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# taz.de -- Die Sache mit der Meinungsbildung: Besser werden wollen
> Obwohl wir wissen, dass Perfektion eine Falle ist, wollen wir gut sein
> und gemocht werden. Natürlich sind nicht erst die sozialen Medien schuld.
Bild: Gutheit ist über so ein Menschenleben nie konstant verteilt
Like, like, like – wow, wie schön sie ist – like, like – die sagt so klu…
Sachen – like – er hat so ein tolles Leben – Feueremoji – so inspiriere…
like – gehöre ich dazu, wenn ich das teile? – like, like – bin ich
unsolidarisch, wenn ich das nicht teile?
Seit einer Weile fällt mir Meinungsbildung schwer und das hat auch mit
mögen und gemocht werden wollen zu tun. Natürlich sind nicht erst die
sozialen Medien schuld. [1][Vor Instagram habe ich Fotos in Zeitschriften]
angeguckt, um zu glauben, dass die dort abgebildeten Leute perfekt sind.
Außen und innen. Mit krassen Beinen und krassen Talenten. Jetzt geht es
häufiger auch um Gedanken, um das Streben nach dem vermeintlich perfekten
Charakter, der richtigsten Meinung. Like?
Ist ja nichts Neues, dass die Sache mit der Perfektion eine Falle ist.
Ehrlich gesagt mag ich auch Leute, deren Meinungen ich nicht teile. Nicht
wegen ihrer Aussagen, sondern trotzdem. Andersherum gibt es Menschen, deren
Ansichten ich ganz gut finde, deren Auftreten aber unerträglich. Schlechte
Sympathen und gute Unsympathen, oder so. Beides ist irgendwie unangenehm.
Wie soll man da noch Herzchen verteilen?
Ich denke, wie immer fing alles am Anfang an. Wir gucken nach oben und
finden Idole, weil Papa Fahrrad fahren kann und die Cousine in einer Band
spielt. Im Märchen gibt es gut und böse und auch sonst lässt sich die Welt
unterteilen in richtig und falsch. Dafür muss man selten das Gehirn
bewegen, Antworten gibt es oft geschenkt.
## Audi, SPD und Borussia Dortmund? Like!
Audi: Like, weil mein Vater einen alten Audi fuhr. SPD: Like, weil man das
am Sonntagsesstisch eben so fand. Mein erster Freund war
Borussia-Dortmund-Fan, also finde ich Dortmund bis heute sympathisch,
obwohl ich kein einziges Bundesligaspiel gesehen habe. Ich verlasse mich
auf das Urteil von jemandem, den ich mal gut fand und von dem ich gut
gefunden werden wollte. Wird schon stimmen, wenn der:die das sagt.
[2][Die Sache mit der SPD habe ich überwunden], aber 15 Jahre später
ertappe ich mich dabei, dass ich immer noch gut gefunden werden will von
Leuten, die ich mag. Das ist okay, komplizierter wird es, wenn ich mich
darauf verlassen will, dass diese Leute auch immer gute Dinge sagen und
tun. Das „ich mag dich und deshalb mag ich auch deine Meinung“, dieses
Copy-Paste-Verhalten: Es klappt nicht. Schon gar nicht bei komplexen Themen
wie dem Nahostkonflikt, da muss eine:r schon selber ran. Und trotzdem hab
ich immer noch etwas Sehnsucht nach einer Person, die immer Richtiges sagt
und gut ist.
Aber wir sind ja jetzt erwachsen. Wir haben gelernt: Alle sind
unzulänglich, außen und innen. Einmal Herzchen, einmal nicht. Gutheit ist
über so ein Menschenleben nie konstant verteilt und wenig schmerzt mehr als
der Verlust von Held:innen.
Das Ziel ist ja nicht, dass deshalb alle Arschlöcher sein sollen. Nur weil
Idole Quatsch sind, muss man nicht aufhören, sich Mühe zu geben. Die
meisten Menschen wollen gut sein, vor sich selbst und vor anderen – sie
wollen es nur nicht werden. Besser werden ist unbezahlte Arbeit und ein
Eingeständnis der eigenen Noch-nicht-so-Gutheit. Aber wer nicht werden
will, muss bleiben und das ist im aktuellen Zustand der Welt keine Option.
Bleibt Resignation, könnte ich jetzt sagen. Aber wir könnten auch einfach
versuchen, besser zu werden. Ich finde das gut genug. Like?
26 May 2021
## LINKS
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## AUTOREN
Lin Hierse
## TAGS
Kolumne Poetical Correctness
Soziale Medien
Perfektion
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