# taz.de -- Therapeutin über Corona-Depressionen: „Wir sind verwöhnt“ | |
> Die Psychotherapeutin Angelika Rohwetter empfiehlt gegen die | |
> Corona-Erschöpfung, das Leben in die Hand zu nehmen. Es gebe kein Recht | |
> auf „Normalität“. | |
Bild: Wenn die Nacht am tiefsten ist, naht vielleicht wenigstens die Impfung | |
taz: Frau Rohwetter, ein Rollentausch: Wie geht es Ihnen? | |
Angelika Rohwetter: Gesundheitlich schwächele ich ein bisschen, aber es ist | |
kein Corona. Psychisch wechselt es, ich habe kleine Einbrüche, wie wir | |
alle. Aber ich trotze ihnen. | |
Wie denn? | |
Mein Lebenselixier ist das Reisen. Ich buche, obwohl ich nicht sicher sein | |
kann, dass es klappt. Für Oktober habe ich gerade eine größere Reise | |
gebucht. Ich freue mich drauf. | |
Aber wenn es dann nicht klappt, wäre das ja sehr deprimierend. | |
Es kann sein, dass es nicht klappt. Aber ich habe es geplant und | |
beschäftige ich mich dann nicht weiter mit den Eventualitäten. Die | |
Vorfreude kann mir keiner mehr nehmen. | |
Hoffnung ist ein zentrales Element zur Krisenbewältigung? | |
Eben genau nicht. | |
Warum nicht? | |
Hoffnung ist ein Aspekt von Erwartungen. Wo ich hoffe, kann ich enttäuscht | |
werden. Es bedeutet eine Fixierung [1][auf die Zukunft], von der wir nicht | |
wissen, wie sie sein wird. Es geht aber darum, sein Leben jetzt zu | |
gestalten, auch mit Plänen. | |
Bevor wir zum lösungsorientierten Teil kommen, lassen Sie uns noch im | |
Krisenhaften verweilen. Wie lange hält man das aus? | |
Da sind wir wieder in der Falle. Wir befinden uns nur im Ausnahmezustand, | |
wenn man den Regeln folgt, die vor der Krise galten. Aber ob das der | |
normale Zustand war? Wir sind verwöhnt, wir tun so, als wäre es unser | |
Recht, genauso zu leben wie früher. [2][Das machen wir auch mit dem Klima | |
so]. Dabei ist es gar nicht unser Recht und geht dauerhaft auch nicht gut. | |
Sich das einzugestehen, ist aber sehr schmerzhaft. Viele scheint es auch | |
wütend zu machen. | |
Oder mütend, dieses furchtbare Wort aus müde und wütend. Da schwingt ja der | |
Vorwurf drin, dass jemand uns in diese Situation gebracht hätte und die | |
Pflicht hätte, uns da rauszuholen. | |
Sind Sie gar nicht mütend? | |
Nein. Manches betrauere ich, zum Beispiel dass bestimmte Erholungsräume wie | |
mein tägliches Mittagessen in meinem Lieblingscafé wegfallen. Das ist | |
natürlich ein geringes Leiden, aber ich sehe und verstehe auch enorme | |
individuelle Leiden. Es gibt aber keinen Anspruch, dass es anders sein | |
kann. | |
Na ja, man könnte etwa von einem Gesundheitsminister schon erwarten, dass | |
er dafür Sorge trägt, dass das Gesundheitssystem gut funktioniert, | |
Schutzausrüstung vorhanden ist, Masken- und Testpflicht gelten … | |
Keine Frage, die Politik hat [3][viele Fehler gemacht]. Das hilft uns aber | |
nicht, wir können es nur feststellen. | |
Hilft Wut nicht auch etwas? Dann ist man nicht so traurig. | |
Stimmt, Wut ist ein lebendiges und starkes Gefühl. Sie hilft, wenn ich sie | |
in die richtige Richtung lenke, im Sinne von Trotz. Kein kindlicher Trotz | |
wie „Ich will aber die Schokolade“. Sondern im Sinne von „trotzdem“. Ich | |
gestalte mein Leben, obwohl es gerade so ist, wie es ist. Wer die Kraft | |
hat, wütend zu sein, hat auch Kraft für anderes. Mit Wut ist man | |
handlungsfähig. Obwohl Trauer auch ein sehr lebendiges Gefühl ist. Am | |
schlimmsten ist Resignation. | |
Also wenn man den Antrieb verliert, etwas zu verändern und kapituliert. | |
Sind wir in einer kollektiven Depression? | |
Nein. Die wird von rechts und von der Wirtschaft herbeigeredet, um Druck zu | |
erzeugen. Das macht auch ängstlich, die Menschen fürchten um ihre | |
Arbeitsplätze, obwohl es keinen objektiven Grund dafür gibt. Wenn zum | |
Beispiel BMW Gewinne macht, obwohl Arbeiter in Kurzzeit geschickt wurden, | |
kann das auch deprimierend wirken. Das ist dann aber mehr der Umgang mit | |
dem Virus als das Virus selbst. | |
Sehen Sie eine Entwicklung oder einen Punkt der Pandemie, an dem auch | |
psychisch stabile Menschen langsam nicht mehr können? | |
Ja, ganz klar. In der ersten Welle waren noch viele im positiven Trotz. Es | |
gab Applaus vom Balkon, das Gefühl „Wir stehen das kollektiv durch und | |
gehen gestärkt aus der Krise hervor“. An der zweiten Welle konnte man sich | |
schon die Zähne ausbeißen, aber okay, ein letztes Mal noch. Jetzt ist die | |
Luft raus. | |
Brot backen, Hula-Hoop und spazieren gehen sind todlangweilig geworden. | |
Wenn das nie Liebe war, geht schnell der Reiz verloren. Das macht aber | |
nichts, man muss keinen preußisch-lutheranischen Anspruch haben, Dinge, die | |
man angefangen hat, weiter oder zu Ende zu machen. Wenn Hula-Hoop | |
langweilig wird, kann man Seil springen. | |
Habe ich schon gemacht. | |
Es ist wahnsinnig gut für die Kondition, Boxer trainieren auch viel mit | |
Seilspringen. | |
Selbst geboxt habe ich schon. | |
Man kann Tausende Dinge machen. | |
Was machen Sie? | |
Ich gehe mit offeneren Augen durch die Welt. Früher habe ich nicht so | |
geguckt, war mehr in meinen Gedanken. Wenn ich hingucke, sehe ich Corona | |
nicht. Kürzlich habe ich einen Mammutbaum entdeckt, der ist bestimmt | |
tausend Jahre alt. Da bin ich zuvor hundertmal dran vorbeigegangen, ohne zu | |
sehen, wie besonders der ist. | |
Das klingt ein bisschen zu einfach. | |
Was ebenfalls gut tut, ist sensibler zu werden für das, was noch | |
funktioniert. Dafür kann man dankbar sein, und davon gibt es doch ganz | |
viel. Man kann natürlich auch mal jammern und klagen. Wichtig ist nur, dass | |
man damit auch wieder aufhört. | |
Leichter gesagt als getan. | |
Na ja, wir fühlen uns unseren Gefühlen oft ausgeliefert, aber das sind wir | |
nicht, wir haben ein Mitspracherecht – nur nicht unbeschränkt. Wenn wir | |
[4][voller Trauer, Wut oder Verzweiflung sind], braucht das Zeit, da kann | |
man nichts dran ändern. Grundsätzlich haben wir aber Einfluss auf unsere | |
Stimmung. Wenn wir uns zum Beispiel ablenken, stehen die negativen Gefühle | |
nicht mehr im Fokus. | |
Wenn ich mich abends mit zwei Bier und einem Joint ablenke, ist das also | |
gut? | |
Das ist ja eher Betäubung als Ablenkung. Das spricht dagegen, genau wie die | |
Suchtgefahr. | |
Aber sind solche Strategien, die erst mal destruktiv wirken, per se | |
schlecht, wenn sie doch helfen, mal abzuschalten? | |
Wenn sie Gefühle beruhigen, ist nicht grundsätzlich was dagegen | |
einzuwenden, moralisch ist es völlig in Ordnung. Aber wenn wir uns damit | |
neue Probleme einhandeln, wäre das schade. | |
Wie weit sollte man seinen Trieben in so einer anstrengenden Situation | |
nachgeben? Sie zu kontrollieren, erzeugt ja auch Stress. | |
Es ist eine Befriedigung auf einer Ebene, die uns nicht wirklich gut tut. | |
Nach zu viel Essen geht es uns ja schlecht, nach zu viel Alkohol sind wir | |
verkatert. Und leider wird, wie uns etwas Gutes zu tun, auch das immer | |
einfacher. Eine Generalabsolution „In dieser Krise darf ich machen was ich | |
will“ ist nicht hilfreich. | |
Gesunde und nachhaltige Verarbeitungsstrategien für die Krisensituation zu | |
entwickeln und beizubehalten, erzeugt aber zusätzlichen Druck. | |
Wenn ich mich dafür entscheide und das mit Disziplin tue, ja. Aber es kann | |
sich verselbstständigen. Dann wird es immer leichter. | |
Ist es eigentlich verdächtig, wenn die Krise jemandem gar nichts ausmacht? | |
Da könnte es sich um Verdrängung handeln. Das muss nicht sein, aber | |
verdächtig ist es schon. | |
Lassen Sie uns noch über eine andere Emotion sprechen: Angst. Die Pandemie | |
führt uns brutal die eigene Sterblichkeit und die unserer Liebsten vor | |
Augen. Was kann man dagegen tun? | |
Nichts. Es ist eine realistische Wahrnehmung. Wir wissen, dass unser Leben | |
endlich ist. Ich kenne inzwischen eine ganze Reihe Leute, die Corona | |
hatten, und einige, die daran gestorben sind. Wir sollten diese Realität | |
nicht leugnen, aber auch nicht unser Leben bestimmen lassen. Lieber nehmen | |
wir es selbst in die Hand und gestalten. Und zwar jetzt, anstatt darauf zu | |
warten, dass die Pandemie vorbei ist. Die Kirche sagt: Es gibt ein Leben | |
nach dem Tod. Brecht sagt: Es gibt ein Leben vor dem Tod. Kästner sagt: | |
Heute ist dein Leben. | |
Sie sind bei Kästner. | |
Nicht immer, aber so oft es geht. | |
19 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Katharina Schipkowski | |
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