| # taz.de -- Psychotherapeutin über den Lockdown: „Auch per Video kann es int… | |
| > Die Coronakrise habe bei vielen ihrer Patient*innen Ängste freigesetzt, | |
| > sagt die Hamburger Psychotherapeutin Ulrike Lupke. | |
| Bild: Der Welttag des Buchs im April, hier in Sevilla, kann Einsamkeit nicht ga… | |
| taz: Frau Lupke, was kann eine Extremsituation wie der Corona-Lockdown mit | |
| unsere Psyche machen? | |
| Ulrike Lupke: Stellen wir uns ein routiniertes Leben vor – die Kinder sind | |
| in der Schule, finanziell hat man sich arrangiert, psychisch auch halbwegs. | |
| Und plötzlich habe ich drei Kinder zu Hause, mache mir finanzielle und | |
| gesundheitliche Sorgen. [1][In so einer Extremsituation] versagen manchmal | |
| unsere Bewältigungskompetenzen. Wer von diesen in seinem Leben wenig | |
| erlernt hat, hat da ein Problem. Ich befürchte, dass wir viele extreme | |
| Fällen gar nicht mitbekommen, die sich zu Hause abspielen. Zum Beispiel von | |
| Eltern, die reizbar, laut und gewalttätig werden. | |
| Wie haben Sie mit Ihrer Arbeit auf den Lockdown reagiert? | |
| Ich habe mir Mitte Februar schon gedacht, dass die Situation nicht gut | |
| wird. Vor allem in einem Arbeitsfeld, in dem der direkte Kontakt so | |
| bedeutend ist. Wir haben Ende Februar beschlossen, uns zu rüsten und | |
| Anfang März einen Anbieter für Videotherapie gesucht, der Datensicherheit | |
| gewährleistet. Als in Ägypten der erste Deutsche gestorben ist, haben wir | |
| schon mit Videotherapie angefangen. 80 Prozent der Leistungen haben wir | |
| dann hauptsächlich auf Video- und zu einem kleineren Teil auf | |
| Telefontherapie umgestellt. Seit den ersten Lockerungen Ende April können | |
| die Patienten und Therapeuten selbst entscheiden, was sie bevorzugen. | |
| Wurde dieses Vorgehen akzeptiert? | |
| Für alle war das ein Sprung ins kalte Wasser. Aber bei allen – Patienten | |
| und Therapeuten – herrschte da riesiges Verständnis und Erleichterung, dass | |
| es überhaupt weiterging. Für die [2][Ausbildungskandidaten an unserem | |
| Institut] wäre ja sonst die Ausbildung unterbrochen worden. Die Patienten | |
| waren in dieser ungewissen Situation sehr dankbar, weiterhin | |
| psychotherapeutisch versorgt zu sein. Insgesamt ging das viel besser, als | |
| wir dachten. Auch per Video kann es persönlich und intensiv werden – wenn | |
| auch nicht so sehr wie im direkten Kontakt. Nur bei Patienten, bei denen es | |
| nicht anders ging oder die nicht die technischen Möglichkeiten hatten, | |
| haben wir keine Videogespräche durchgeführt. | |
| Warum ging es denn mit manchen Patient:innen nicht? | |
| Weil wir teils stark emotional arbeiten, also zum Beispiel | |
| Vorstellungsübungen machen, um belastende Situationen aus dem bisherigen | |
| Leben nochmals nachzuerleben, um neue Bewältigungsformen dafür zu finden. | |
| So ein Zurückversetzen hat etwas Heilendes, weil unser Hirn sich dann neu | |
| vernetzen kann. Dennoch haben viele Patienten davor Angst, weil es sehr | |
| emotional sein kann. Und wenn man dann alleine vor dem Computer sitzt, kann | |
| das überfordernd sein. Manchmal braucht es einfach das wirkliche Gegenüber, | |
| das sagt: Ich bin da. | |
| ... und die Emotionen dann auch auffangen kann. | |
| Genau. Es gibt auch Momente, in denen ich einen Patienten einfach mal | |
| weinen lasse, weil das gerade richtig ist. Und dann sitzt der weinend 50 | |
| Kilometer entfernt – das ist nicht schön. Auch das Thema Suizidalität ist | |
| schwierig. Man weiß nie sicher, ob sich ein Mensch etwas antut, aber im | |
| persönlichen Kontakt kriegt man einfach mehr mit. Die Horrorvision ist ja, | |
| dass ein Patient sagt, ich bin suizidal und dann den Rechner ausschaltet. | |
| Das möchte ich nicht erleben, da sind Grenzen der Videotherapie. Auch wenn | |
| es um Konfrontationsübungen geht, die in der Verhaltenstherapie gängig | |
| sind. Unangenehme Situationen, die man sonst vermeidet, können starke | |
| Emotionen auslösen. | |
| Haben sich in der letzten Zeit mehr Menschen an Sie gewandt? | |
| Ja, einige sind in den letzten Monaten an ihre Grenzen gekommen. So hatte | |
| eine Patientin schon immer mit Krankheitsängsten zu tun und sieht sich | |
| jetzt bei ihrer Arbeit in Geschäften einer Bedrohung ausgesetzt. Wir haben | |
| nun mal alle unterschiedliche Sicherheitsstandards, die in dieser Situation | |
| plötzlich sehr relevant werden. Und dann kommt auch noch Angst um seinen | |
| Arbeitsplatz dazu, wenn man auf die Einhaltung der Sicherheitsvorkehrungen | |
| hinweist. Für jeden von uns gibt es, glaube ich, eine Lebenssituation, die | |
| zu schwierig wird. Jeden kann man so sehr stressen, dass er Hilfe braucht. | |
| Und in Zeiten der breiten Hygienevorschriften trifft es jetzt die, die zu | |
| Zwangsstörungen neigen. | |
| Genau, wobei ich eher von einer besonderen Angstsensitivität sprechen | |
| würde. Auf der anderen Seite haben sich aber die Patienten, die schon bei | |
| uns in Behandlung waren, tapfer gehalten. Wer alleinstehend und depressiv | |
| ist und dem ich sonst Kontakte und Aktivität empfehle, scheint ja erst | |
| einmal aufgeschmissen. Denn Depressionen gehen oft mit einer | |
| Antriebslosigkeit und sozialem Rückzug einher. Während einer Kontaktsperre | |
| Pläne zu erarbeiten, wie man abends vom Sofa runterkommt, ist schwierig. | |
| Wie sind [3][Menschen mit Depression] dann zurecht gekommen? | |
| Online haben sich unglaublich viele Gruppen gebildet, die Austausch | |
| ermöglicht haben. Oder auch in der Nachbarschaft: Denken Sie daran, als die | |
| Leute plötzlich abends auf dem Balkon Konzerte gemacht haben! Es gab einen | |
| Aufbruch mit Alternativen. Wir haben dann mit den Patienten geguckt, was | |
| sie sowieso schon immer mal machen wollten und welche Angebote, zum | |
| Beispiel für Yoga, es im Internet dazu gibt. | |
| Das heißt, so richtig katastrophal wurde es für niemanden? | |
| Ehrlich gesagt nein. Aber unser Blick ist sehr selektiv. Die | |
| psychotherapeutische Versorgungssituation ist ja sehr schlecht. Auch in | |
| meiner Praxis gibt es eine lange Warteliste, genau wie in unserem | |
| Ausbildungsinstitut. Wir werden also wenig als Notfallkontakt betrachtet. | |
| Menschen mit drohendem Burn-out hat die Situation dagegen bestimmt | |
| geholfen, oder? | |
| Ja. Aber wir alle hatten ja Zeit zum Luftholen. Inzwischen erlebe ich aber, | |
| dass Existenznöte größer werden, gerade im Gastronomie- oder Kulturbereich. | |
| Manche werden vielleicht keine Förderung erhalten und fragen sich, warum | |
| die Lufthansa neun Milliarden Euro bekommt und man selbst an der Krise | |
| verreckt. | |
| Sie sagen, noch viel mehr als ohnehin schon findet online statt. Ist das | |
| eine Chance, weil die Hemmschwelle, daran teilzunehmen, niedriger ist? | |
| Ja, klar, aber auf der anderen Seite auch eine Chance zum Vereinsamen. Und | |
| es gibt noch eine dritte Chance für einen neuen Typ Patient, für den früher | |
| eine Therapie keine Option war, weil er so viel unterwegs ist. Wir werden | |
| nun oft gefragt, ob Termine nicht trotz Dienstreise als Videogespräch | |
| wahrgenommen werden können. Und das geht jetzt. Wie die Kassenärztliche | |
| Vereinigung in Zukunft die Rahmenbedingungen dafür setzt, weiß ich aber | |
| noch nicht. Seit Oktober können 20 Prozent der Leistungen online | |
| stattfinden. Momentan natürlich noch viel mehr. | |
| Wie kann dieses Format auf Dauer funktionieren? | |
| Wir haben in letzter Zeit gemerkt, dass es nach dreimal Videotherapie für | |
| den Verlauf der Therapie sehr sinnvoll ist, den Patienten einmal real zu | |
| sehen. Reine Videotherapie ist nicht die Zukunft, eher ist es eine | |
| Mischung. Bei uns aber äußern Therapeuten und Patienten schon den Wunsch, | |
| zu einem persönlichen Kontakt zurückzukehren – trotz Mehraufwand für die | |
| Patienten. Das finde ich ein bisschen schade. | |
| Wieso? | |
| Weil ich darin neue Möglichkeiten sehe. So gibt es das Konzept der | |
| Blended-Therapie, die noch nicht von der Krankenkasse bezahlt wird. | |
| Digitale Angebote werden mit Persönlichem und Videokontakt verbunden. Dem | |
| Problem der psychotherapeutischen Unterversorgung ließe sich begegnen, wenn | |
| es gelänge, die Zeit der Therapeuten besser zu nutzen, indem zum Beispiel | |
| über eine App in der Verhaltenstherapie ohnehin gängige Hausaufgaben | |
| durchgeführt werden. Nicht für alle, aber für ein paar Patienten wird diese | |
| Therapieform funktionieren. Aber wir werden so oder so den persönlichen | |
| Kontakt brauchen. | |
| 1 Jul 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Alina Götz | |
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