# taz.de -- Psychologin über die Coronakrise: Das Schwarz-Weiß-Denken | |
> Was ist jetzt Grundlage für Entscheidungen? Vieles wissen wir gar nicht | |
> genau. Ein Gespräch über Ambivalenz und Diskussion in Krisenzeiten. | |
Bild: „Angst haben zu können, ist eine gute Sache“, sagt Christine Kirchho… | |
taz: Frau Kirchhoff, seit über einer Woche gilt in Deutschland das | |
[1][sogenannte Kontaktverbot]. Bis zum 20. April soll es mindestens noch | |
gelten. Wie lange halten die Menschen das aus? | |
Christine Kirchhoff: Ich fürchte, nicht besonders lange. Was mich aber viel | |
mehr beschäftigt: Auf welcher Grundlage wird über solche Maßnahmen | |
entschieden? Auf Dauer wird es nicht funktionieren, dass man solche | |
Entscheidungen allein auf Grundlage medizinischer Erkenntnisse trifft. Das | |
sind politische, gesellschaftliche Entscheidungen. Da muss man abwägen. Wir | |
leben in einer demokratischen Gesellschaft und nicht in einer, die von | |
Experten regiert wird. Corona ist eine ernste Gefahr, ich finde [2][die | |
Maßnahmen auch sinnvoll], aber es fehlt eine Diskussion. | |
Worüber? | |
Darüber, dass wir die Maßnahmen gerade vor dem Hintergrund treffen, dass | |
wir eigentlich vieles gar nicht so genau wissen. [3][Wir wissen nicht | |
genau, wie hoch die Dunkelziffer der Infizierten ist], wie viele Menschen | |
wirklich daran sterben werden. In den vergangenen Tagen gab es Momente, in | |
denen ich dachte, dass das auch umschlagen kann, dass man sich, wenn man | |
überhaupt nur diskutieren möchte, automatisch im Lager der Leugner | |
wiederfindet. Es wird so ein Bescheidwissen weitergetragen. [4][Nicht nur | |
von den Verschwörungstheoretikern], die jetzt genau wissen, wo das Virus | |
vermeintlich herkommt: entweder von den Zionisten, den Amerikanern oder den | |
Chinesen. Das sind die extremen Formen. Es geht aber auch um den Umgang mit | |
Zahlen, die zu leichtfertig verbreitet und zu unkritisch hingenommen | |
werden, ohne dass darüber berichtet wird, wie unsicher die Datenlage noch | |
ist. Das große Problem ist, mit dem gegenwärtigen Nichtwissen umzugehen. | |
Was macht dieses Problem mit dem Einzelnen? | |
Wir werden lange auf alles verzichten müssen, was Halt gibt und Freude | |
macht, aber nicht systemrelevant sei, sagen Virologen. Das ist eine | |
Verzichtsrhetorik, die kontraproduktiv ist, die Angst macht. Es ist ja | |
angemessen, in dieser Situation Angst zu haben. Als Psychologin würde ich | |
sagen: Angst haben zu können, ist eine gute Sache. Wenn jemand sagt, er | |
habe keine Angst, dann muss man sich Sorgen machen, das liegt dann meistens | |
daran, dass er etwas verleugnet. Angst kann sich aber auch schnell | |
verselbstständigen, sich vom Ursprung ablösen. Dann wird sie zur Panik. | |
Dann hat man Angst, gegen die nur noch Kontrolle hilft, und die Kontrolle | |
verstärkt die Angst dann paradoxerweise, denn je mehr kontrolliert wird, | |
desto größer wird der Anlass der Angst. Eine Panikspirale entsteht. | |
Welche Rolle spielen Medien, wenn der Kontakt, den ein Mensch zur Außenwelt | |
hat, vor allem über sie und soziale Medien besteht? | |
Zunächst haben die Medien die Maßnahmen der Politik weitergegeben und | |
flankiert. Aber sie haben auch zur Anspannung beigetragen. Wenn jemand | |
angefangen hat, über Ausgangssperren nachzudenken, hat man das sofort auf | |
medialen Plattformen gefunden. Der Ton hat sich in den vergangenen Tagen | |
etwas beruhigt. Ich bin mir aber nicht sicher, ob das daran liegt, dass ich | |
weniger Medien konsumiere, weil ich irgendwann gemerkt habe: Es reicht. | |
Sie lesen keine Zeitung und schauen keine Nachrichten mehr? | |
Ich lese nur noch Artikel, bei denen ich wirklich etwas lernen kann. Ich | |
schaue nicht mehr in meine Facebook-Timeline. | |
Schaffen Sie das? | |
Mehr oder weniger. | |
In den sozialen Medien gibt es viele selbst ernannte Experten. | |
Die einen wissen, dass wir jetzt alle sofort zu Hause bleiben müssen, weil | |
sonst, überspitzt gesagt, Millionen von Menschen sterben werden. Die | |
anderen wissen, dass das gerade nur eine große Manipulation und die | |
Rückkehr des autoritären Charakters ist. Dabei kann man erst mal ganz | |
schlecht sehen, ob die Menschen jetzt alle zu Hause bleiben, weil sie | |
vernünftig sind, oder ob sich da so etwas wie eine Volksgemeinschaft | |
reformiert. Das werden wir erst sehen, wenn die Krise überstanden ist. | |
Der Begriff der Vernunft scheint in der Coronakrise umkämpfter denn je. | |
Sascha Lobo hat den schönen Begriff der „Vernunftpanik“ geprägt. Aus der | |
Perspektive der Psychoanalytikerin betrachtet: Wenn die Panik schwer | |
auszuhalten ist, dann sucht man sich vernünftige Gründe dafür. Das nennt | |
man dann irgendwann Wahn, da sind wir bei den Verschwörungstheorien oder | |
beim Bescheidwissen. Gleichzeitig – und das ist das Schwierige an der | |
Vernunft – fordert vernünftiges Denken und Handeln Ambivalenztoleranz, wie | |
wir es in der Psychoanalyse nennen. Man muss sich entscheiden, aber die | |
Situation ist nicht eindeutig, man muss abwägen und man weiß dann auch | |
nicht genau, ob man richtig entschieden hat. Das ist das Gegenteil von: | |
„Wir müssen jetzt genau so handeln, denn es gibt keine Alternativen.“ | |
Wäre es eine Kapitulation für Autoritäten, diese Ambivalenz zuzugeben? | |
Es ist schwierig, aber es wäre ein Schritt in die richtige Richtung. | |
Allerdings, auch wenn man die Gesellschaft vor Corona beobachtet, ist das | |
ja etwas, das sowieso schwer ist. Man erkennt Krisen daran, dass das | |
Schwarz-Weiß-Denken, das Entweder-oder zunimmt. | |
Aber es ist doch ein Dilemma: Wir können zwar diskutieren, haben aber keine | |
Zeit. | |
Ich sehe das Problem auch. Aber ich glaube, man müsste gerade jetzt darüber | |
diskutieren. Und auch darüber sprechen, was es mit den einzelnen Menschen | |
in ihren Wohnungen macht, wenn man bestimmte Prognosen verbreitet. | |
Die Einschaltquoten der Öffentlich-Rechtlichen sind gestiegen, die | |
Zustimmungsraten für die Union, für Merkel, Spahn und Söder haben | |
zugenommen. Es scheint einerseits großes Vertrauen in etablierte | |
Institutionen zu geben. Andererseits ist die Coronakrise Blütezeit | |
krudester Verschwörungstheorien. | |
Es wäre interessant zu wissen, ob diejenigen, die Verschwörungstheorien in | |
die Welt setzen oder konsumieren, gleichzeitig auch die „Tagesschau“ sehen. | |
Wenn man Angst hat und etwas nicht einschätzen kann, wenn etwas unheimlich | |
ist, dann braucht man Halt. Und dann können gerade Institutionen wie die | |
„Tagesschau“ oder öffentlich-rechtliche Medien Halt geben. Gleichzeitig | |
kann die Haltsuche aber auch umschlagen, wenn der Halt nicht ausreicht. Da | |
kommt wieder das Nichtwissen ins Spiel. Das macht Verschwörungsdenken so | |
attraktiv, weil es verspricht, dass man lückenlos sagen kann, wo das Virus | |
herkommt, was es ist und wie es weitergehen wird. Dann ist die Welt wieder | |
sortiert. | |
Diejenigen, die nach härteren Maßnahmen rufen, sehnen sich ja auch nach | |
Halt. Andere halten diese Maßnahmen für übertrieben. Verändert die | |
Coronakrise unser Verhältnis zu Autoritäten? | |
Wenn ich sage: „Ach, das ist alles völlig übertrieben, ich muss keine Angst | |
haben, ich gehe trotzdem nach draußen, dann muss ich mich auch nicht damit | |
beschäftigen, dass da draußen eine gefährliche Krankheit sein könnte und | |
was es mit mir macht, wenn ich zu Hause bleibe“, oder wenn ich sage: | |
„Ausgangssperre jetzt und zwar für alle“, dann suggeriert das, dass man | |
diese Situation kontrollieren kann. Beiden Positionen geht es um Kontrolle | |
und Abwehr von Angst. In den westlichen europäischen Gesellschaften leben | |
wir ja in einer Welt, in der es eigentlich keine lebensbedrohenden | |
Infektionskrankheiten mehr gibt. Was gerade auch zur Disposition steht, ist | |
diese Illusion von Unversehrtheit. Ähnlich wie beim Klimawandel merken wir, | |
dass wir abhängig sind von der Natur, von unserem Körper, dass wir krank | |
werden und sterben können, dass wir es nicht in der Hand haben. | |
Etwas pathetisch könnte man sagen: Die Natur, die wir glaubten zu | |
beherrschen, kehrt wieder zurück. | |
Ja, dazu gehört auch die Illusion der technischen Beherrschung aller | |
Risiken. Da kehrt etwas zurück, das immer da war, dass wir auch selbst Teil | |
der Natur sind und dass Naturbeherrschung ihre Kosten und Grenzen hat. Aber | |
das ist nicht nur jetzt ein Thema, auch der Zustand vor der Krise war ja | |
wegen dieser Illusion schon einer der gesellschaftlichen Destruktivität. | |
30 Mar 2020 | |
## LINKS | |
[1] /Corona-Tagebuch-der-Hauptstadt/!5671055 | |
[2] /Maskenpflicht-in-der-Oeffentlichkeit/!5675118 | |
[3] /Massnahmen-gegen-Coronavirus/!5674869 | |
[4] /Linke-Verschwoerungstheorie-ueber-Corona/!5669065 | |
## AUTOREN | |
Volkan Ağar | |
## TAGS | |
taz.gazete | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Psychoanalyse | |
Psychologie | |
Psychologie | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Kolumne Die Zeile | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
Schwerpunkt Klimawandel | |
Schwerpunkt Coronavirus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autor über Entscheidungsfindung: „Niemand googelt Gegenargumente“ | |
Wie trifft man gute Entscheidungen? Autor Mikael Krogerus hat sich mit der | |
Forschung zu Entscheidungsfindungen beschäftigt. Und gibt ein paar Tipps. | |
KFC ändert Werbespruch: Ausgeleckt | |
Die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken ändert ihren Werbeslogan. In | |
Coronazeiten fühle sich der aus hygienischen Gründen nicht richtig an. | |
Kritik an Corona-Maßnahmen: Panikverströmende Mystik | |
Manche Journalisten klagen über den Lockdown. Der Journalismus hat zwar die | |
Pflicht zu hinterfragen, aber bitte nur auf Tatsachenbasis. | |
Medienberichterstattung in Corona-Zeiten: Ungeeignetes Machtkampfnarrativ | |
Viele Medien suggerieren derzeit einen Machtverlust der Politik zugunsten | |
von Virologen. Doch dieser Spin ist gefährlich. | |
Exit aus Corona-Lockdown: Wir müssen reden | |
Die Debatte über ein Ende des Corona-Lockdowns steht in der Kritik. Ein | |
Diskussionsverbot aber wäre paternalistisch. | |
Kulturschaffende in Coronakrise: Künstlerpech | |
Ob Malerin oder Museumspädagogin: Freien Kulturschaffenden geht es in der | |
Coronakrise häufig an die Existenz. | |
Corona-Strategie des Innenministeriums: Im Grundsatz leider richtig | |
Die Maßnahmen gehen in die richtige Richtung. Noch immer glauben zu viele, | |
dass die Lage beherrschbar bleibt. | |
Psychologin über Krisenangst: „Angst, Trauer, Wut sind normal“ | |
Wer sich mit der Klimakrise beschäftigt, kann durchaus Angst bekommen, sagt | |
Psychologin Katharina van Bronswijk. Was tun damit? | |
Pärchenleben in der Krise: Zu zweit im Corona-Koller | |
Wie kommt man als Paar mit der virusbedingten Zweisamkeit klar? Tipps aus | |
dem Friseursalon, der Raumfahrt und dem Kloster. |