# taz.de -- Gedanken in der Pandemie: Der Anfang vom Abspann | |
> Seit über einem Jahr leben wir nun in einer Pandemie. Langsam geht das | |
> Ende los, doch das Licht am Ende des Tunnels ist noch weit entfernt. | |
Bild: Es wäre schön, wenn alles nur ein schlechter Film wäre: Mehr als ein J… | |
Das ist also der Anfang von einem langem Abspann. Ein paar Reihen vor mir | |
stehen die ersten Leute auf und gehen raus, manche rennen. Manche lassen | |
ihre Cola-light-Eimer liegen, sie treten einander auf die Füße, jemand | |
stellt jemand anderem ein Bein. Was für ein beschissener Film das war, mit | |
Überlänge. | |
Gut, es gab die Delfine, die durch Kanäle geschwommen sind, das war kurz | |
schön. Aber ab der ersten Minute habe ich auf das Ende gewartet, zuletzt | |
habe ich es herbeigesehnt, den Moment, wenn es auf der Leinwand dunkel wird | |
und im Saal langsam hell. Flugmodus aus, es war ja nur ein Film. Und jetzt? | |
Jetzt kündigt es sich an, [1][das Ende geht los und ich kann nicht | |
aufstehen.] Ich habe Angst, glaube ich. Ich habe Angst, dass draußen noch | |
alles so ist, wie vorher, und ja, ich weiß schon, das Vorher war nie ganz | |
weg. Ich hasse das Gerede von der Krise als Chance, aber ich habe mich nie | |
näher dran gefühlt an der Möglichkeit ganz wesentlicher Veränderung. Wir | |
haben ja viel geredet. Über Solidarität, Mitgefühl. Sowieso haben wir uns | |
mehr gespürt als ewig nicht, vielleicht war es zuletzt so, als wir Teenager | |
waren und Gefühle noch keine Filter kannten. | |
Als die Ungerechtigkeit der Welt noch wirklich weh tat, als wir dachten: | |
Warum liebst du mich nicht einfach zurück, warum schießt ein Mensch auf | |
einen anderen, wieso bleibt die Welt nie stehen? Als wir noch nicht | |
kollektiv in Resignation geflüchtet sind und behaupteten, das sei | |
Realismus.Ein bisschen so ist es gewesen, zwischendurch, in diesem Film. | |
Eine andere Welt ist möglich, haben wir gesagt. [2][Ein anderes Arbeiten, | |
Wirtschaften, Konsumieren, Regieren, Teilhaben.] | |
## Vor ins Danach | |
Mittendrin hat mein Vater (66) begonnen, von seinem „früheren Leben“ zu | |
sprechen, damit meinte er das Vorher. Ich (31) fand das sehr treffend, ich | |
fühle mich auch etwas zwischen den Leben, und [3][ich will nicht zurück ins | |
Früher.] Ich will schon vor ins Danach, aber ich kann noch nicht aufstehen. | |
Ich würde gern eine Pause machen, mich ausruhen und nachdenken, wie wir | |
nicht nur von Solidarität reden, sondern es auch sind. Wieso wird das | |
Patentrecht für Impfstoffe nicht aufgehoben, warum kann man Gesundheit und | |
Freiheit kaufen, wieso bleibt die Welt nicht mal jetzt kurz stehen? | |
Das waren ja gute Gespräche zuletzt. Bleiben die liegen, in der | |
Kinosesselkante? Können wir die tragen, die guten Ideen und Absichten, | |
während sie uns an der Tür lang ersehnte Nadeln in die Oberarme stecken und | |
dann denken, dass wir wieder heile sind? In der Lobby wird jemand sagen | |
„halt mal kurz“ und damit die sogenannte Normalität meinen, manche können | |
dann in den Urlaub fliegen und andere weiter am Fließband stehen. | |
Aber vielleicht können wir gerade nichts halten außer uns selbst, und auch | |
das nur so mäßig. Also bleibe ich sitzen, über die Leinwand fahren | |
dreikommaelf Millionen Namen. Das ist ein langer Abspann, das dauert ein | |
bisschen. | |
28 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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