Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kampf gegen die Magersucht: Der Feind auf dem Teller
> Perfekt sein, das bedeutet für Pia dünn sein. Also beginnt sie zu
> hungern. Nun kämpft sie in einer Psychiatrie gegen ihre Essstörung.
Bild: Pia hatte beim Kochen Angst, dass Fett in ihren Mund spritzen könnte. Si…
GÖPPINGEN taz | Pia hat beim Kochen Angst davor, dass Fettspritzer in ihren
Mund kommen. Dass das Fett nie wieder ihren Körper verlässt. Der schwarze
enge Pullover, den sie trägt, verschluckt die letzten Konturen ihres
Körpers. Pia wiegt 47 Kilo. Im Spiegel sieht sie einen zu dicken Teenager.
Das Fachwort für diese krankhafte Wahrnehmung heißt Körperschemastörung.
Viele dieser Wörter musste sie in den letzten vier Monaten lernen. Auch den
Namen ihrer Diagnose: Anorexie.
Pia ist 13 Jahre alt und heißt eigentlich nicht Pia. Sie hasst Essen so
sehr, dass ihre Eltern ihre Tochter der Psychiatrie anvertraut haben. „Wenn
Pia nichts isst, schnürt es mir den Hals zu. Und dem Papa auch“, sagt Pias
Mutter. An diesem Tag darf Frau Orth ihre Tochter im Klinikum Christophsbad
Göppingen besuchen, eine Stunde entfernt von Stuttgart; auch ihr Name ist
geändert. Oft ringt die Mutter beim Sprechen um Atem.
Die Stimme der Magersüchtigen klingt müde, als sie in einem Therapiezimmer
beginnt, vom Alltag auf der Station zu erzählen. Essenspläne und
Sportverbot. Das Handy gibt es nur 30 Minuten am Tag. Ihre Familie darf sie
nur selten besuchen.
Zweimal in der Woche kämpft sie auf der Station gegen die Anorexie in
Einzel- und Gruppentherapie an. Auch im Afrika-Zimmer. Ein bunt bemaltes
Transparent hängt dort an der Wand, es zeigt eine Savanne. In einer mit
weißen Fliesen verputzten Ecke ist ein Waschbecken zum Desinfizieren
montiert. Eine schwarze Wanduhr gibt die Zeit an. Ohne den knallig gelben
Sonnenuntergang auf dem Transparent könnte der Raum nicht ernster wirken.
Genauso wie die metallenen Stufen, die hoch zur Station im ersten Stock der
Klinik führen.
## Ein Viertel der Betroffenen überlebt die Magersucht nicht
Bei ihrer Einlieferung unterschreibt Pia einen Vertrag mit der Klinik.
Sieben Kilo muss sie zunehmen. „Ich kann jetzt verstehen, dass das Hungern
unsinnig ist. Aber ich kann mein Verhalten damals schon noch verstehen“,
sagt Pia unsicher.
Der Hälfte aller Patienten mit Anorexie kann dauerhaft geholfen werden,
sagt der behandelnde Chefarzt Dr. Markus Löble. Er kennt die Statistik gut.
Auch die dunklen Zahlen: Ein Viertel überlebt die Magersucht nicht. Ein
weiteres Viertel der meist weiblichen Patienten hat ein Leben lang Probleme
mit der Sucht.
Vor dem vielen Reden in der Psychiatrie war die Schülerin fest davon
überzeugt, dass sie Essen nicht verdient hat. Richtig erklären kann sie
sich das auch jetzt nicht. Eigentlich wollte sie zu Hause nur ein bisschen
ordentlicher sein. So wie die große Schwester, die ihr Zimmer immer schön
aufgeräumt hat. Schon immer war Pia mit eine der Klassenbesten. Eine
Perfektionistin. Selbst als sie nur noch knapp 40 Kilogramm wiegt, schreibt
sie Bestnoten. In ihrer Handschrift steckt dieselbe Sorgfalt wie in ihrem
Pferdeschwanz. Ihre Vorstellung von Perfektion setzt Pia gegen ihre Familie
durch. Solange, bis es krank wird.
Pia liest sich Tipps zum Abnehmen aus Fernsehzeitschriften und der Bravo
an. Treibt zehn Stunden Sport pro Woche. Ihre Freundinnen sind besorgt.
Doch sie wollen keinen Streit anfangen. In der Klinik ist am Kopfende ihres
Betts ein Foto mit ihrer Fußballmannschaft. Auch hier trägt sie die Haare
zurückgebunden. Dunkle Augenbrauen stechen aus ihrem fahlen Gesicht hervor.
Die Anorexie ist ihr anzusehen. Anders als früher hilft ihr der
Perfektionismus jetzt in der Psychiatrie. Sie erfüllt die Bedingungen und
nimmt genau sieben Kilo zu.
## Salatblätter auf dem Teller zurecht schieben
Aber sie weiß noch genau, wie es sich damals anfühlte, sich gegen das Essen
zu wehren. Wie sie Salatblätter auf dem Teller so zurecht schieben muss,
dass es nach einer großen Mahlzeit aussieht; Kokosnussöl statt normalem Öl
zu benutzen; heiße Milch statt Kakao zu trinken; noch lieber heiße Milch
statt einer Mahlzeit zu trinken. „Das Essen war für mich so ein krasser
Feind. Es war die Hölle“, sagt Pia.
Als sie ihre Mitpatienten dann das erste Mal beim Frühstücken beobachtet,
ist sie verwirrt. Sie kann nicht glauben, dass die anderen wirklich so viel
essen und dabei nicht zunehmen. Sie selbst trinkt da noch Fresubin. Eine
Trinknahrung die 300 Kalorien enthält. Heute beim Frühstück kümmert sie
sich ganz selbstverständlich um die Einhaltung ihres Essplans.
Die gedeckte Tafel grenzt an den dämmerig beleuchteten Stationsflur. Ein
Junge löst neben dem Essen Rätsel, die ihm ein Betreuer stellt. Er ist hoch
intelligent und manchmal aggressiv. Der Chefarzt Dr. Löble isst mit und
beobachtet. Ohne weißen Kittel und Rezeptblock neben dem Teller, sondern in
einem dunkelblauen Poloshirt. Darin zeichnet sich ein gemütlicher
Bauchansatz ab. Väterlich reicht er Brötchen. Es gibt Marmelade;
vegetarische Brotaufstriche. Vergleichen kann sich Pia beim Essen nur mit
Patienten, die nicht an Essstörungen leiden.
Nach dem Frühstück verteidigt Dr. Löble sein buntes Klinikkonzept; eine
Spezialisierung hielte er nicht für sinnvoll. Das Büro des Chefarztes ist
durch eine abgeschlossene Tür am Ende des Stationsflurs und eine Sekretärin
im Vorzimmer abgegrenzt. „Zehn Anorexien auf einer Station, das halten auch
wir nicht durch. Die gucken dann, wer am besten die Waage bescheißen kann.“
Sein Haar hat sich über die Jahre zurückgezogen. Sein Ernst nicht. Der
schwingt gerade dann mit, wenn er über die ersten Momente von Pias
Einweisung redet.
## Der Arzt droht mit Zwangsernährung
Am Anfang ihres Aufenthalts im November verliert die Patientin weitere 300
Gramm. 39,9 Kilogram wiegt ihr Körper da nur noch. Dr. Löble droht, Pia zum
Essen zu zwingen. Ihr eine Nasensonde zu legen. Durchschnittlich zweimal im
Jahr macht der Doktor mit seiner Drohung ernst. Sonst warnt er nur.
Körperliche Gewalt übe er nicht aus. „Ich dachte, davon stirbt man ja
nicht, wenn man keinen Hunger hat“, erzählt Pia später während der
Besuchszeit ihrer Mutter.
Dass Frau Orth ihre Tochter heute sehen darf, ist nicht selbstverständlich.
Denn anfangs hat Pia noch ein absolutes Besuchsverbot. Sobald Frau Orth die
30 Minuten mit dem Auto zum Klinikum fährt, gehen ihr dieselben Gedanken
durch den Kopf: „Ich habe immer Bauchweh. Weil ich nicht weiß, was heute
wieder auf mich zukommt.“
Wenn nichts mehr geht, fängt Frau Orth an zu laufen. Abends nach dem
Schaffen, wie die Baden-Württembergerin es sagt. Die schlanke Mutter dreier
Kinder trägt ihr halblanges Haar offen. Anders als ihre Tochter.
Verunsichert sitzen sich beide in der sonst leeren Gemeinschaftsküche
gegenüber.
Pia hat ihre Mutter hierhergeführt und sich gegen das Afrika-Zimmer
entschieden. Gegen die schwarze Uhr, die dort hängt und genau anzeigen
würde, wann die Besuchszeit vorbei ist. Die Küche ist sonnendurchflutet.
Fast wünscht man sich, die Augen zukneifen zu können. Nur um für einen
Moment den traurigen Gesichtszügen von Pia, aber vor allem denen von Frau
Orth zu entkommen. Doch die Februarsonne blendet nicht stark genug.
## Pia will kein Muggaseggele
Viel Programm hat Pia heute noch nicht gehabt. Nach dem Frühstück löst sie
in der Klinik-Schule ein paar Matheaufgaben. Später backt sie einen
Hefezopf. Das macht sie jetzt wieder gern. Noch kurz vor dem Aufenthalt in
der Psychiatrie hat die Magersüchtige Angst, dass sie ihre Hefezöpfe
aufessen muss. Aber jetzt ist erst mal Mama da. „Unsere Familie ist so
stark zusammengewachsen. Wir waren schon vorher eine tolle Familie, aber
jetzt . . . Es ist Wahnsinn“, schwärmt Frau Orth.
Dann erzählt sie von früher. Von den Samstagen daheim. Vor Pias
Klinikaufenthalt saß die ganze Familie dann immer zusammen am
Frühstückstisch. Außer Pia. Die tat so, als würde sie schlafen. Für Pia war
der Samstag der schlimmste Tag in der Woche, wenn der Papa gescheit essen
will. Pias Sorgen schwellen dann in ihrem Bauch wie ein Hefezopf an, kurz
bevor er in der Backform überquillt.
Ihre Mutter versucht sie damals um elf Uhr aus dem Zimmer zu bekommen.
„Wenigstens ein Muggaseggele!“ Wenigstens ein kleines bisschen, so sagt man
in Baden-Württemberg. Eines Abends eskaliert der Konflikt. Alle
Versprechungen von Pia, morgen endlich vernünftig zu essen, glauben die
Eltern nicht mehr. „Das wurde immer schlimmer und immer schlimmer. Am
Schluss hat sie am Tag vielleicht noch 300 Kalorien zu sich genommen“, sagt
Frau Orth.
Pia korrigiert: 600 Kalorien seien es am Tag gewesen. „Sagst du“, sagt die
Mutter. Pia schüttelt den Kopf. „Es war so.“ Ihre Worte klingen nun wieder
so, als wären sie zu einem strengen Zopf geknotet. Als Mutter und Tochter
zum Schluss doch die Tränen nicht mehr halten können, ist es Pia, die nach
der Hand ihrer Mutter greift und sie festhält.
## „Ich hab Angst, ich gebe es zu.“
Draußen ist es trübhell geworden. Die Besuchszeit ist gleich zu Ende. Dann
wird Pia wieder in ihrem kleinen Zimmer liegen, das sie sich mit einer
Patientin teilen muss. In ihrem Bett ist sie umgeben von all den Fotos mit
Menschen, die zu ihr halten. Am kommenden Wochenende darf Pia das erste Mal
seit Monaten wieder bei ihrer Familie übernachten. Frau Orth freut sich
nicht besonders: „Ich hab Angst, ich gebe es zu.“ Sechs Wochen muss Pia
ihre 47 Kilos jetzt noch halten.
„Irgendwann erzählt sie das hier alles ihren vielen Kindern!“, platzt es
aus Frau Orth plötzlich mit schwäbischem Dialekt raus. Pia lacht kurz auf.
In ihrer Fantasie hat Frau Orth sich die Zukunft ihrer Tochter ausgemalt;
fünf Enkelkinder und ein Bauernhof mit vielen Tieren gehören dazu. „Drei
Kinder, aber keinen Bauernhof“, wehrt sich die 13-Jährige. Vielleicht
möchte sie auch in Berlin leben. Und Polizistin werden. Beide lächeln. Pia
wünscht sich, nicht mehr ständig ans Essen denken zu müssen. In manchen
Augenblicken gelingt ihr das schon.
5 Apr 2016
## AUTOREN
André Beinke
## TAGS
Magersucht
Essstörungen
Teenager
Adipositas
Essen
Magersucht
Google
Magersucht
Schönheitsideale
Model
Schwerpunkt Frankreich
## ARTIKEL ZUM THEMA
Fettverteilungsstörung Lipödem: Krank, nicht dick
Die chronische Krankheit Lipödem wird oft spät diagnostiziert. Einfach
abnehmen hilft bei der Fettverteilungsstörung nicht.
Sporttipps auf Schokoriegeln?: 46 Minuten gehen oder wegschauen
Ein britische Studie empfiehlt Sportlabels auf Lebensmitteln, um die
angefutterten Kalorien gleich wieder abzutrainieren. Keine gute Idee!
Mediziner über Auslöser der Anorexie: „Eine sehr komplexe Erkrankung“
Studien zeigen, dass Magersucht zum Teil genetisch bedingt ist. Dieses
Wissen könne helfen, die Krankheit zu entstigmatisieren, sagt Stephan
Zipfel.
Google Maps zählt Kalorien: Mehr als 1 Minicupcake!
Google Maps hat ein Feature getestet, bei dem der Kalorienverbrauch bei
Fuß- und Fahrradstrecken angezeigt wird. Das kam nicht gut an.
Nicole Jäger spricht über ihre Essstörung: „Meine Waffe, mein Heilmittel w…
Mit Humor und Selbstironie schreibt und spricht Nicole Jäger live und im
Kabarett über das Dicksein. Und sie ist als Heilpraktikerin für
Essstörungen hoch begehrt
Kritik an Germany's Next Topmodel: Verbeultes Finale
Am Donnerstag endet die Castingshow. Kritik, die Sendung fördere
Magersucht, kontert ProSieben mit Zynismus. Lange wird das nicht gutgehen.
Magersucht in Frankreich: Ran an die Buletten!
Die Nationalversammlung hat beschlossen, Anstiftung zur Anorexie mit einem
Jahr Gefängnis und 10.000 Euro Geldstrafe zu belegen. Sie zielt damit auf
Internetseiten.
Pläne in Frankreich: Schluss mit den Magermodels
Künftig sollen französische Modelagenturen keine Frauen mehr engagieren
dürfen, die zu dünn sind. Die Agenturen laufen Sturm gegen das Vorhaben der
Regierung.
Dicke und Dünne: Die Versuchung ist groß
Berlin ist eine einzige Fressmeile. Für immer mehr Menschen wird das zum
Problem - mit gesundheitlichen Folgen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.