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# taz.de -- Neue Regelung für Therapie: Die normierte Psyche
> Die Bundesregierung plant, dass künftig vor einer Therapie deren Dauer
> festgelegt wird. Das widerspricht individuellen Bedürfnissen.
Bild: Kann und darf keinen Schablonen entsprechen: die menschliche Psyche
Wer seelisch leidet, braucht professionelle Hilfe. Auf dem Weg dorthin gibt
es [1][eine innere Hürde, sich zu überwinden], und eine äußere: der Zugang
zu einer entsprechenden Therapie. Die zweite Hürde soll nun größer werden.
Das Bundesgesundheitsministerium möchte das sogenannte Gesetz zur
Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG) um eine Regelung
ergänzen, die den Zugang zu Psychotherapie weiter bürokratisieren soll.
Laut einer Formulierungshilfe des Ministeriums für einen entsprechenden
Änderungsantrag, die der taz vorliegt, soll der dafür zuständige Gemeinsame
Bundesausschuss prüfen, „wie die Versorgung von psychisch kranken
Versicherten bedarfsgerecht und schweregradorientiert sichergestellt werden
kann“. Fachverbände lehnen das ab.
„An die Stelle von individueller Diagnose und Behandlung soll künftig in
der Psychotherapie eine Versorgung nach groben Rastern treten“, [2][schrieb
die Bundespsychotherapeutenkammer in einer Pressemitteilung]. Der Bundestag
soll demnächst abschließend über das Gesetz debattieren.
Das Vorhaben wird auch in sozialen Netzwerken unter dem Hashtag
#RasterPsychotherapie heftig kritisiert. Die Änderung bedeutet, dass
künftig nicht mehr die Psychotherapeut*in eine Diagnose stellt und die
Behandlungsdauer innerhalb der auch jetzt schon vorgeschriebenen
Kontingente individuell plant, entlang der Erkrankung der Patient*in und
des Behandlungsverlaufs. Stattdessen soll mit Hilfe eines Rasters schon zu
Beginn der Behandlung festgelegt werden, wie viele Behandlungsstunden
aufgrund einer gestellten Diagnose genehmigt werden.
## Diagnose ist Prozess
Diese Bestimmung ist praxisfern und zeigt, wie wenig das von Jens Spahn
geführte Ministerium von psychischen Erkrankungen und deren Behandlung
versteht. Dabei muss man keine Psychotherapeut*in sein, um zu
verstehen, dass das nicht funktioniert – zumindest nicht im Sinne einer
erfolgreichen Behandlung, wäre doch ein solches Vorgehen auch in der
Organmedizin absurd.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass organische Erkrankungen vielleicht
etwas vergleichbarer sind als psychische Krankheitsverläufe und deren weit
in die Biografie zurückreichenden Ursachen: Es wäre auch in einer
organmedizinischen Behandlung absurd, nach dem Motto „Für Krankheit x
bekommen Sie y Therapieeinheiten, und wenn das Knie dann immer noch
schmerzt, Pech gehabt“ vorzugehen.
Das gilt noch mehr für die psychotherapeutische Behandlung. Nicht selten
steht am Beginn einer Behandlung eine Diagnose, die später erweitert,
verändert oder verworfen wird. Denn die laufende Behandlung und das sich
bildende Vertrauen in die Therapeut*in machen es überhaupt erst möglich,
bisher mit Not und Mühe Vermiedenes zur Sprache zu bringen, sich zu öffnen.
Psychische Probleme benötigen den haltenden Rahmen einer therapeutischen
Beziehung, um bearbeitet werden zu können.
Das erfordert Vertrauen und Vertrauen erfordert Zeit. Gerade wenn das Leben
bisher wenig Anlass zu Vertrauen gegeben hat, wie es oft bei komplexen
psychischen Erkrankungen der Fall ist. Kontraproduktiv für diesen Prozess
ist eine Limitierung nach vorab gestellter Diagnose.
## Arbeit an der Beziehung
[3][Psychotherapie, egal welcher Couleur], ist bei allen Unterschieden
immer auch Arbeit an und in der Beziehung. Diese Art der Arbeit, von der
Patient*innen am meisten profitieren, ist gefährdet bis unmöglich, wenn
zu Beginn schon anhand der Zuordnung zu einer Diagnose entschieden wird,
wie viele Behandlungsstunden überhaupt möglich sind. Einer individuellen
Behandlung wird damit eine entschiedene Absage erteilt und
Retraumatisierung Vorschub geleistet: Schon wieder keine Hilfe, schon
wieder zu wenig Zeit!
Die Idee einer „Rasterpsychotherapie“ zeigt einmal wieder, dass nicht das
Wohl der Patient*innen maßgeblich für die Gesundheitspolitik aus dem
Hause Spahn ist, sondern die möglichst weitgehende Ökonomisierung der
Gesundheitsversorgung. Zudem folgt ein solches Vorgehen einer Logik des
Verdachts. Oder würde eine solche Gesetzesänderung Sinn ergeben ohne die
Unterstellung, Patient*innen würden bisher zu lange behandelt, oder
Psychotherapeut*innen seien nicht kompetent genug, um über die
Behandlungsdauer zu entscheiden?
Die Folgen der Ökonomisierung sollten in ihrer ganzen Problematik
spätestens seit dem letzten Jahr ins Bewusstsein gerückt sein. Die Folgen
der Sparpolitik für die stationäre medizinische Versorgung zeigten sich
dramatisch in der Coronapandemie. In Kliniken, die seit der weitgehenden
Privatisierung des Gesundheitswesens nach Wirtschaftlichkeit zu planen
gezwungen sind, mangelte es an Betten und auch an denjenigen, die die
Patient*innen versorgen.
## Kein Geld, keine Therapie?
Es zeigt sich schon jetzt, dass psychische Erkrankungen [4][aufgrund der
Coronapandemie zugenommen] haben; ein Trend, der sich, so viel ist aus der
Forschung bekannt, noch verstärken wird, wenn die „Normalität“ zurückkeh…
und das Gefühl abnimmt, sich zusammenreißen zu müssen.
Viele belastete Patient*innen erkranken psychisch, wenn die größte
äußere Belastung nachlässt. Ausgerechnet in so einer Situation restriktiv
in die psychotherapeutische Versorgung einzugreifen, zeugt im besten Fall
von Unkenntnis, im schlechtesten von Ignoranz und Zynismus: Wer zukünftig
nicht das Geld hat, eine private psychotherapeutische Behandlung zu
finanzieren, die so lange dauert, wie es erforderlich ist, droht durch
dieses Raster zu fallen.
So zumindest der Plan, der nicht einmal ökonomisch Sinn ergeben würde, da
nicht behandelte psychische Leiden häufig zu Arbeitsunfähigkeit führen und
wiederum Kosten verursachen würden. Vielleicht liegt ja auch für diese
Problemlage schon die nächste Ergänzung eines schon im Bundestag beratenen
Gesetzes bereit.
20 May 2021
## LINKS
[1] /Psychotherapie-in-der-Pandemie/!5764026
[2] https://www.bptk.de/keine-raster-behandlung-in-der-psychotherapie/
[3] /Therapeutin-ueber-Corona-Depressionen/!5763046
[4] /Psychologin-ueber-die-Coronakrise/!5672710
## AUTOREN
Christine Kirchhoff
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