# taz.de -- Zum 70. Geburtstag von Alice Schwarzer: Arbeit an der Mutterfigur | |
> Seit Jahrzehnten arbeiten sich Frauen an Alice Schwarzer ab. Hat die | |
> Historikerin Miriam Gebhardt mehr als eine weitere Abrechnung zu bieten? | |
> Ja, hat sie. | |
Bild: Immer vorn mitreden, aber sich nicht in demokratische Gepflogenheiten ein… | |
Als Alice Schwarzer 1974 von Frankreich nach Deutschland kam, fand sie in | |
der feministischen Szene den Brauch der RednerInnenliste vor. In Frankreich | |
hatte sich dagegen einfach die jeweils Lauteste durchgesetzt. Nun wurde sie | |
gemaßregelt: „Du bist noch nicht dran. Außerdem weißt du immer alles | |
besser.“ Alice Schwarzer darauf: „Was ist, wenn ich weiß, dass ich es | |
besser weiß?“ „Dann hältst du trotzdem den Mund“, hörte sie zu ihrem g… | |
Erstaunen. | |
Diese Anekdote hat Schwarzer einst dem Spiegel erzählt – weil sie die | |
Reaktion der Frauen so absurd fand. Die Historikerin Miriam Gebhardt | |
dagegen sieht hier eines der großen Mankos der Alice Schwarzer aufscheinen: | |
Immer vorn mitreden, aber sich nicht in demokratische Gepflogenheiten | |
einpassen wollen. | |
Alice Schwarzer, die am 3. Dezember 70 Jahre alt wird, bekommt zum Jubiläum | |
einen Band historisch-kritischer Einordnung: 326 Seiten über „Alice im | |
Niemandsland – Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen verlor“. Muss das | |
noch mal sein? Schließlich arbeiten sich schon seit Jahrzehnten Frauen an | |
Schwarzer ab, den Alphamädchen und Charlotte Roche dient sie als | |
Mutterfigur, von der es sich zu distanzieren gilt. Hat Gebhardt mehr als | |
eine weitere Abrechnung zu bieten? | |
Ja, hat sie. Gebhardt ordnet ein. Warum haben die USA und Frankreich | |
intellektuelle Glamourfiguren wie Susan Sontag oder Luce Irigaray | |
hervorgebracht – und der deutsche Feminismus die eher theorieabstinente | |
Aktivistin Schwarzer? Wegen einer historischen Kluft zwischen deutschen | |
Universitäten und Öffentlichkeit, die auch feministische Forscherinnen | |
nicht überspringen. Warum ist in den USA Feministin kein Schimpfwort? Weil | |
die Frauenbewegung dort mit Gewerkschaften und Schwarzen zusammenarbeitete | |
und damit auf einer breiten Basis agierte. Mit anderen Worten, es ist auch | |
eine spezifisch deutsche Situation, die den Monolithen Schwarzer | |
hervorgebracht hat. | |
Dazu kommt Schwarzers Persönlichkeit, die zu einer inszenierten Splendid | |
Isolation führt. Schwarzer, so Gebhardt, habe nie eine Organisation | |
aufgebaut, keine Bündnisse gesucht, um politisch Einfluss zu nehmen. | |
Stattdessen throne sie als absolute Matriarchin im Kölner Bayenturm und | |
verlautbare ewige Wahrheiten über ihr persönliches Sprachrohr Emma. | |
## „Gleichheitsfeministin“ in der Tradition Simone de Beauvoirs | |
Zum Glück fängt bei Gebhardt aber da die Analyse erst an. Sie ordnet | |
Schwarzer als „Gleichheitsfeministin“ in der Tradition Simone de Beauvoirs | |
ein. Frauen leben unemanzipiert in der „Immanenz“ und müssen dringend nach | |
„Transzendenz“ streben. Die Forderung laute, „Ändere dich gefälligst“… | |
du so autonom bist wie ein Mann. Schwarzer pflege einen scharfen Dualismus: | |
Du bist Opfer des Patriarchats. „Du bist kein Opfer? Du weißt es bloß | |
nicht“, spitzt Gebhardt zu. Diesen Ansatz exerziere Schwarzer in der Emma | |
seit Jahren: Prostitution, Porno, Islam, Gewalt, Sexualität: Überall | |
herrsche das Patriarchat über die zugehörigen Opfer. | |
Gebhardt setzt dem zweierlei entgegen. Zum einen habe der Feminismus immer | |
auch eine zweite große Strömung gekannt – den Differenzfeminismus, der den | |
unterschiedlichen Erfahrungen von Frauen und Männern Respekt zollt und die | |
vermeintliche „Immanenz“ als eigenständigen Wert behandele: Kinder kriegen | |
ist dann nicht nur die „Mutterfalle“, zu Hause kochen ist schön, | |
Prostitution kann auch ein Beruf sein, Frauen mit Kopftuch sind nicht | |
automatisch Opfer. Das Spannungsverhältnis zwischen Gleichheit und | |
Differenz finde bei Schwarzer schlicht nicht statt. Mit ihrem rigorosen | |
„Ändere dich!“ habe sie Frauen überfordert und letztlich für die | |
Frauenbewegung verloren, so Gebhardt. | |
Zum Zweiten versucht die Autorin, die neuere Theoriebildung einzubeziehen. | |
Nach der Gendertheorie, so ihr Beispiel, sitzen Männer nicht breitbeinig | |
da, weil sie Machos sind, sondern weil sie gelernt haben, dass man so | |
dasitzt, wenn man männlich wirken will. Sie performen ihr Geschlecht. Das | |
Subjekt stellt sich über seine „Theatervorstellung“ her. Es könnte aber | |
auch eine andere Position einnehmen. Statt des Patriarchats findet man nun | |
ein Gefüge von Machtpositionen, die sich in Mikropolitiken verschieben | |
lassen. Die Frage, der Gebhardt dann nicht mehr nachgeht, lautet: Wie weit | |
lassen sie sich in einer konkreten historischen Situation verschieben und | |
wo sind die strukturellen Grenzen? | |
Das wäre das heutige Spielfeld des Feminismus. Gebhardt postuliert einen | |
verflüssigten Machtbegriff, und vor allem fordert sie: Ambivalenzen | |
aushalten. Ob ihr das selbst immer gelingt, wenn sie Schwarzers | |
Gleichheitsfeminismus und das – durchaus oft gut begründete – „Ändere d… | |
ausnahmslos kritisiert? Ambivalenzen auszuhalten ist eben nicht nur für | |
Alice Schwarzer schwer. | |
## „Alice im Niemandsland. Wie die deutsche Frauenbewegung die Frauen | |
verlor“. DVA, München 2012, 352 Seiten, 19,99 Euro | |
9 Nov 2012 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
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