Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Fettverteilungsstörung Lipödem: Krank, nicht dick
> Die chronische Krankheit Lipödem wird oft spät diagnostiziert. Einfach
> abnehmen hilft bei der Fettverteilungsstörung nicht.
Bild: Tückische Fettzellen
„Ich konnte mir zum Schluss nicht mal mehr meine Haare föhnen, weil es zu
schmerzhaft war, meine Arme hoch zu machen“, erinnert sich Danielle
Dörsing. Die 25-Jährige ist an Lipödem erkrankt. Wie Dörsing geht es fast
jeder zehnten Frau in Deutschland. Und dennoch wird das Lipödem von
Ärzt:innen häufig nicht erkannt.
Das Lipödem ist eine chronische Erkrankung, an der fast ausschließlich
Frauen erkranken. Sie äußert sich durch eine krankhafte Verteilungsstörung
des Unterhautfettgewebes. [1][Allein in Deutschland sind rund 3,8 Millionen
Personen betroffen] – doch die Dunkelziffer wird deutlich höher
eingeschätzt. Denn die Krankheit wird oft falsch oder gar nicht
diagnostiziert. Und selbst wenn es zu einer Diagnose kommt, folgt nicht
automatisch eine effektive Behandlung. Denn dieser stehen nicht nur
fehlende Expertise, sondern häufig auch die Krankenkassen im Weg.
Die Erkrankten leiden unter stark geschwollenen Extremitäten. Besonders
häufig sind etwa die Beine oder Arme betroffen. Diese sind besonders
druckempfindlich und lösen dadurch starke Schmerzen aus. Auch Dörsing
leidet an den kranken Fettzellen, die sich unkontrolliert vermehren.
„Ich habe mich immer gefragt, warum mein Körper und besonders meine Beine
und Arme so anders aussehen als die der weiblich gelesenen Personen, die
ich kenne“, erinnert sich Danielle Dörsing. Ähnliche Körper kannte sie nur
von ihrer Mama und ihrer Oma. Auch sie sind an Lipödem erkrankt, haben von
der Krankheit allerdings erst durch die Diagnose ihrer Tochter und Enkelin
erfahren.
Das Lipödem kann familiär vererbt und weitergegeben werden, erklärt Björn
Krüger, Chefarzt an einer Fachklinik für Lipödem-Chirurgie. „Man hat eine
genetische Fehlfunktion der Hormonumwandlung des Progesterons gefunden. Die
typischen Symptome der Erkrankung treten häufig bei hormonellen
Veränderungen auf“, so Krüger. Das kann etwa während der Pubertät oder ei…
Schwangerschaft der Fall sein.
2019 ändert sich die Sicht der damals 22-Jährigen auf ihren Körper
schlagartig. Dafür verantwortlich: ein Post auf Social Media. „Ich saß auf
meinem Sofa, als ich bei Instagram eine Frau in Unterhose sah, die genau
den gleichen Körperbau wie ich hatte“, erzählt sie. „Der Post war nicht
sonderlich lang, aber hat die Symptomatik der Erkrankung perfekt
zusammengefasst“, so Dörsing. Vor allem die Schmerzen, die blauen Flecken,
aber auch die absoluten Disproportionen. All das Leid, das die Studentin
täglich aushalten musste – beschrieben von einer anderen Person.
Die Symptomatik wird greifbar. Dörsing beginnt sofort, sich über die
Krankheit zu informieren. Und verschafft sich Zugang zu Fachbüchern.
Schnell merkt sie, wie wenig Informationen es über die Krankheit gibt. Die
heute 25-Jährige gibt sich damit nicht zufrieden, will Klarheit. Sie will
wissen, was mit ihr los ist. Und auch, was sie gegen ihre Krankheit
unternehmen kann.
„Und dann saß ich bei meinem 65-jährigen Hausarzt und habe versucht zu
erklären, dass irgendwas mit mir nicht in Ordnung ist. Doch er hat nur
gesagt: ‚Dann nehmen Sie doch einfach mal ab‘“, erzählt sie. Diese
Fehldiagnosen und Fehleinschätzungen sind fatal, findet Björn Krüger. „Die
jungen Frauen werden dann in die ‚Adipositas-Ecke‘ gestellt. Ganz nach dem
Motto: Du musst jetzt endlich mal eine Diät machen und mehr Sport treiben,
dann geht das schon weg. Häufig ist dies die falsche Diagnose und die
falsche Therapieempfehlung“, sagt der Experte. Hinzu komme, dass das
Lipödem extrem diät- und sportresistent sei.
Wenn Dörsing an diese Zeit denkt, ist ein Gefühl besonders präsent: der
ständige Druck, endlich abzunehmen. „Die Ärzt*innen haben mir gespiegelt,
dass ich selbst dafür verantwortlich sei, dass ich in dieser Situation bin
und da auch selbst wieder rauskommen muss“, erzählt sie. Doch Dörsing kann
da nicht ohne medizinische Hilfe raus.
Mit 22 Jahren durchläuft Dörsing einen Marathon an Ärzt*innenbesuchen,
Wartezeiten und Fehldiagnosen. Nachdem sie ihr Hausarzt zu einem Angiologen
– einem Spezialisten für Gefäße – überweist, bringt auch dieser keine
Klarheit. In der Zwischenzeit nimmt Dörsing 20 Kilogramm ab. Gesundes Fett,
wie sie erzählt: „Denn das vom Lipödem erkrankte Fett kann nicht abgenommen
oder durch Sport und Diät reduziert werden.“ Dörsing entwickelt in dieser
Zeit eine Essstörung. Durch den ständigen Druck, abnehmen zu müssen, um
vermeintlich gesund zu werden.
Die Psychotherapeutin Gabriele Erbacher forscht zur psychischen Situation
von Frauen mit Lipödem-Syndrom. „Die Ergebnisse unserer Studie zur Rolle
der Psyche bei Lipödem und Schmerz zeigen, dass 80 Prozent der Patientinnen
mit ärztlich gesicherter Diagnose Lipödem-Syndrom eine gravierende
psychische Belastung aufweisen“, sagt sie. Wichtig sei, dass diese
Belastung bereits vor der Entwicklung der Lipödem-Schmerzen bestehe.
Besonders zentral sei die Rolle von Informationen. „Zu Beginn ist gute,
wissenschaftlich fundierte ärztliche Information wesentlich, damit die
betroffenen Frauen erfahren, was ein Lipödem ist – und vor allem auch, was
es nicht ist“, sagt Erbacher.
Erst ein Besuch beim Phlebologen bringt für die 22-Jährige noch im selben
Jahr die langersehnte Diagnose: Lipödem in Stadium 2. Er brauchte dafür
nicht viel, erinnert sie sich. Hose aus, abtasten und fünf Fragen aus einem
Fragenkatalog: Haben Sie schnell blaue Flecken? Haben Sie das Gefühl, dass
Ihre Beine abends schwerer sind als morgens? Haben Sie das Gefühl, dass Sie
Wasser in Ihrem Körper eingelagert haben? Haben Sie das Gefühl, dass Sie
generell schnell erschöpft sind. Haben Sie stechende Schmerzen? Fünf
Fragen, die Dörsing mit einem beherzten Ja beantwortet. Mehr brauchte es
nicht. Dörsing ist froh, ihre Diagnose im Verhältnis zu anderen Betroffenen
noch relativ früh bekommen zu haben.
Eines der großen Probleme der Krankheit: Sie bleibt oft unentdeckt.
Ärzt*innen erkennen sie in vielen Fällen nicht oder diagnostizieren sie
falsch. Dabei gibt es eine ICD-Nummer, in der das Lipödem in seinen drei
Stadien beschrieben wird. Dennoch lautet die häufigste Fehldiagnose:
Adipositas. Doch selbst mit Diagnose ist eine gute Behandlung nicht
selbstverständlich.
Behandelt werden die Schmerzen meist zunächst mit Kompressionsstrümpfen.
Dadurch wird die Stauung und Schwellung etwa an Beinen behandelt, das
vermehrte Fettgewebe wird aber nicht gesünder. Auch Dörsing bekommt
Stützstrumpfhosen verschrieben. Diese helfen ihr zwar etwas, nehmen jedoch
nicht den immer stärker werdenden Schmerz. Auch Schmerzmittel helfen nicht
mehr. Die Schmerzen schränken ihren gesamten Alltag ein. Das Treppensteigen
fällt schwer. Sie kann nicht mehr knien, weil ihre Beine wehtun.
Schnell wird Dörsing klar: So kann es nicht weitergehen. Sie entscheidet
sich für eine Operation, die sogenannte Liposuktion. Ein operatives
Verfahren, bei dem die kranken Fettzellen mit Kanülen abgesaugt werden.
Auslöser für die Entscheidung sind die Worte in einer Fachklinik: Wenn das
so weiterwächst, dann wirst du in 15 Jahren im Rollstuhl sitzen. Dann
werden die Schmerzen und Schwellungen zu stark sein, um laufen zu können,
wurde ihr dort gesagt.
Dörsing bringt zwei Operationen hinter sich. Bei der ersten werden ihr zehn
Liter krankes Fett entfernt, bei der zweiten noch einmal fünf. Die Kosten
für die Operation muss sie selbst zahlen. Sie belaufen sich auf knapp
11.000 Euro. Auch wenn sie dadurch nicht geheilt ist, kann sie aktuell ein
schmerzfreies Leben führen. Die operative Behandlung habe einen festen
Stellenwert in der Lipödemtherapie, erklärt Björn Krüger. Das sei wichtig,
da durch die Liposuktion das veränderte Gewebe effektiv und endgültig
entfernt werde.
Dabei ist der Eingriff nicht unumstritten. [2][Psychotherapeutin Gabriele
Erbacher erwähnt hier den Nice-Report zur Liposuktion,] einen Bericht des
National Institute for Health and Care Excellence. In dieser Studie heiße
es, die Evidenz für die Sicherheit und Wirksamkeit der Liposuktion ist
unzureichend. Es sei also wichtig, die Indikation für eine Liposuktion sehr
sorgsam zu stellen, sagt Erbacher.
Das Problem für Patientinnen, die sich für eine operative Therapie
entscheiden, sind die hohen Kosten. Eine Kostenübernahme durch die
gesetzlichen Krankenkassen geschieht nur unter bestimmten Bedingungen. Es
muss ein Stadium 3 vorliegen und mindestens ein halbes Jahr die
konservative Therapie durchgeführt worden sein. Und es braucht einen BMI
unter 40. „Im Stadium 3 ist das aber fast unmöglich“, erklärt Krüger. Gr…
seien die vielen kranken Fettzellen. Zum einen, weil sie das Gewicht massiv
beeinflussen. Zum anderen, weil die Schmerzen etwa Bewegung stark
verhindern, weshalb eine durch das Lipödem verursachte Adipositas als
Begleiterscheinung auftreten kann.
„Wenn man anfängt, mit Leuten darüber zu reden, sind sie immer geschockt.
Dann ist man auf einmal nicht mehr die dicke Frau, die einfach faul ist“,
sagt Dörsing. Sie wünscht sich ein Umdenken. „Ich denke, es ist wichtig,
dass sich Frauen, die daran erkrankt sind, zusammenschließen, und dass wir
alle anfangen, über diese Geschichten zu sprechen“, sagt sie.
Wie wichtig das ist, zeigt Dörsings eigene Geschichte. Denn nur weil eine
Betroffene ihre Erfahrung geteilt hat, ist Dörding auf die Suche nach
Antworten gegangen.
8 Jan 2023
## LINKS
[1] https://www.phlebology.de/patienten/venenkrankheiten/lipoedem/
[2] http://www.lipoedemportal.de/lipoedem-krankheitsbild-diagnose.htm
## AUTOREN
Larena Klöckner
## TAGS
Adipositas
psychische Gesundheit
Depression
Magersucht
## ARTIKEL ZUM THEMA
Spahns Rasterpsychotherapie: Vorstoß vor dem Aus
Die Idee des Gesundheitsministers, psychotherapeutische Leistungen stärker
zu normen, läuft wohl ins Leere. Grundlegende Probleme aber bleiben.
Der Darm und die Psyche: Probiotika statt Antidepressiva?
Psyche und Darmflora hängen zusammen. Zwar wird zur Darm-Hirn-Achse
geforscht, Therapien oder Ernährungstipps sind in weiter Ferne.
Kampf gegen die Magersucht: Der Feind auf dem Teller
Perfekt sein, das bedeutet für Pia dünn sein. Also beginnt sie zu hungern.
Nun kämpft sie in einer Psychiatrie gegen ihre Essstörung.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.