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# taz.de -- Spahns Rasterpsychotherapie: Vorstoß vor dem Aus
> Die Idee des Gesundheitsministers, psychotherapeutische Leistungen
> stärker zu normen, läuft wohl ins Leere. Grundlegende Probleme aber
> bleiben.
Bild: Die Rasterpsychotherapie von Gesundheitsminister Jens Spahn ist erneut ge…
Berlin taz | Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ist erneut damit
gescheitert, die Entscheidungshoheit von Psychotherapeuten bei ihrer
Therapie zu beschneiden. Sein neuer Vorschlag, spezifischen Diagnosen
kategorisch eine feste Anzahl an Behandlungsstunden zuzuweisen, steht nach
massiver öffentlicher Kritik offenbar vor dem Aus.
Schon lange plant das Gesundheitsministerium das umfassende Gesetz zur
Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (GVWG). Es soll in der
kommenden Woche beschlossen werden. Doch erst vor wenigen Wochen reichte
der Gesundheitsminister zusätzliche Änderungsanträge ein.
Oppositionspolitiker*innen kritisieren dieses Vorgehen, da sie so
„in letzter Minute ohne öffentliche Anhörung in dieses eingefügt“ würde…
wie es Silvia Gabelmann von der Linken gegenüber der taz ausdrückt.
Einer dieser Änderungsanträge beschäftigt sich mit der Psychotherapie.
Diese solle zukünftig „bedarfsgerecht und schweregradorientiert“
organisiert werden. Hinter dieser für Laien harmlos wirkenden Formulierung
„verstecke sich jedoch eine Beschneidung der bisherigen
Psychotherapie-Leistungen“, [1][erklärt die Deutsche Psychotherapeuten
Vereinigung (DPtV)]. Die Verbände der Psychotherapeut*innen lehnen
den Vorstoß daher als unnötigen Eingriff in die Entscheidungshoheit der
Behandelnden mit Verweis auf bestehende Kontrollinstanzen geschlossen ab.
Bedarfsgerecht und schweregradorientiert sei die Behandlung schon längst.
Kirsten Kappert-Gonther, Obfrau der Grünen im Gesundheitsausschuss,
schließt da an und wirft Spahn „ein tiefes Misstrauen gegenüber den
behandelnden Psychotherapeut*innen“ vor. Denn der aktuelle Vorstoß ist
nicht der erste Versuch des Gesundheitsministers, die
Entscheidungskompetenz der Behandelnden zu beschneiden.
## Gesellschaftliche Stigmatisierung und bürokratische Hürden
[2][Bereits 2018] sollte der Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen
neu strukturiert werden. Damals sollte der Therapie eine weitere Instanz
der Beurteilung vorgelagert werden. Eine Petition mit über 200.000
Unterschriften stand damals an der Spitze der öffentlichen Entrüstung – und
Spahn musste sein Vorhaben Anfang 2019 zurückziehen.
Damals wie heute werden die Reformen der Psychotherapie mit den langen
Wartezeiten auf einen Therapieplatz begründet. Von denen kann Uwe Hauck aus
eigener Erfahrung berichten. Vor einem Suizidversuch musste er ein Jahr
warten, bis er einen Therapieplatz fand. Als er dann mit der Behandlung
anfangen konnte, war es eigentlich schon zu spät: „Kurze Zeit später habe
ich versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich glaube heute, eine frühere
Therapie hätte das verhindern können.“ Seitdem arbeitet er als Autor und
Aktivist für die Anerkennung und Versorgung psychischer Erkrankungen.
Für ihn ist das größte Problem, dass sich viele wegen ihrer psychischen
Erkrankungen nicht therapieren ließen. In Deutschland sind jährlich etwa
[3][28 Prozent der Bevölkerung] von psychischen Erkrankungen betroffen,
aber nur 10 Prozent werden behandelt. Die Gründe dafür lägen vor allem in
der gesellschaftlichen Stigmatisierung und in den bürokratischen Hürden.
Zwar würde die öffentliche Wahrnehmung zunehmend sensibilisiert, doch im
privaten Bereich seien die Fortschritte noch geringer. Sein langfristiges
Ziel ist es, „dass psychische Krankheiten irgendwann im Alltag wie jede
andere Krankheit behandelt werden und es ganz normal ist zu sagen: Ich habe
Depressionen.“ Da sei der aktuelle Vorstoß ein deutlicher Schritt in die
falsche Richtung.
Die geplante Änderung wird als ‚Rasterpsychotherapie‘ bezeichnet. Nicht die
individuellen Bedürfnisse und Probleme der Patient*innen wären hier
entscheidend, sondern in welches Raster sie fallen, in welche Schublade sie
gesteckt werden. Jedes Raster wäre eine klar definierte Diagnose und ginge
mit einer genauen Behandlungsdauer einher. Dabei ist völlig klar, dass
jede*r eine ganz individuelle Psyche hat.
In der taz erklärt Christine Kirchhoff, [4][Professorin für Psychoanalyse]
in Berlin, daher, wie die therapeutische Praxis damit umgeht. „Nicht selten
steht am Beginn einer Behandlung eine Diagnose, die später erweitert,
verändert oder verworfen wird. Das erfordert Vertrauen und Vertrauen
erfordert Zeit.“ Die Absurdität einer nach Rastern festgelegten Stundenzahl
beschreibt auch Uwe Hauck bildlich: „Ein Arzt hört auch nicht mitten in der
Operation am Herzen auf, weil die Zeit abgelaufen ist.“
Unterstützung bekommt das Gesundheitsministerium öffentlich nur von den
Krankenkassen. Laut [5][Neues Deutschland] begrüßen sie die vorgeschlagene
Regelung, die zu einer schnelleren Vergabe neuer Therapieplätze führen
würde. Diese Argumentation läuft also auf eine kurzfristige
Kosteneinsparung durch verkürzte Therapien hinaus.
Eine Logik, die für Christine Kirchhoff im Kontext einer „möglichst
weitgehenden Ökonomisierung der Gesundheitsversorgung“ steht. Diese
Ökonomisierung ginge auf Kosten der Patient*innen, deren psychische
Gesundheit darunter leide. Das sei selbst ökonomisch wenig sinnvoll, denn
langfristige Erkrankungen führen unter anderem auch zu Arbeitsausfällen.
Unter dem Hashtag #RasterPsychotherapie haben Betroffene wie Therapierende
jetzt ihren Ärger deutlich ausgedrückt. Um gegen die drohende
Rasterpsychotherapie zu protestieren, [6][initiierte Uwe Hauck eine
Petition] und erhielt eine überwältigende Unterstützung.
Unter anderem rufen die Verbänden der Psychotherapeut*innen und der
Deutschen Depressionsliga dazu auf, die Petition zu unterschreiben. Auch
Prominente wie Nora Tschirner oder Torsten Sträter, die öffentlich mit
ihrer Depression umgehen, unterstützen die Petition. Diese hat in nur zwei
Wochen – wie schon vor 2 Jahren – fast 200.000 Unterschriften gesammelt und
– ebenfalls wie vor 2 Jahren – nun zum Ende der Spahn'schen Reformpläne
beigetragen.
## Grundlegende Probleme bleiben ungelöst
Denn neben den Grünen und der Linken verwehrt auch die SPD als
Regierungspartei ihre Zustimmung zum Änderungsantrag. Sabine Dittmar,
Gesundheitspolitische Sprecherin ihrer Fraktion, erklärt gegenüber der taz,
dass der Änderungsantrag von Spahn mit ihrer Partei weder inhaltlich
diskutiert noch abgestimmt worden wäre. Sie betont: „Wir halten ihn nicht
für zielführend im Sinne der besseren Versorgung psychisch kranker
Patientinnen und Patienten und lehnen diesen Vorstoß daher ab.“
Da das Vorhaben nicht ohne die SPD durchgesetzt werden kann, heißt es
jetzt, das Ministerium ziehe den Antrag zur Rasterpsychotherapie zurück.
Offiziell wollte ein Sprecher des Gesundheitsministeriums das der taz
jedoch noch nicht bestätigen und verwies lediglich darauf, dass sich
momentan „die Diskussion auf andere Themen“ konzentriere.
Die Reaktionen auf das schnelle Ende der Rasterpsychotherapie sind von
Erleichterung geprägt. Die grundlegenden Probleme der Versorgung bleiben
allerdings ungelöst. So fordert der Vorsitzende der DPtV angesichts der
Pandemie eine „schnelle und unbürokratische Hilfe für psychisch Erkrankte�…
Auch Sylvia Gabelmann von der Linken begrüßt das Ergebnis, fordert aber
auch: „Psychische Gesundheit muss einerseits durch eine umfassendere und
vielfältigere psychotherapeutische Versorgung, andererseits durch
präventive Maßnahmen in der Berufs- und Lebenswelt der Menschen gefördert
werden.“
Was also bleibt von dem Streit um die Psychotherapie? Zum einen die
Erkenntnis, dass auch sie zunehmend von der Ökonomisierung des
Gesundheitssektors geprägt ist und so weiter unter Druck gerät,
kosteneffizienter nach wirtschaftlichen Kriterien geführt zu werden. Zum
anderen, dass der Weg zu einer Gesellschaft, die Betroffene psychischer
Erkrankungen anerkennt und ihnen die individuell notwendige Behandlung
gewährt, noch ein weiter ist. Uwe Hauck ist ebenfalls vorsichtig
optimistisch, blickt aber schon wieder nach vorne: Gemeinsam mit der
Depressionsliga arbeitet er daran, langfristig ein Gegengewicht zur
Ökonomisierung der Psychotherapie zu installieren.
3 Jun 2021
## LINKS
[1] https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/index.php?eID=dumpFile&…
[2] /Zuweisung-von-Psychotherapie-Plaetzen/!5554325
[3] https://www.deutschepsychotherapeutenvereinigung.de/index.php?eID=dumpFile&…
[4] /Neue-Regelung-fuer-Therapie/!5767804
[5] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1152223.psychotherapie-zweiklassenbehandl…
[6] https://www.change.org/p/jens-spahn-keine-rasterpsychotherapie
## AUTOREN
Christoph Sommer
## TAGS
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