# taz.de -- Kolumne Bestellen und Versenden: Lieber depri als Burnout | |
> Die Krankheit Depression wird zum Ausdruck individueller Befindlichkeit | |
> und damit sprachlich banalisiert. Das Auf und Ab im Leben klingt so | |
> interessanter. | |
Bild: Die Zeiten werden auch wieder besser. | |
Zur Psychopathologie des Alltagslebens gehört, dass jede erregte Reaktion | |
„hysterisch“ ist, jeder Pedant „zwanghaft“, jeder Schaukelsturz des kle… | |
Kindes „traumatisierend“. Darunter geht es nicht mehr, das Leben ist verbal | |
durchpsychologisiert. Vor allem wird jede Verstimmung und emotionale | |
Krisenerfahrung zur „Depression“ verklärt. | |
Nach der Niederlage gegen die Bayern erlaubte Jürgen Klopp seinen Spielern | |
neulich „fünf Minuten für Depressionen“ und Nils Minkmar weiß in seinem | |
lesenswerten Buch „Der Zirkus“ von Peer Steinbrück zu berichten, dass | |
dieser im Wahlkampf auch mal an einer kleinen Depression gelitten habe. | |
Missratene Kulturproduktionen oder nervige Sozialkontexte sind nicht | |
einfach nur doof, Leute bekommen nach eigenen Worten Depressionen davon. | |
Dass kein Wissenschaftler der Welt klinisch sauber definieren kann, was das | |
genau ist, macht den Gummibegriff nur brauchbarer. Jede minimal abweichende | |
Gestimmtheit wird psychologisierend aufgepimpt, denn so markiert fühlt sie | |
sich besser an. Krankheitsbilder und -metaphern können der Literarisierung | |
des Lebens dienen, Susan Sontag hat darüber in ihrem Essay „Krankheit als | |
Metapher“ geschrieben. | |
Heute funktioniere die „therapeutische Erzählung“ als | |
„Identifikationssystem“, schreibt der Soziologe Konstantin Ingenkamp in | |
seinem Buch „Depression und Gesellschaft“. Die potenziell gefährliche | |
Krankheit lässt sich in eine Ästhetik der Existenz einschreiben: Was ein | |
bedrohlicher Befund sein könnte, wird zur individuellen Befindlichkeit, von | |
der es etwas zu erzählen gibt. „Condition branding“ nennt man das Phänome… | |
dass es inzwischen für jede psychische Verfassung einen amtlichen und | |
vermarktbaren Namen gibt. | |
Die Psychopathosformeln können so gesehen der Distinktion in Zeiten der | |
Biopolitik dienen: Mein Leben ist interessanter als deins, da geht es auf | |
und ab und heftig zu. Der französische Soziologe Alain Ehrenberg schreibt | |
in seinem erfolgreichen Buch „Das erschöpfte Selbst. Depression und | |
Gesellschaft in der Gegenwart“, dass die Melancholie im 16. Jahrhundert als | |
die „Wahlkrankheit der – genialen oder adligen – Ausnahmemenschen“ galt. | |
Heute ist die Depression die Krankheit der Wahl für Drama Queens und Drama | |
Kings. Doofe Manager haben Burnouts, originellere Charaktere werden lieber | |
depri. | |
Da jeder einzigartig sein will, sind in der „depressiven Gesellschaft“ | |
(Elisabeth Roudinesco) selbst die Gesunden depressiv. Man kann den | |
ausufernden Sprachgebrauch zu Recht verantwortungslos finden, weil er | |
reales Leiden verschleiert. Während Begriffe wie Trauma oder Zwang aber | |
selbst in der banalisierenden Redeweise noch die Erinnerung an das Wissen | |
der Psychoanalyse aufbewahren, wurde die Depression längst von | |
Neurowissenschaften, Hirnforschung und Antidepressiva-Industrie gekapert. | |
Das hat Folgen, wie die Historikerin Elisabeth Roudinesco in ihrem Buch | |
„Wozu Psychoanalyse?“ feststellt: Das depressive Individuum sei heute auf | |
der Flucht vor seinem Unbewussten und darum bemüht, jedes Anzeichen, das | |
auf einen inneren Konflikt hindeuten könnte, zu unterdrücken. Wohlwollend | |
kann man die Dauerpräsenz der (Pseudo-)Depressiven aber auch als Subversion | |
des Wahrheitsanspruches der Neurowissenschaften deuten. Wenn alle depressiv | |
sind, werden deren angebliche Erkenntnisse nichtssagend. So bleibt die vage | |
Hoffnung, dass eines Tages auch die letzten Spiegel- und Focus-Redakteure | |
verstanden haben werden, dass der Mensch aus mehr als Hirnmasse besteht. | |
Ein anti-naturwissenschaftlicher Blick auf die Depression könnte uns vor | |
dem lächerlichen Glücksversprechen der Neurowissenschaften bewahren und | |
nicht zuletzt vor dem Glauben, dass wir jemals eins mit unserem Begehren | |
sein könnten. Die Grenze jeder Optimierungswut ist der Riss, der jeden von | |
sich selbst trennt. Selbst die sprachliche Banalisierung der Psychoanalyse | |
darf deshalb als Mittel zum Zweck verstanden werden und die Alltagssprache | |
als der nostalgische Hort ihres besseren Wissens. Lieber so, als dass so | |
schöne Worte wie „Penisneid“ für immer im diskursiven Off verschwinden. | |
15 Dec 2013 | |
## AUTOREN | |
Aram Lintzel | |
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