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# taz.de -- Lehrstuhl vor dem Aus: Verdrängung der Psychoanalyse
> In Frankfurt ist einer der letzten psychoanalytischen Lehrstühle in
> Gefahr. Dabei könnte er helfen, die Corona-Protestbewegung zu verstehen.
Bild: Symbol der Psychoanalyse: Die Behandlungscouch von Analyse-Begründer Sig…
Besorgte Bürger heften sich gelbe Sterne an die Kleidung, auf denen
„ungeimpft“ steht. Sie versammeln sich auf öffentlichen Plätzen und
schwadronieren davon, Bill Gates wolle ihnen Mikrochips einpflanzen,
Corona sei eine Erfindung der Medien und die Maßnahmen dagegen der geheime
Plan einer globalen Verschwörung.
Wenn sich das Verhalten dieser Menschen nicht mehr rational erklären lässt,
sie ihren Interessen und der Vernunft zuwiderhandeln, dann kommt die
Psychoanalyse ins Spiel. Mit ihr lässt sich solches Verhalten auf Motive
befragen, die den Menschen selbst verborgen sind.
So notwendig das Vokabular der Psychoanalyse aber ist, um Gesellschaft zu
verstehen, so prekär ist ihr Status an deutschen Universitäten. Die
akademische Psychologie hat die Psychoanalyse erfolgreich entsorgt. Während
die Disziplin in anderen Fachbereichen wie Kulturwissenschaften,
Soziologie, Erziehungswissenschaften und Soziale Arbeit nach wie vor
gelehrt wird, spielt sie in der Ausbildung von Psychologiestudierenden
außerhalb teurer Privatunis keine nennenswerte Rolle.
Und jetzt wird an der Frankfurter Goethe Universität offenbar versucht,
einen der letzten beiden der 61 deutschen Lehrstühle für klinische
Psychologie, der psychoanalytisch besetzt ist, abzusägen. Eine
„Studentische Interesseninitiative Psychoanalyse der Goethe Universität“
beklagt, dass die Professur nach ihren Informationen verfahrensoffen
ausgeschrieben werden soll. Sie haben Mitte April eine Online-Petition
gestartet. Über 7.800 Personen haben für den Erhalt des psychoanalytischen
Lehrstuhls unterschrieben.
## Reparieren statt analysieren
Bei einer verfahrensoffenen Ausschreibung hätten Bewerber*innen mit
mehr Publikationen und mehr Drittmitteln bessere Aussichten. Strukturell
würde das Psychoanalytiker*innen benachteiligen, weil es für ihre
aufwändigen Verfahren weniger Forschungsgelder und Zeitschriften gibt. Auf
Nachfrage der taz, ob die Professur tatsächlich verfahrensoffen
ausgeschrieben werde und somit eine psychoanalytische Professur nicht
garantiert sei, antwortete die derzeitige Dekanin Prof. Dr. Sonja Rohrmann,
dass sie zur Ausschreibung „zum jetzigen Zeitpunkt keine Auskunft geben“
könne.
Das Ende der psychoanalytischen Ausrichtung würde Studierenden die
Möglichkeit nehmen, ein krankenkasslich anerkanntes Therapieverfahren
kennenzulernen. Auch auf das gesellschaftstheoretische Potenzial der
Psychoanalyse würde fahrlässig verzichtet. Die Entscheidung hätte über die
Frankfurter Lehrpläne hinaus Signalwirkung, was die gesellschaftliche
Akzeptanz des psychoanalytischen Zugangs zu sozialen Phänomenen angeht.
Der Lehrstuhl für Psychoanalyse in Frankfurt hat eine traditionsreiche
Geschichte. Erstmals besetzt wurde er [1][1966 mit Alexander Mitscherlich],
der die Psychoanalyse nicht nur als klinische Behandlungspraxis
weiterentwickelte, sondern auch für die Sozialpsychologie nutzbar machte.
Ein Jahr später veröffentlichte er zusammen mit Margarete
Mitscherlich-Nielsen „Die Unfähigkeit zu trauern“, einen Schlüsseltext der
deutschen Nachkriegsgesellschaft.
Die Mitscherlichs bemerkten in der denkwürdigen Indifferenz der Deutschen
gegenüber den eigenen Verbrechen ein Klammern an das idealisierte Objekt
der Volksgemeinschaft, von dem sie sich nie gelöst hatten, das –
psychoanalytisch gesprochen – nie betrauert wurde. Nachfolger*innen wie
Herman Argelander und Christa Rhode-Dachser setzten diese Linie fort und
trugen dazu bei, dass Frankfurt zu einem der lebendigsten Orte
psychoanalytischer Theoriebildung wurde.
Unter dem gegenwärtigen Lehrstuhlinhaber Tilmann Habermas wurde die
Psychoanalyse in das Institut für Psychologie eingegliedert und führte dort
dann ein Nischendasein. Umgeben war sie von Professor*innen
verfeindeter Theorietraditionen, die wegen angeblicher Antiquiertheit der
Psychoanalyse deren wissenschaftliche Legitimität anzweifelten. Das
Misstrauen hat Tradition.
Der Verhaltenstherapie ist es gelungen, mit ihrem Versprechen auf schnelle
Symptomreduktion, vereinheitlichten Behandlungsplänen und kostengünstigeren
Ausbildungen mehr Professuren zu besetzen, mehr Drittmittel einzuwerben und
so die Psychoanalyse aus den Universitäten zu verdrängen. Sie verträgt sich
besser mit dem Kapitalinteresse, den Ausfall von Arbeitskräften
kostengünstig zu minimieren. Anstatt über Jahre hinweg Lebens- und
Familiengeschichten mit unklarem Ausgang aufzuarbeiten, setzt sie an der
Störung an, versucht sie sinngemäß zu reparieren.
## Theorie geht über Bord
Die Eigenständigkeit der Psychoanalyse wurde zwar auch am psychologischen
Institut nicht gänzlich aufgegeben, doch hinterließ die positivistische
Verwertbarkeitslogik der Psychologie ihre Spuren. Die Ausrichtung
konzentrierte sich zunehmend auf das therapeutische Setting, das im
Gegensatz zur psychoanalytischen Sozialpsychologie auf gesellschaftlichen
Rückhalt durch die Krankenkassen vertrauen kann.
Doch das scheint den Gegner*innen der Psychoanalyse nicht zu genügen,
die selbst immer wieder Versatzstücke der Psychoanalyse für die eigene
Praxis nutzen, während sie die Theorie über Bord werfen. In Frankfurt will
man die Emeritierung von Habermas zum nächsten Sommersemester nun offenbar
nutzen, um die unliebsame Konkurrenz, die institutionell längst besiegt
ist, endgültig loszuwerden.
Seit der Bundestag 2019 beschlossen hat, die Psychotherapieausbildung
teilweise ins Studium zu verlagern, ist die Präsenz der Psychoanalyse dabei
an den Hochschulen dringlicher geworden, weil Studierende kaum noch eine
andere Chance haben, die Vielfalt an Ausbildungsmöglichkeiten
kennenzulernen. Der Lehrstuhl in Frankfurt war hier eine der letzten
Bastionen. Zahlreiche psychoanalytisch interessierte Studierende zog es aus
anderen Städten hierher. Anstatt Diagnosemanuale auswendig zu lernen,
wurden hier Gesprächsführungsseminare angeboten, die einen Eindruck
vermittelten, was es bedeutet, jemandem zuzuhören, gemeinsam Konflikte
herauszuarbeiten, derer man sich vorher nicht bewusst war.
Wer sich mit den gesellschaftlichen Implikationen der Psychoanalyse
beschäftigen wollte, musste zwar schon länger in anderen Fachbereichen
wildern. Die Möglichkeiten dafür wurden am Institut für Psychologie wegen
der Verengung auf die Behandlungspraxis nicht ausgeschöpft. Das bedeutet
aber nicht, dass die anstehende Nachbesetzung gesellschaftstheoretische
Fragen ausklammern muss.
Denn das Verständnis des Subjekts und das der Gesellschaft gehören in der
Psychoanalyse zusammen. Publikationen wie der von Kathrin Henkelmann und
Kolleg*innen herausgegebene Sammelband „Konformistische Rebellen. Zur
Aktualität des Autoritären Charakters“ (2020, Verbrecher Verlag) oder die
Leipziger Autoritarismus-Studie von Elmar Brähler und Oliver Decker (2020,
Psychosozial-Verlag) belegen, dass psychoanalytisches Vokabular für die
heutige Sozialforschung wichtig ist.
## Narzisstische Kränkung der „Querdenker*innen“
Auch Freud erkundete die Anwendung psychoanalytischer Einsichten auf
gesellschaftliche Konstellationen. 1926 mutmaßte er, die Zukunft werde
„wahrscheinlich urteilen, dass die Bedeutung der Psychoanalyse als
Wissenschaft vom Unbewussten ihre therapeutische Bedeutung weit
übertrifft“.
Eine Haltung, die er 1933 in seinen „Neuen Vorlesungen zur Psychoanalyse“
bekräftigte: „Ich sagte Ihnen, die Psychoanalyse begann als eine Therapie,
aber nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern
wegen ihres Wahrheitsgehalts, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt, über
das was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der
Zusammenhänge, die sie zwischen den verschiedensten seiner Betätigungen
aufdeckt. Als Therapie ist sie eine unter vielen.“
Wie gegenwärtig der Bedarf ist, zeigen die sogenannten Querdenker*innen.
Ihr Verschwörungsglaube lässt sich psychoanalytisch als Umgang mit Angst
interpretieren. Unaushaltbare Unsicherheiten in der Pandemie werden im
Verschwörungsglauben aufgelöst, die Welt vereindeutigt und die Aggression
gegen die vermeintlichen Verschwörer pathisch projiziert, sodass die Wut
zur Notwehr verklärt werden kann. Die narzisstische Kränkung, der
Gesellschaft mit ihren Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wie auch der
Krankheit ausgeliefert zu sein, wird so bewältigt durch die Errichtung
eines fantastischen Größenselbst, das über alles Bescheid weiß.
Statt aber die politische Unfähigkeit zu attackieren, der gesamten
Bevölkerung einen hinreichenden Schutz vor dem Virus zu gewähren,
rebellieren die „Querdenker*innen“ konformistisch. Sie schlagen los im
Einklang mit den kapitalistischen Verhältnissen, gegen diejenigen, die
schwächer sind, bei denen die Wahrscheinlichkeit für einen schweren
Krankheitsverlauf höher ist.
Diese Abgründe zu ergründen könnte Aufgabe eines psychoanalytischen
Lehrstuhls innerhalb der Psychologie sein. Größen wie Mitscherlich haben
vorgemacht, wie das „Junktim von Heilen und Forschen“ das Verständnis der
Gesellschaft bereichern kann, ohne ihr plump zeitdiagnostische Etikette wie
„narzisstische Kultur“ zu verpassen. Es bleibt zu hoffen, dass die
Studierenden in Frankfurt sich durchsetzen können, eine geeignete
Nachfolgerin für den Lehrstuhl zu finden.
13 May 2021
## LINKS
[1] https://www.psychologie.uni-frankfurt.de/57323364/30_Geschichte-des-ehemali…
## AUTOREN
Tom David Uhlig
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