# taz.de -- Lohnarbeit und Depression: Der Mann ohne besondere Eigenschaften | |
> Vor drei Jahren ist Heiner Weiland spurlos verschwunden. Eine Ausstellung | |
> in Hamburg rekonstruiert die Lebensgeschichte des Maschinenbauers. | |
Bild: Könnte jede*r zu Hause herumstehen haben: Zimmerpflanze, Aschenbecher un… | |
Plötzlich war Heiner Weiland nicht mehr da, einfach so. Bei niemandem hatte | |
er sich verabschiedet. Nichts hatte darauf hingedeutet. Nichts hat er | |
zurückgelassen, das darauf schließen ließe, was passiert ist. Wo ist Heiner | |
Weiland heute? Hat er woanders ein neues Leben begonnen? Oder hat er sich | |
das Leben genommen? Ein Unfall oder ein Verbrechen? Nur so viel ist sicher: | |
Vor drei Jahren ist der 44-jährige Maschinenbauer aus Hamburg-Barmbek | |
verschwunden, spurlos. | |
Eine ganz alltägliche Geschichte: Rund 300 Menschen werden in Deutschland | |
jeden Tag vermisst gemeldet. Die meisten tauchen nach ein paar Tagen oder | |
Wochen wieder auf – tot oder lebendig. Aber rund drei Prozent bleiben | |
länger als ein Jahr spurlos verschwunden. Knapp 4.000 Erwachsene waren es | |
zu Anfang dieses Jahres in Deutschland, rund 70 Prozent von ihnen sind | |
übrigens Männer. Manchmal hat ihr Verschwinden mit einem Verbrechen zu tun, | |
aber die meisten tauchen aus eigenem Antrieb unter: Weil sie Schulden | |
haben, eine schwere Krankheit oder die Absicht, sich das Leben zu nehmen; | |
weil sie mit ihrem Leben überfordert sind; weil sie fliehen vor | |
unerträglichen Zuständen. | |
Genau drei Jahre nach seinem Verschwinden gibt ab Freitag eine „theatrale | |
Ausstellung“ im Museum der Arbeit Einblicke in Heiner Weilands Leben. | |
Konzipiert wurde sie von den beiden Theatermacher*innen [1][Saskia Kaufmann | |
und Raban Witt]. Über drei Ecken hätten sie von Weiland erfahren, kurz | |
nachdem seine Angehörigen ihn vermisst gemeldet hatten, sagt Kaufmann. „Wir | |
hatten dann das große Glück, seine Wohnung sehen zu können“, fügt Witt | |
hinzu. „Die war noch in einem unberührten Zustand. Der Tee war kalt, der | |
Fernseher lief aber noch.“ | |
Akribisch protokolliert haben Kaufmann und Witt dann, was sie dort fanden; | |
haben alles dokumentiert, was ihnen zugänglich war und Aufschluss über | |
Weilands Leben geben könnte. Sie haben Dokumente besorgt und Interviews mit | |
Angehörigen, Freund*innen und Arbeitskolleg*innen geführt, um | |
herauszufinden, was er für ein Mensch war – oder noch ist. „Um dem Rätsel | |
seines Verschwindens auf die Spur zu kommen“, sagt Witt. „Was hat er | |
gemacht? Was ist passiert? Warum hat er sich dazu entschieden? Wo liegt die | |
Wurzel des Problems?“ | |
## Das Exemplarische ausgestellt | |
Hunderte Fotografien, Dokumente und Objekte aus Weilands Leben haben Witt | |
und Kaufmann zusammengesammelt und präsentieren sie nun auf rund 4.000 | |
Quadratmetern. Ein Audioguide führt mit Hintergrundinformationen und | |
Original-Tondokumenten durch die Ausstellung. Die ist ähnlich aufgebaut wie | |
ein Schneckenhaus: Immer tiefer dringt man – ganz allein – in Weilands | |
Leben ein, immer labyrinthischer werden die Gänge – bis man unvermittelt in | |
einem Schlafzimmer steht: Kaufmann und Witt haben es bis ins letzte Detail | |
so nachbauen lassen, wie Weiland es zurückgelassen hatte. | |
Das Besondere dabei: Etwas Besonderes gibt es eigentlich gar nicht zu | |
erzählen. Die Ausstellung ist der Versuch, ein ganz und gar gewöhnliches, | |
durchschnittliches Leben zu rekonstruieren. Denn Heiner Weiland, das wird | |
schnell deutlich, ist ein Mensch ohne besondere Eigenschaften. Nicht mal | |
ein Gesicht hat er in dieser Ausstellung: Nirgends findet sich ein Bild von | |
ihm, auch auf den Familienfotos ist er nicht zu sehen. Zwischen all den | |
Dingen, mit denen er lebte; unter all den Menschen, mit denen er lebte: Der | |
Protagonist bleibt eigenartig unauffindbar. | |
Aber was ist schief gelaufen? Auf den ersten Blick hatte Weiland alles, von | |
dem man sagt: Das braucht man zum Glücklichsein, mehr braucht es doch nicht | |
– eine gut bezahlte Arbeit, eine schöne Wohnung, eine funktionierende | |
Beziehung, eine fröhliche Tochter, gute Freund*innen. „Mir fehlt es an | |
nichts“, zitiert ihn der Titel der Ausstellung. | |
## Das Leben fehlt | |
Und auf den ersten Blick hat Heiner Weiland doch auch immer alles richtig | |
gemacht, hat sich bemüht, immer allen Ansprüchen gerecht zu werden: | |
Aufgewachsen als Sohn eines Elektroinstallateurs und einer Verkäuferin, | |
ging es nach der Schule zur Bundeswehr, dann: Maschinenbaustudium, | |
Normalarbeitsverhältnis im mittelständischen Betrieb. Immer pünktlich zur | |
Arbeit, immer alles ordentlich abgeliefert, regelmäßig ins Fitnessstudio. | |
Weilands Montagabendroutine: Hemden bügeln und im Fernsehen: | |
„Großstadtrevier“. | |
Irgendwie unauffindbar war Heiner Weiland dabei aber wohl auch für ihn | |
selbst. Glücklich war er, so lassen sich etliche Indizien deuten, mit | |
seinem Leben jedenfalls ganz und gar nicht. Nur aufgefallen ist es | |
niemandem. Manchmal habe Weiland für kleine Irritationen gesorgt, sagt | |
Witt: „Aber er hat es im Großen und Ganzen geschafft, noch zu | |
funktionieren.“ | |
Woran aber ist er verzweifelt, wenn doch die Fassade aus verinnerlichten | |
Ansprüchen, Aufgaben, Funktionen, Routinen so makellos war? „Wir müssen uns | |
Weiland wohl als einen funktionalen Depressiven vorstellen“, sagt Witt. Als | |
jemand, in dessen Leben die Dinge so beziehungslos nebeneinander stehen wie | |
sie nun in den Vitrinen dieser musealen Ausstellung hinter Glas liegen; ein | |
Leben, das selbst nur noch Museum ist; das sich selbst längst hinter sich | |
gebracht hat; in dem alles, was in Bewegung, lebendig und ins Leben | |
eingebunden ist, abgeschlossen und stillgestellt scheint: Ein Leben, in dem | |
es eben doch nicht an nichts fehlt – sondern an allem; am Sinn und dem, was | |
man Lebenszusammenhang nennt. | |
Denn darum geht es Kaufmann und Witt, die sich den Mann, sein Verschwinden | |
und alles andere bis ins letzte Detail ausgedacht haben: Sie wollen zeigen, | |
wie exemplarisch solch ein absolut durchschnittlicher Mensch wie Heiner | |
Weiland für die Gegenwartsgesellschaft ist, in der Depression eine weit | |
verbreitete Diagnose ist. Und wie die kapitalistische Lohnarbeit und die | |
Verzweiflung übers eigene Leben zusammenhängen. „Er ist sozusagen der | |
Prototyp“, sagt Kaufmann, „jemand, der keinerlei Eigenschaften hat, die | |
Menschen normalerweise hätten, über die man Ausstellungen macht. Gerade so | |
jemand aber verdient diesen musealen Rahmen, weil man an ihm | |
gesellschaftliche Zusammenhänge erkennen kann.“ Genau darin liege die | |
Kraft, die die Form der Ausstellung habe, fügt Witt hinzu: „Wenn man etwas | |
eigentlich Gegenwärtiges zeigt, als sei es etwas Historisches, dann | |
versteht man es als Veränderbares.“ | |
28 Sep 2018 | |
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## AUTOREN | |
Robert Matthies | |
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