern zusammengefasst wurden, und jetzt dieses gebundene,
"Substanz" getaufte. Dabei soll "Substanz" gar nicht an legendäre Bands aus
Manchester erinnern, sondern tatsächlich das sein: das Wesentliche, das
Heruntergekochte, die Substanz aus den zwölf Jahren, oder wie der
Untertitel verlautbart, "Das Beste aus den Tagebüchern". Tatsächlich wurde
sehr viel gestrichen, der Vergleich mit den Originalen lohnt sich.
Man lernt sehr viel aus diesem Buch. Man lernt, dass Kafka umständlich
geschrieben hat; dass aus "Berlin Alexanderplatz" wesentlich mehr
herauszuholen wäre; dass Kritik bei diesem Autor meist nicht gut ankommt,
und KritikerInnen meist nicht viel mehr sind als Geschmeiß. Man erfährt
auch, dass der Autor viel reist und verdammt herumgekommen ist in der Welt,
zumindest in Europa; seine Stationen sind natürlich auch
literaturbetriebsbedingt interessant. Krausser kommt rum, Krausser tritt in
Klagenfurt an, weilt als Stipendiat in Rom, besucht die Buchmesse in
Leipzig. Alles im Tagebuch.
Man erfährt aber auch, dass er eine witzige Ehefrau hat (seine späte
Jugendliebe); dass er eine Vorliebe für U-Musik der anstrengenden Sorte
pflegt (die Oper!), seinen elitären Kunstbegriff aber mit jeder Faser zu
verteidigen weiß. Man erfährt mehrmals, dass er von Techno nicht viel hält
und von diesen "Spex-Typen" auch nicht. Ja, richtig, man erfährt sehr viel
über ein Jahrzehnt, das einerseits nicht lange vergangen ist, oft aber so
entlegen und entfernt scheint wie kein anderes: die Neunzigerjahre.
In den Neunzigerjahren war Helmut Krausser noch ein erstaunlich junger und
erfolgreicher Autor, ein Autor, dessen erster Roman "Fette Welt" sehr gut
lief und im Anschluss auch verfilmt wurde. Eine Zeitlang war Krausser als
junger Wilder eine Art Gegenpapst zum damals auch schon länger präsenten
Rainald Goetz, eine Position, die er inzwischen wohlweislich dem Kasperle
Joachim Lottmann überlassen hat. In den Neunzigern aber war es noch
wichtig, sich gegen linksintellektuelle Pop-Kritik zu positionieren, wie es
für Krausser auch wichtig war, der Mode der Sandalenliteratur, also der
Vorliebe besonders für die römische Antike zu folgen. Und das damals neue
Erzählen gegen das damals alte Experimentieren zu setzen. Paradigmenwechsel
jetzt.
Gleichsam dämmert im Zeitlauf dieses Buchs die New Economy herauf, der
Zusammenbruch der Sozialsysteme geht unmerklich, dann immer heftiger
vonstatten, schließlich erscheint der islamische Fundamentalismus und der
11. September am Horizont - und "Substanz" lässt den Geist dieser Epoche
noch einmal wiederauferstehen, vollzieht die Vorläufe und Entwicklungen in
Live-Berichterstattung nach.
Natürlich ist "Substanz" allein deswegen ein tolles Buch; aber auch, weil
die Hybris seines Autors gleichsam den Leser herausfordert. Krausser greift
an und macht sich dadurch angreifbar: Er versteht Kritik an seinem Werk als
Angriff, setzt in den Gegenreden aber meist auch nur auf Meinung, die man
überraschenderweise ziemlich oft teilen, manchmal aber auch entschieden
ablehnen kann. Oder muss. Mit Argumentationen hat der Autor es jedenfalls
nicht so. In Teilen möchte man seinen eigenen Meinungsapparat auch gar
nicht gefordert sehen - "Substanz" macht in seiner leichten Lesbarkeit
nämlich denkfaul. Oder, positiv gesprochen: Man will nicht nachdenken, weil
man einfach schnell weiterlesen will. Weil es spannend ist und
aufschlussreich.
Von einem ganz anderen Kaliber, trotz allem, ist Clemens Meyers "Gewalten.
Ein Tagebuch", vor allem auch deshalb, weil "Gewalten" gar kein Tagebuch
ist. Zwar hat Clemens Meyer den Auftrag der Irene Rinke Stiftung genutzt,
um sich mit diesem Buch an der "Tagewerk-Reihe" zu beteiligen, einer Reihe,
in der jedes Jahr einE SchriftstellerIn Tagebuch führt. Tatsächlich kommt
"Gewalten" aber wie eine Sammlung von Erzählungen daher. Es versammelt elf
Stück, vielleicht pro Monat eine, für den Dezember hat die Zeit nicht mehr
gereicht, aber genau zuordnen lassen sich die Geschichten nicht. Meyer
allerdings probiert mehrere Erzählhaltungen aus, vermischt mitunter recht
gekonnt Fiktion mit tagesaktuellem Geschehen und Biografischem; in zwei
Fällen schlüpft er auch in Rollen: In "German Amok" gibt er erzählend ein
neues Ballerspiel wieder; eines von diesen Egoshootern, die gern als
Ursache für tatsächliche Amokläufe verantwortlich gemacht werden. Anlass
dieser verstörenden, nichtsdestotrotz sehr gelungenen Erzählung war
natürlich der Amoklauf von Tim K. in Winnenden.
Eine andere Erzählung, in der Meyer die Rollenprosa probiert, heißt "Der
Fall M", in der er sich dem Sexualstraftäter im Fall "Michelle" (August
2008) anzunähern versucht. Diese Erzählung scheitert nicht aufgrund ihres
heiklen Themas, sondern aufgrund der zu dicken Erzählerstimme; man merkt
dieser Prosa in jedem Moment ihren schauspielerischen Akt an - die
Erzählerstimme ist zu echt oder zu künstlich, auf keinen Fall aber
identitätsstiftend oder zur Empathie bestimmt.
In anderen Erzählungen geht es ebenfalls um Abgründe, um die Abgründe des
Alkohols, des vorübergehenden Aufenthalts in der Klapse, um
Bahnhofsbistros, Puffs und proletarisch anmutende Spielleidenschaften
(Boxen, Pferderennen, Fußball), um tote Freunde, lebende Erinnerungen und
einen sterbenden Hund. Wie bei Krausser steht und fällt auch bei Meyer
alles mit dem Stil, in dem er seine an Fitzgerald und Hemingway geschulten
Betrachtungen und Männlichkeitsposen herüberbringt. In zwei wesentlichen
Kategorien unterscheidet sich Meyer aber vom älteren, wenn nicht Vorbild,
so doch Vorläufer Krausser: Wenn es läuft, kann er einen Sog entwickeln,
der die trivialste Geschichte spannend werden lässt; und Meyer respektive
seine Erzähler-Ichs bleiben bei allem Posieren immer sympathisch, weil sie
sich nicht aufplustern müssen und die eigene Hybris mit einer
formvollendeten Bescheidenheit ausgleichen.
## Nirgends mehr bei sich
Dazu kommt noch Folgendes: "Substanz" erfüllt seine Titelvorgabe, nirgends
kommt man Krausser so nah wie in seinen Tagebüchern, nirgends ist er mehr
bei sich und von daher vielleicht auch nirgends besser. Das nicht wirkliche
Tagebuch "Gewalten" interessiert sich nur peripher für seinen Autor. Es ist
experimentell in dem Sinne, dass Autor, Erzähler, Geschehen, Fiktion auf
verschiedene Arten zusammenlaufen, sich überschneiden und wieder
auseinanderdriften. Das macht neugierig auf vorige und künftige
Schreibweisen von Clemens Meyer, der in Leipzig lebt, an der DLL studiert
hat und 2008 bereits den Preis der Leipziger Buchmesse gewinnen konnte.
Mit "Gewalten" verweigert Meyer das tägliche Notieren, das klassische
Tagebuch - und auch das Jahr 2009 scheint nur verwaschen durch die Seiten.
Was den Wert des Buchs kaum schmälert. Dass das Genre Tagebuch, das alles
kann, heutzutage wieder goutiert und bedient wird, trotz oder wegen der
Konkurrenz aus dem Internet ("Blogs"), ist auf jeden Fall mehr als
erfreulich. Denn immer noch ist es so, dass die meisten Tagebücher aus
untergegangen Epochen stammen - der gesamte Zweite Weltkrieg ist
tagebuchmäßig abgedeckt, zu 1968 und Folgejahren hingegen gibt es immer
noch erstaunlich wenig Editionen, und besonders zur weiteren Gegenwart gibt
es nur wenig Lesenswertes. Umso schöner, dass jetzt zwei Gegenbeispiele
erschienen sind.
11 Apr 2010
## AUTOREN
René Hamann
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