| # taz.de -- Die These: Nie mehr SPD | |
| > Unsere Autorin hat über Jahrzehnte sozialdemokratisch gewählt. Schon um | |
| > ihrem Vater eins auszuwischen. Aber nun reicht es ihr endgültig. | |
| Bild: Wenn kein Champagner da ist, tut es auch Bier – Gerhard Schröder bei e… | |
| Meine erste Annäherung an die SPD war eine kleine Rebellion. Ich steckte | |
| damals mitten in der Pubertät, als mein Vater sich entschied, in die | |
| Politik zu gehen. Er war viele Jahre Kreisdirektor gewesen, nun wollte er | |
| für das Amt des Regionspräsidenten in den Wahlkampf ziehen. Aber nicht für | |
| die SPD, wie ich es mir gewünscht hätte, sondern für die CDU. | |
| Er hatte schon als Schüler ein Problem mit linken Gruppierungen wie dem | |
| Marxistischen Studentenbund (MSB) Spartakus gehabt, und so gründete er in | |
| der Oberstufe einen Ableger der Jungen Union. Später studierte er Jura an | |
| einer altehrwürdigen Universität, danach arbeitete er in der Justiz, der | |
| Verwaltung – und jetzt also dieser neue Schritt. | |
| Keine einfache Entscheidung, auch für die Familie nicht. Ich bekam jedes | |
| Mal ein heißes, brennendes Gesicht, wenn er mich mit seinem Wahlkampfbus | |
| von der Schule abholte. Nicht weil ich mich nicht gerne von ihm chauffieren | |
| ließ, sondern weil der Bus mit seinem riesigen Konterfei bedruckt war, dazu | |
| das Motto „In der Region zu Hause“. Das war für mich als Teenagerin | |
| natürlich schwer auszuhalten, also rebellierte ich mit allem, was mir als | |
| wohlerzogenem Bürgerkind zur Verfügung stand: Mit der Punkband [1][WIZO] | |
| auf den Ohren und einer hochgegelten Super-Sonic-Frisur, die zumindest das | |
| heile Familienbild beim Fotoshooting mit der Lokalpresse empfindlich | |
| störte. | |
| Mein Vater erlitt schließlich eine Wahlniederlage, kurz danach | |
| verabschiedete er sich aus der Politik. Doch mein Umfeld blieb politisch | |
| und färbte sich immer stärker rot. Das hatte sicher auch damit zu tun, dass | |
| mein damaliger Freund mich in einen SPD-Haushalt einführte. Seine Mutter | |
| war langjährige Genossin, gleichzeitig war sie die coolste Frau, die ich | |
| bis dato kannte. Alleinerziehend, berufstätig und [2][Hannes-Wader-Fan]. | |
| ## Mit gefährlichem Halbwissen | |
| Die SPD hatte es mir also schon als Jugendlicher angetan. Mit gefährlichem | |
| Halbwissen interpretierte ich von Klassenkampf bis zu gelebter | |
| Gleichberechtigung alles Mögliche in sie hinein. In meiner Vorstellung | |
| waren die Roten die Guten, schon allein deshalb, weil sie in vielem das | |
| Gegenteil von dem zu verkörpern schienen, womit ich aufgewachsen war. | |
| Doch dann erlebte ich meine erste, große Enttäuschung mit der SPD in | |
| Gestalt eines sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten. Er war der | |
| erste, dem ich wahrhaftig begegnet bin. Wenn er einen Raum betrat, duckten | |
| sich alle weg, seine autoritäre Aura fand ich einschüchternd. Hinzu kam | |
| eine gewisse Vorliebe für teuren Wein und Delikatessen, daneben wirkte mein | |
| wesentlich bescheidenerer, bodenständiger Vater wie der viel größere | |
| Sozialdemokrat. | |
| Aber: Die Partei der Altnazis – so nannten meine linksalternativen | |
| Freund:innen die CDU – konnte und wollte ich nicht wählen, also wählte | |
| ich nach meinem 18. Geburtstag so, wie wir es uns ausgeknobelt hatten: | |
| strategisch. Das erste Kreuzchen bekam die SPD, weil die damals einfach die | |
| größere Chance auf ein Direktmandat hatte. | |
| Das zweite Kreuzchen ging an die Grünen, damit auch von denen möglichst | |
| viele ins Parlament einzogen. Dass ich der SPD ideologisch nahestand, hatte | |
| mir übrigens auch der Wahl-O-Mat ausgespuckt, und so stimmte ich gutgläubig | |
| für einen Spitzenkandidaten, der seine Ehefrauen wechselte wie andere ihre | |
| Autos. Und der in der zweiten Legislaturperiode – für die ich ja nun | |
| mitverantwortlich war – mit seiner Agenda 2010 exorbitanten Sozialabbau | |
| betrieb, unter dem bis heute viele leiden. | |
| ## SPD aka Sammelbecken für skrupellose Machtpolitiker | |
| Meine Güte war das ein großmäuliger Mann, denke ich auch heute wieder, wenn | |
| ich mir seinen verblendeten [3][Auftritt] nach der Wahlschlappe gegen | |
| Angela Merkel angucke. Dieser Mann war, da muss ich so manchem | |
| Konservativen recht geben, wirklich mit Haut und Haaren | |
| „Champagnersozialist“. | |
| Und ich? Ich bin bis heute maßlos enttäuscht davon, dass selbst die SPD, | |
| die im Laufe ihrer Geschichte ja so viel für die Arbeiter:innen- und | |
| Frauenrechte getan hat, zugleich ein solches Sammelbecken für skrupellose, | |
| wirtschaftsaffine Machtpolitiker geworden ist. Oder war sie das schon | |
| immer, nur hatte ich es nicht mitbekommen, weil ich mich weder in der | |
| Schule noch im Studium wirklich intensiv mit ihr auseinandergesetzt hatte? | |
| Auch heute fühle ich mich jedes Mal schlecht, wenn ich pauschal über | |
| Parteien urteilen soll – außer, es ist die AfD. Aber leider fällt mir schon | |
| länger auf, dass die SPD keine gute Figur macht. Wo sind denn all die | |
| Politiker:innen mit Format, die Clara Zetkins und Regine Hildebrandts | |
| unserer Zeit, um ausnahmsweise auch mal auf die bedeutsamen Frauen der | |
| SPD-Geschichte hinzuweisen? Was ja nicht gerade oft vorkommt. Und wenn es | |
| sie denn gibt: In welcher Reihe haben sie sich versteckt? | |
| Selbst ein Kevin Kühnert, der ja viele vernünftige Ansichten hat, scheint, | |
| seit er zu den „Erwachsenen“ übergelaufen ist, irgendwie gesetzter, | |
| unscheinbarer geworden zu sein. Dafür bleiben andere durch ihr | |
| unangemessenes Verhalten in Erinnerung. Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel zum | |
| Beispiel, der die Ausbeutung der Fleischindustriearbeiter:innen als | |
| Wirtschaftsminister noch kritisiert hatte und sich nach dem Ende seiner | |
| politischen Laufbahn ausgerechnet von Corona-Tönnies als Berater engagieren | |
| und fürstlich entlohnen ließ. | |
| ## Der Rücktritt von Andrea Nahles | |
| Oder Familienministerin Franziska Giffey, die trotz der eventuellen | |
| Aberkennung ihres Doktortitels als Regierende Bürgermeisterin ins Rote | |
| Rathaus von Berlin einziehen will. Ach ja, und dann wäre da noch diese | |
| höchst pikante Angelegenheit rund um die mecklenburg-vorpommersche | |
| Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und Nord Stream 2, an deren Bau ja | |
| auch ein gewisser Gerhard Schröder nicht ganz unbeteiligt ist. | |
| Alles äußerst unschön! Aber wie gesagt, die SPD in meinem Kopf und die SPD | |
| in der Realität waren schon immer zwei grundverschiedene Dinge, von denen | |
| die Letztere in den drei großen Koalitionen als kleiner Bündnispartner an | |
| Angela Merkels Seite mehr und mehr verblasste, bis sie irgendwann fast | |
| unsichtbar geworden ist. Trotzdem wählte ich sie – aus Mangel an | |
| Alternativen. | |
| Doch dann kam der Rücktritt von Andrea Nahles, dessen [4][Begleitmusik] | |
| mich bis heute verstört. Zum einen, weil sie die erste Parteichefin in der | |
| Geschichte der SPD war, nach der verpatzten Europawahl dann aber bitte auch | |
| schnell wieder gehen sollte – so, als ob sie allein dafür verantwortlich | |
| gewesen wäre. Zum anderen irritierte mich, dass sie viele ihrer | |
| Genoss:innen wohl auch wegen ihres rüden Tons nicht mehr unterstützen | |
| wollten. Dabei wirkte Nahles – seien wir mal ehrlich – doch gar nicht so | |
| viel anders als der ein oder andere männliche Genosse. Aber wenn eine Frau | |
| mal etwas vulgärer wird, geht das gar nicht, schon klar. | |
| Und jetzt will ein so dröger Pragmatiker wie Olaf Scholz, der damals ja | |
| auch die unglückselige Agenda 2010 mit installiert hat, wirklich aus dem | |
| Merkel’schen Schatten treten und als SPD-Kanzlerkandidat für Aufbruch und | |
| Erneuerung stehen? Es hilft auch nicht, dass Scholz in seinem kürzlich | |
| vorgestellten Wahlprogramm für eine längst überfällige Erhöhung des | |
| Mindestlohns eintritt, für größere Umverteilung und mehr Klimaschutz. | |
| ## Kollektives Wegschnarchen beim Wahlkampf | |
| Denn das tun andere Parteien auch – und sie tun es mit mehr Esprit. Gegen | |
| ein kollektives Wegschnarchen beim SPD-Wahlkampf können auch die vielen | |
| Jusos und Menschen mit Migrationsgeschichte nichts mehr ausrichten, die von | |
| der SPD als Direktkandidat:innen aufgestellt worden sind. Sollen die | |
| wirklich so lange in ihren Parlamentssitzen versauern, bis auch aus ihnen | |
| das letzte bisschen Leben gewichen ist? | |
| Da hätte man doch lieber mal junge Talente ins Spiel bringen können. Wenn | |
| ein 34-jähriger Maturant wie Sebastian Kurz einen Staat lenken „kann“, dann | |
| kann das eine 45-jährige gestandene Geschäftsfrau wie Serpil Midyatli, | |
| stellvertretende Bundesvorsitzende der SPD, schon lange und tausendmal | |
| besser – und das sage ich ohne Ironie. | |
| Stattdessen schraubt zum Auftakt des SPD-Parteitags, so sah ich es im | |
| Onlinestream, bloß ein junger DJ betont lässig an seinem Turntable herum. | |
| Schon klar, man braucht die Jungen, Ungestümen, Kreativen – aber nur, um | |
| sich mit ihnen zu schmücken. Und als ich sowieso schon die Nase voll habe, | |
| fällt mein Blick auf eine Wahlwerbung der SPD in meiner eigenen Zeitung: Da | |
| haben sich die Kampagnenverantwortlichen doch tatsächlich eine | |
| überdimensionale Deutschlandflagge ausgedacht und auf den roten Streifen in | |
| der Mitte „Die Mitte ist wieder rot“ geschrieben. Ist das euer Ernst, werte | |
| Genossinnen und Genossen? Wen, bitte schön, soll das abholen außer | |
| fußballverrückte Hooligans und irgendwelche deutschtümelnden Patr:idioten?! | |
| Zwanzig Jahre habe ich euch die Treue gehalten, aber jetzt ist es wirklich | |
| genug. Macht’s gut, ciao. | |
| 15 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=mdft02-MerA | |
| [2] https://www.youtube.com/watch?v=gRJBn4cCMEA | |
| [3] https://www.youtube.com/watch?v=hS3Vw-H_hCA | |
| [4] /Ruecktritt-von-Andrea-Nahles/!5599736 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Fastabend | |
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