# taz.de -- Psychotherapie in der Pandemie: Warten auf Besserung | |
> Wer in Deutschland einen Therapieplatz sucht, muss oft lange warten. | |
> Gerade in der Pandemie häufen sich die Schwierigkeiten. | |
Bild: Schon auf ein therapeutisches Erstgespräch müssen Betroffene oft wochen… | |
BERLIN taz | Wenn es richtig schlimm wird, erzählt Leo Griese*, denkt er an | |
Wasser. Blaues, in der Sonne glitzerndes Wasser. Wellen am Strand von | |
Mallorca, Urlaub mit seinen Eltern. | |
Griese ist 28 Jahre alt und psychisch krank. Mit 16 wurde er vergewaltigt. | |
Seitdem plagen ihn Flashbacks. Depressionen. Eine Borderline-Erkrankung. | |
Ein Suizidversuch. Grieses Geschichte ist die von Klinikaufenthalten, | |
Psychopharmaka, verschiedensten Diagnosen. Seit November 2019 sucht er nun | |
nach einem ambulanten Therapieplatz in Aachen. Er steht auf Wartelisten und | |
sammelt Absagen. „Ohne Hilfe schaffe ich es nicht“, sagt Griese. Er fühlt | |
sich oft alleingelassen: „Ich suche nach Hilfe, aber bekomme sie nicht, das | |
ist sehr frustrierend.“ | |
Alleine ist er zumindest mit diesem Problem nicht. Die Suche nach einem | |
passenden Therapieplatz ist für viele Menschen in Deutschland schwierig. | |
27,8 Prozent aller erwachsenen Deutschen leiden an einer psychischen | |
Erkrankung. Therapeutische Hilfe suchen sich nur knapp 19 Prozent. | |
Zu dem Kampf gegen den eigenen Kopf kommen auf der Suche weitere | |
Schwierigkeiten: Kassenzulassung? Probatorische Sitzungen? Einzel- oder | |
Gruppentherapie? Tiefenpsychologischer oder systemischer Ansatz? | |
Fachchinesisch, aber notwendige Informationen, um in Deutschland an einen | |
Therapieplatz zu kommen, der zu Person und Erkrankung passt. | |
## 27,8 Prozent der erwachsenen Deutschen leiden an psychischen | |
Erkrankungen | |
Die Situation für Menschen auf der Suche nach einem Therapieplatz ist | |
[1][seit Beginn der Coronapandemie] noch schwieriger geworden. Einer | |
Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung (DPtV) zufolge nahmen in | |
den Praxen die direkten Anfragen nach Psychotherapie seit Beginn der | |
Pandemie um 40 Prozent zu. | |
Aktuell bekommt nur jeder Vierte, der in einer Praxis anfragt, dort auch | |
einen Termin für ein Erstgespräch, hiervon müssen wiederum 38 Prozent | |
länger als ein halbes Jahr auf den Therapiebeginn warten. Bei Kinder- und | |
Jugendtherapeuten ist die Lage ähnlich: Zwar können sie häufiger ein | |
Erstgespräch anbieten, für fast 40 Prozent der Anfragenden kann die | |
Therapie danach erst über ein halbes Jahr später beginnen. | |
Laut Karolina De Valerio vom Münchner Bündnis gegen Depression verstärkt | |
die coronabedingte Isolation depressive Verstimmungen und verschärft die | |
Situation für erkrankte Menschen. So erklärt sie sich den Anstieg der | |
Nachfrage nach psychotherapeutischer Unterstützung. | |
Menschen mit einer psychischen Erkrankung finden oft Sicherheit in einer | |
Struktur, die den Tag prägt und einen Ausgleich schafft. Der Yogakurs jeden | |
Dienstagabend, der Kaffeebesuch am Samstag – solche Rituale können | |
ausgleichend wirken. In der Pandemiezeit fallen sie aber weg. Betroffene | |
müssen eigene Wege finden, ihren Alltag zu strukturieren, sich Auszeiten zu | |
nehmen. Selbst für psychisch gesunde Menschen ist die aktuelle Zeit eine | |
Belastung. Für Depressive kann jedes morgendliche Aufstehen zum Kraftakt | |
werden. | |
## Nachfrage an Therapieangeboten steigt in der Pandemie | |
Selbst wer schon einen Therapieplatz gefunden hat, muss während der | |
Pandemie oft mit eingeschränkten Therapieleistungen kämpfen. Während des | |
ersten Lockdowns wurden viele Therapieangebote komplett ausgesetzt. Mit | |
[2][Videositzungen, die teils als Alternative angeboten werden], tun sich | |
Betroffene oft schwer. Schwierig ist es aber eben auch, überhaupt an einen | |
Therapieplatz zu kommen, und das nicht erst, seit die Nachfrage durch die | |
Belastung, die Corona für viele mit sich bringt, gestiegen ist. | |
Das Versorgungsnetz für psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung | |
in Deutschland ist komplex. Am Anfang steht der Wunsch eines Patienten nach | |
Hilfe. Idealerweise bekommt er einen Termin bei einem Therapeuten für eine | |
Sprechstunde, das sogenannte Erstgespräch. Der Therapeut kann in diesem | |
Erstgespräch den Bedarf für die Therapie klären und eventuell bereits eine | |
Diagnose stellen. | |
Darauf folgen die probatorischen Sitzungen, eine Art weiteres Kennenlernen | |
von Patient und Therapeut. Mit der Diagnose wird auch der Antrag auf | |
Kostenübernahme bei der Krankenkasse gestellt. Die zahlt oft nur für | |
Therapeuten, die eine Kassenzulassung haben. | |
Wie viele Kassensitze es in einer Stadt oder Region gibt, wird in der | |
Bedarfsplanung festgelegt. Diese hängt von zahlreichen Faktoren ab: dem | |
Verhältnis von Therapeuten zu Patienten, der Entwicklung der Bevölkerung, | |
regionalem Sonderbedarf und vielem mehr. Über den Bedarf entscheidet ein | |
Gremium aus Kassenärztlicher Bundesvereinigung, Krankenkassen und | |
unparteiischen Vertretern. | |
## Komplexes Versorgungsnetzwerk | |
Die Deutsche Psychotherapeutenvereinigung weist darauf hin, dass | |
insbesondere im Umland der Städte und im ländlichen Raum viele | |
kassenzugelassene Psychotherapeuten fehlen. 776 neue Kassensitze wurden | |
durch Beschlüsse des gemeinsamen Ausschusses nach 2019 eröffnet, Umfragen | |
zufolge war davor ein Bedarf von 2.400 Plätzen errechnet worden. | |
Dem entgegen stehen Stimmen der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und | |
Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), die für eine | |
bessere Verteilung und Zuordnung der Plätze plädieren. Das Verhältnis von | |
Therapeuten zu Patienten sei in Deutschland unter den Top drei weltweit, | |
sagt Michaela Peeters von der DGPPN, es müsse aber an einer besseren | |
Vernetzung der verschiedenen Angebote gearbeitet werden. | |
Die beschriebenen Probleme sehe man auch in der Beratung, sagt Jann | |
Ohlendorf von der Unabhängigen Patientenberatung Deutschland (UPD). Fakt | |
sei, dass sich viele Menschen an die Beratungsstellen wenden, [3][weil sie | |
nicht mehr weiterwissen]. | |
Wer nicht auf gut Glück einzelne Praxen abtelefonieren möchte, kann auch | |
über die Terminservicestellen der Kassenärztlichen Vereinigung einen | |
Therapieplatz suchen. Die Wartezeit auf ein Erstgespräch ist hier | |
gesetzlich auf maximal fünf Wochen beschränkt. Nur bedeutet diese Sitzung | |
nicht, dass man im Anschluss auch direkt mit der Therapie beginnen kann. | |
## Hoher Bedarf, zu wenige Plätze, lange Wartelisten | |
Viele Therapeuten führen Wartelisten mit Zeiten, die Patienten danach | |
überbrücken müssen, bis die eigentliche Therapie startet. Im Regelfall sind | |
es acht bis zehn Wochen, der Umfrage der Deutschen | |
Psychotherapeutenvereinigung zufolge sogar 15 bis 19 Wochen und seit Beginn | |
der Pandemie noch mehr. | |
Karolina De Valerio nennt bereits die üblichen Wartezeiten von drei bis | |
vier Monaten „erschreckend lange“. Zudem kritisiert sie, dass die | |
offiziellen Vermittlungswege viele Betroffene überforderten. Zu viele | |
Infos, ein zu rauer Umgangston. Außerdem fehle die Beratung, welche Art von | |
Therapie für den jeweiligen Fall angemessen ist. Auch die Frage, ob | |
medikamentöse Behandlung notwendig ist, müsste laut De Valerio viel | |
schneller geklärt werden. | |
Für Menschen, die an einer psychischen Erkrankung leiden, sind all das | |
zusätzliche Hürden. Meistens suchen sich Betroffene ohnehin erst Hilfe, | |
wenn sie bereits sehr tief in der Krankheit stecken. An schlechten Tagen, | |
erzählt Leo Griese, ist ihm selbst ein Toilettengang zu viel. Sich an | |
diesen Tagen stundenlang hinter den Telefonhörer zu klemmen, um Therapeuten | |
abzutelefonieren oder sich durch das Netz an Informationen zu kämpfen, ist | |
für ihn schlichtweg nicht möglich. Also trägt er sich, wie so viele, in die | |
Wartelisten der Therapeuten ein und versucht, die Zeit bis Therapiebeginn | |
so gut es geht herumzukriegen. | |
Viele nutzen Onlineangebote oder -foren zur Überbrückung der Wartezeit. Es | |
gibt mittlerweile ein breites Angebot auch an Telefonsprechstunden, die zur | |
Unterstützung während dieser Zeit gedacht sind. Während Corona wurde das | |
Angebot an Video- und Telefonberatung ausgebaut. Beim Münchener Bündnis | |
gegen Depression gibt es jetzt beispielsweise einen Onlinestammtisch. | |
## Viele suchen erst spät nach Unterstützung | |
De Valerio erzählt, dass die Telefonsprechzeiten des Bündnisses seit Beginn | |
der Pandemie verdoppelt wurden. Bei dem Verein können Betroffene anrufen | |
und erhalten Tipps oder erreichen jemanden am anderen Ende der Leitung, der | |
zuhört und die Erkrankung selbst erlebt hat. | |
Wenn Leo Griese nachts auf seiner Bettkante sitzt, wenn nachts die Bilder | |
zurückkommen, denkt er sich an den Strand zurück, auf Mallorca, mit seinen | |
Eltern. Manchmal, erzählt er, stellt er sich unter die Dusche. „Wasser ist | |
mein Element“, sagt Griese. Er könne sich entspannen, wenn er die Tropfen | |
auf seiner Haut spüre. Wenn die Gedanken unerträglich würden, habe er | |
Bedarfsmedikation zu Hause. Bevor es so weit komme, dass er Psychopharmaka | |
nehmen müsse, versuche er sich abzulenken. Die Strategien hat er während | |
seiner Klinikaufenthalte entwickelt. | |
Allem Stress auf seiner Suche zum Trotz hat Griese das Gefühl, auf dem | |
richtigen Weg zu sein. Demnächst hat er das nächste Gespräch bei einem | |
Therapeuten. Er steckt große Hoffnungen in dieses Treffen und hat | |
mindestens genauso große Angst. „Wenn man sich zu viel erwartet, kann man | |
auch schnell wieder enttäuscht werden“, sagt er. | |
*Name geändert | |
14 May 2021 | |
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## AUTOREN | |
Dajana Kollig | |
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