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# taz.de -- SPD-Mitglied über seine 70-jährige Treue: „Es geht um Veränder…
> Um den Kapitalismus abzuschaffen, kam Nils Diederich 1952 zur SPD. 70
> Jahre später ist der Politiker immer noch Parteimitglied. Doch warum nur?
Bild: Aufgabe von Politik? „Gesellschaftliche Probleme auf vernünftige Weise…
taz: Herr Diederich, Sie sind seit 70 Jahren Mitglied der SPD. Wie hält man
das aus?
Nils Diederich: Man braucht schon eine kräftige Konstitution.
Was heißt das mit der Konstitution genau?
Es geht vor allem um geistige Stärke – die SPD hat ja viele Wendungen und
Windungen hinter sich. Gott sei Dank habe ich stets versucht, mich an
einigen Grundsätzen entlangzuhangeln. Etwa dem, den mir mein 1933 aus
Deutschland emigrierter Onkel mitgegeben hat: „Wenn du irgendwas mit
Politik machen willst, dann lass dich nicht instrumentalisieren, indem du
dich in Seilschaften einbinden lässt.“
Was das Engagement in Parteien angeht, scheint das doch fast ein
Widerspruch zu sein: Seilschaften sind dabei ein zentraler Teil.
Stimmt, und daraus ergaben sich für mich auch steinige Wege. Aber letztlich
habe ich es ohne feste Einbindung in Seilschaften geschafft.
Haben Sie nie an Austritt gedacht?
Nein. Aber das hat etwas mit meiner Sozialisation zu tun. Ich bin in einer
sozialdemokratischen Familie aufgewachsen.
Zum 18. Geburtstag gab es das Parteibuch.
Schon kurz davor: Mein Vater hat 1952 den Vorsitz des SPD-Kreisverbandes
Zehlendorf niedergelegt, aus beruflichen Gründen. Da habe ich beschlossen,
ich trete jetzt ein.
Als Ersatz für den Vater …
Nein, zur Bewahrung der Kontinuität. Mein Großvater Franz ist schon 1888 in
die SPD eingetreten, geworben von Karl Liebknecht, dem Sohn von Wilhelm
Liebknecht …
… einem der Gründerväter der SPD.
Mein Vater war dann in den 20er Jahren politisch aktiv, meine Mutter seit
1922 Mitglied in der Sozialistischen Proletarierjugend, der
Jugendorganisation der USPD. Da gibt es also eine Traditionslinie von
„Kleinadel“ in der SPD.
Als Sie 1952 eintraten, war die SPD – noch ohne [1][Godesberger Programm] –
eine klassenkämpferische Partei.
In Berlin nicht. Hier war es die Partei, die unter ihrem
Nachkriegsvorsitzenden Franz Neumann Widerstand gegen die SED und die
Zwangsvereinigung geleistet hat. Das war der große Mythos und trug zum
Selbstbewusstsein bei, was sich auch in Wahlen niederschlug: Nicht umsonst
holte die SPD in Berlin einst 64 Prozent.
Hatten Sie noch einen anderen Grundsatz?
Ja. Etabliere dich erst beruflich, sodass du jederzeit aus der Politik
wieder aussteigen kannst.
Sie sind dann ja Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut (OSI) der
Freien Universität Berlin geworden – und saßen lange im Bundestag und haben
die Planungskommission des Regierenden Bürgermeisters geleitet.
Wissenschaft und Politik sind immer parallel gelaufen. Ich habe Soziologie
und Volkswirtschaft studiert, weil ich dachte, dass das in der Politik
nützlich sein kann. Ich habe mich aber nie für irgendwas beworben. Das hat
sich immer ergeben.
Sie haben Politik von außen und innen betrachtet. Was ist das Wesen von
Politik?
Es geht ums Verändern und um Veränderung. Als junger Mensch habe ich mich
als Sozialist gefühlt, als Linker: Wir wollten die Gesellschaft verändern.
Es waren die Adenauer-Jahre, die haben wir als das Reaktionärste vom
Reaktionären empfunden. Es fand eine Restauration statt, auch im Sinne von
Reintegration all derjenigen, die dem Nationalsozialismus zum Siege
verholfen hatten. Da hat man natürlich als Sozialdemokrat Widerstand
geleistet. Das Wesen der Politik ist letztlich, dass man sich, wenn man
sich für Gesellschaft interessiert, in die Politik hineinbegibt mit dem
Ziel, etwas anhand der Ideen, die man mit sich herumträgt, zu ändern. Das
ist immer eine Auseinandersetzung.
Womit?
Viele Menschen, die sich einfügen in die Strukturen, verlieren letztlich
die Ideen, die sie mit sich trugen, aus dem Auge. Die Ideen bleiben Fassade
oder rücken in den Hintergrund, die Tagespolitik, das pragmatische Vorgehen
wird wichtiger. Das kann man zum Beispiel jetzt bei den Grünen beobachten.
Diese Partei, hervorgegangen aus einem Bündnis von Ökologen und Pazifisten,
schwenkt gerade um zu einer Partei, die gar nicht genug Waffen in die
Ostukraine pumpen kann. Ist doch erstaunlich! Das ist eine pragmatische
Anpassung, ein absoluter Perspektivenwechsel, der interessanterweise auf
Zustimmung bei der Bevölkerung trifft. Eine ähnliche Situation übrigens wie
die der Sozialdemokraten 1948/49 in Berlin, als sie plötzlich gegen den
Kommunismus Widerstand geleistet hat.
Politik ist Veränderung, aber auch Pragmatismus. Was denn nun?
Politik ist zunächst einmal die Aufgabe, gesellschaftliche Probleme auf
vernünftige Weise zu lösen – im Interesse der Bürger und im Rahmen der
demokratischen Möglichkeiten. Und zugleich der Versuch der einzelnen
Parteien, ihre Ziele durchzusetzen.
Welches Ihrer politischen Ämter war Ihr liebstes?
Das als Bundestagsabgeordneter. Wobei: Ich habe versucht, alle Aufgaben und
Funktionen mit vollem Engagement auszufüllen.
Nun haben Sie sehr spontan gesagt: Bundestag.
Meine Motivation war schon immer, irgendwann Bundestagsabgeordneter zu
sein.
Schon mit 18?
Schon mit 14! Ich habe in der Familie täglich die politischen
Telefongespräche meines Vaters mitgekriegt und die Diskussionen, die
meine Mutter führte. Und ich galt als der „linke Politiker“ in meiner
Schulklasse.
Fühlten Sie sich später in diesem Wunsch bestätigt?
Als ich 1976 in den Bundestag kam, saßen da drei große Politiker vorne: der
Fraktionsvorsitzende Herbert Wehner, der Kanzler Helmut Schmidt und
Parteichef Willy Brandt. Das war sehr beeindruckend. Ich hatte das Gefühl,
die Sozialdemokratie ist auf dem richtigen Weg, etwas zu verändern. Und
man kann als Bundestagsabgeordneter sehr viel bewirken: Als
Berichterstatter für das [2][Berlinförderungsgesetz] und die Berlinhilfe
aus dem Bundeshaushalt habe ich das gemerkt.
Der Reiz als Bundestagsabgeordneter ist, dass man wirklich Einfluss hat?
Ja. Ich habe mich immer für die generelle gesellschaftliche Gestaltung
interessiert, und die findet eben im Bundestag statt. Als ich in die SPD
eintrat, war das Grundgesetz noch ganz neu; plötzlich gab es viele
spannende politische Ansätze bis hin zum Paragrafen 15 mit der Möglichkeit
der Verstaatlichung – der jetzt erstmals in der praktischen Diskussion eine
Rolle spielt.
Sie meinen den Erfolg der [3][Initiative Deutsche Wohnen und Co enteignen]
in Berlin über die Enteignung und Vergesellschaftung privater
Wohnungsunternehmen beim Volksentscheid. Überrascht es Sie, dass es so
lange dauerte, bis diese Debatte aufkam?
Es gab nie die Chance, den Artikel 15 des Grundgesetzes anzuwenden. Während
der Adenauer-Zeit war das obsolet, da ging es um andere Fragen. Und die
Gewerkschaften, damals die stärksten Verbündeten der Sozialdemokraten,
kämpften für bessere Bedingungen für ihre Arbeitnehmer innerhalb der
Wirtschaftswunder-Gesellschaft und für Mitbestimmungsrechte im Betrieb.
Enteignung spielte keine Rolle.
Wie finden Sie es, dass jetzt darüber diskutiert wird?
Es wirkt aus der Zeit gefallen. Die öffentliche Hand ist doch selbst
schuld, dass sie all diese Wohnungen verloren hat. Ein guter Teil des
Bestandes der heutigen Deutsche Wohnen geht auf eine
Wohnungsbaugesellschaft zurück, die in den 1920er Jahren von Gewerkschaften
gegründet wurde. Nach und nach wurde das privatisiert. Auch mein Haus – das
ich ohne großes Eigenkapital noch als Assistent an der Uni erwerben konnte
– war damals Eigentum von Gewerkschaften. Irre.
Wie schätzen Sie die Erfolgschancen eines möglichen Enteignungsgesetzes in
Berlin ein?
Eine große Frage ist, ob ein Bundesland den Enteignungsparagrafen des
Grundgesetzes überhaupt anwenden kann auf eine Gesellschaft, die bundesweit
tätig ist. Denn die Berliner könnten ja nur den Berliner Teil der Firmen
enteignen.
Und wie bewerten Sie die Debatte an sich?
Sie hatte bereits eine unglaubliche politische Wirkung. Man sieht, wie der
Immobilienkonzern Vonovia sich kringelt und dreht, um sich lieb Kind in der
Politik zu machen und in [4][Franziska Giffeys Wohnungsbündnis]. Das ist
der Versuch, alles schön aussehen zu lassen und die Wohnungsnot im Rahmen
des Marktwirtschaftlichen zu lösen.
Kann das gelingen?
Wenn Nachfrage da ist, kann nur Neubau helfen. Wohnungen sind soziale Güter
und erfordern, dass kommunale Gesellschaften regulierend wirken. Die von
Helmut Kohl gemeinsam mit der FDP abgeschaffte Gemeinnützigkeit für
Wohnungsgesellschaften muss wieder her; das steht ja auch im
Koalitionsvertrag der Ampel. Der Blick auf die langfristigen Entwicklungen
zeigt aber, dass die Nachfrage Schwankungen unterworfen ist. In Berlin
wurden in den 1990er Jahren tausende Wohnungen abgerissen; es gab eine
Stagnation bei der Bevölkerungsentwicklung. Und die Wohnungsfrage hat bis
2015 gar keine Rolle gespielt.
Da war der Druck im Kessel schon ziemlich groß, den Regierenden
Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) hatte das aber nicht interessiert.
Das kann schon sein. Jedenfalls laufen wir jetzt der Wohnungsentwicklung
hinterher. Aber mit Blick auf die 1990er muss man sich doch fragen: Ist die
Wohnungsnot vielleicht auch nur eine kurze Phase? Die Berliner Bevölkerung
stagniert fast wieder, im Umland entstehen auch viele Wohnungen. Es kann
durchaus sein, dass in drei, vier Jahren alle fragen, wieso wir eigentlich
so viel bauen.
Ich wollte eigentlich von der Enteignungsdebatte zum Otto-Suhr-Institut
überleiten, weil das so gut passt. Seit 1971 haben Sie dort als Professor
gelehrt. Das OSI war damals einer der Hotspots der ideologischen
Auseinandersetzungen über die Zukunft der Republik. Wie haben Sie das
wahrgenommen?
Ich habe schon vorher dort gelehrt und deshalb die 68er-Zeit sehr bewusst
miterlebt. Der Opportunismus der Studenten, auch der ganz radikalen, hat
mich ganz besonders überrascht.
Wie meinen Sie das?
Ein Beispiel: Ein Student in einem Seminar an einem Freitagvormittag
entschuldigte sich, er müsse früher gehen wegen einer Demonstration und er
müsse sich beeilen, weil er ja noch packen müsse. Ich fragte: Wieso packen?
Da sagte er, gleich nach der Demonstration müsse er sich in den Flieger
setzen, weil er mit seinen Eltern nach Sylt reist. Ja, ja, die große
Revolution, aber natürlich eingebunden in das gute gutbürgerliche Leben …
So bekam ich ein sehr differenziertes Verhältnis zu dieser Bewegung. Ich
war kein 68er und damals schon so eine Art Altvorderer.
Sie waren immerhin Mitglied im SDS, dem Sozialistischen Studentenbund, ein
wesentlicher Akteur des radikalen gesellschaftlichen Aufbruchs der 60er
Jahre.
Aber der zerfiel. In den 70er Jahren habe ich mich in der
Hochschulinitiative für den demokratischen Sozialismus engagiert. Da
diskutieren wir noch heute die Frage, welchen Gehalt die Idee des
demokratischen Sozialismus hat.
Und?
Das hat sie. Die Frage ist doch: Soll man sich von Vorstellungen über
ideale Gesellschaften verabschieden, weil man die Gefahren des Versuchs
kennt, Ideologien eins zu eins in die Realität umzusetzen?
Sicher nicht!
Genau. Ich zitiere gerne Carl Schurz, Revolutionär von 1848, der in die USA
ausgewandert ist und für die amerikanische Regierung gearbeitet hat:
„Ideale sind wie die Sterne. Wir richten unseren Kurs nach ihnen, aber wir
erreichen sie nie.“ In dem Sinne verstehe ich auch die Auseinandersetzung
mit der Frage: Was ist demokratischer Sozialismus?
Sie waren gleichzeitig Hochschullehrer und Bundestagsabgeordneter. Sie
haben auf der einen Seite Politik gemacht und auf der anderen als
Wissenschaftler Politik analysiert und über Parteien geforscht, also über
sich selbst. Sie waren das Objekt Ihrer Forschung.
In gewisser Weise ist das richtig. Das behindert einen aber nicht in der
Forschung, sondern in der Politik. Wenn man mit einem analytischen Blick
auf die Arbeit der Politik schaut, hinterfragt man sich auch ständig
selbst. Ich habe mich dadurch in meiner naiven Handlungsfähigkeit als
Politiker begrenzt. Wichtig ist: Man muss die Rollen trennen.
Geht das?
Ja. Deswegen habe ich nie danach gestrebt, Minister zu werden oder
Staatssekretär. Die Rolle als Abgeordneter hat mir genügt. Das hatte auch
den Vorteil, dass ich Studenten in meinen Lehrveranstaltungen vermitteln
konnte, was in der Politik tatsächlich passiert. Und man muss sich
tagtäglich sagen: Du spielst in der Gesellschaft eine bestimmte Rolle. Aber
du bist daneben auch Mensch, Individuum, das in andere Strukturen
eingebunden ist. Das muss man trennen. An dieser Stelle kann übrigens
Korruption entstehen: Die politische Rolle wird dazu benutzt, den Eigennutz
zu mehren. Dazu habe ich auch Lehrveranstaltungen gemacht.
Waren Sie erfolgreicher in der Politikwissenschaft oder als
Bundestagsabgeordneter?
(überlegt) Als Politikwissenschaftler, würde ich sagen. In meiner Garage
stehen zehn Kartons mit Examensgutachten. Ich habe auch heute noch
Schriftwechsel mit Absolventen. Ich denke, ich habe meine Aufgabe als
Hochschullehrer einigermaßen ordentlich erfüllt.
Ihr Vermächtnis ist der [5][Wahl-O-Mat], ein Online-Tool, mit dem Menschen
ihre Parteipräferenz vor Wahlen herausfinden können.
Gegen Ende meiner Uni-Karriere habe ich den Typus meiner Lehre verändert
weg von empirischer Forschung hin zu Projekten, in die die Studenten selber
eingebunden waren mit starkem Praxisbezug. So haben wir, in Zusammenarbeit
mit der Bundeszentrale für politische Bildung und anderen Partnern, in
einem zweisemestrigen Seminar 2002 nach einem holländischen Vorbild den
Wahl-O-Mat entwickelt – ein interessantes Spielzeug.
Haben Sie das Spielzeug mal wieder ausprobiert und geschaut, ob Sie noch
bei der SPD als Wahlempfehlung landen? Bei vielen ist das Ergebnis ja recht
überraschend.
In letzter Zeit nicht mehr. Aber ich sollte es vielleicht bald mal wieder
testen.
Wenn Sie auf diese 70 Jahre SPD zurückblicken: Was ist die wesentliche
Veränderung bei Ihnen und welche bei den Parteien?
Na ja, 1952 hatte ich noch die Illusion, man könnte tatsächlich aktiv etwas
tun, um den Kapitalismus in eine andere Gesellschaft zu überführen. Diese
Illusion ist bis auf wenige Elemente geschwunden: wir sind in eine
Konsumgesellschaft hineingewachsen, die notwendig ist, um den Kapitalismus
in Gang zu halten. Verändern könnte man das nur, indem man diesen
Konsumismus verändert. Wenn ich die Nachfrage bremse, bricht das
Wirtschaftssystem zusammen. Aber Freiheit zu Konsum einerseits, politische
Versuche zu Verhaltensänderung anderseits erzeugen Widersprüche.
Sehen Sie das auch konkret?
Ja, etwa bei den ideologischen Ansätzen der Grünen, das ist fast eine Art
Erziehungsdiktatur. Man muss die Leute gewöhnen, indem man sie in bestimmte
Richtungen drängt und zwängt. Ich bin sehr skeptisch, ob das funktionieren
kann. Ich bin aber auch skeptisch, ob funktionieren kann, was viele
Sozialdemokraten heute machen, nämlich Probleme über breitgestreute
Sozialsubventionen zu lösen. Zum Beispiel beim 9-Euro-Ticket und der
FDP-Kompensation für den Benzinpreis für jedermann. Ich glaube nicht, dass
das irgendetwas bewirkt für die Anpassung der Gesellschaft an das, was Olaf
Scholz zu Recht Zeitenwende genannt hat.
Hm.
Insgesamt bin inzwischen vielleicht etwas skeptischer geworden, aber habe
den Optimismus nicht verloren, dass man doch eine ganze Menge machen kann.
Wie sieht es aus mit der Familientradition: Sind Ihre Kinder Mitglied der
SPD?
Immerhin zwei von drei Söhnen, aber aktiv ist keiner. Einer ist ganz aus
der Gesellschaft ausgestiegen, Veganer geworden und lebt tatsächlich auf
dem gesellschaftlichen Minimum als Musiker, durch Auftritte – obwohl er
promovierter Chemiker ist. Eines Tages hat er gesagt: Ich will diesen
Kapitalisten nicht mehr dienen, ich steige aus.
Orientiert sich Ihr Sohn an einer Ideologie oder Utopie?
Er führt ein individuelles Leben. Er hat sich entschieden, dass er sich in
diese Gesellschaft nicht integrieren will. Wir sagen ihm immer: Da hast du
aber Glück gehabt, dass diese Gesellschaft für dich alles Mögliche zusammen
bereitstellt – Wohngeld und Sozialhilfe etwa.
Finden Sie es schade, dass es eine Karriere mit 70 Jahren in der Partei
fast nicht mehr gibt?
Was heißt schade? Ich bin eine Ausnahme, weil ich schon in einer
sozialdemokratischen Familie groß geworden bin. Ein guter Teil jener
Generationen, die während und nach der Willy-Brandt-Zeit in die Partei
eingetreten sind, kommt aus kleinen mittelständischen Verhältnissen, aus
Familien, die aufgestiegen sind dank sozialdemokratischer Politik, die
vorher Wirksamkeit gezeigt hat. Die haben sich nicht mit 18 entschieden, in
die SPD zu gehen, sondern erst ein, zwei, drei Jahrzehnte später. Und die
heutige Protestgeneration wie Fridays for Future hat eine andere
Orientierung auf einen einzelnen Zweck, ein Ziel. Die kommen gar nicht auf
die Idee, sich in eine Partei einzusortieren, die auf Dauer ein Programm
verwirklichen will.
Was ja auch nicht falsch ist.
Nein, falsch ist es überhaupt nicht. Es gibt bis jetzt noch keine
gesellschaftliche Konvergenz, wie die Gesellschaft, wie die Parteien
versuchen darauf einzugehen. Denn die Verankerung der Parteien im
Grundgesetz, wonach sie an der „Willensbildung“ mitwirken, ist nicht nur
ein Privileg, sondern es ist ein gesellschaftlicher Auftrag. Und man kann
sagen, dass die Parteien diesen Auftrag heute nicht ausfüllen.
16 Jul 2022
## LINKS
[1] /Debatte-Sozialdemokraten-nach-der-Wahl/!5447951
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Berlinf%C3%B6rderungsgesetz
[3] /Deutsche-Wohnen-und-Co-enteignen/!t5562213
[4] /Kampf-gegen-steigende-Mieten/!5859467
[5] https://www.bpb.de/themen/wahl-o-mat/
## AUTOREN
Bert Schulz
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Unsere Autorin hat über Jahrzehnte sozialdemokratisch gewählt. Schon um
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dazu?
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Schwankungen in der Wählergunst gab es nur bei den rechten Parteien.
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