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# taz.de -- Krise der Sozialdemokratie: Meine Mutter, die SPD und ich
> Die Mutter unserer Autorin ist seit über 40 Jahren in der SPD. Sie
> leitete lange einen Ortsverein, heute ist ihr die Partei fremd geworden.
> Wie kam es dazu?
Bild: Elisabeth Bühring trat 1973 in die SPD ein
Wenn die SPD eine Wahl verliert, ist meine Mutter oft im Fernsehen zu
sehen. 2009 fuhr sie zur Party nach der Bundestagswahl ins
Willy-Brandt-Haus. Damals hatte die Partei schon schlechte Umfragewerte,
Frank-Walter Steinmeier hatte als Spitzenkandidat einen mäßig inspirierten
Wahlkampf geführt, aber als die ersten Hochrechnungen kamen, war das doch
ein Schock: nur 23 Prozent.
Wenn meine Mutter erstaunt ist, reißt sie die Augen auf und formt die
Lippen zu einem schmalen O. An diesem Abend hielt eine Kamera des ZDF
direkt drauf. Seitdem benutzt der Sender diese Bilder immer wieder bei
SPD-Niederlagen, zuletzt nach der Landtagswahl in Hessen im Oktober.
Ich rufe meine Mutter schon länger nicht mehr an, wenn ich traurig bin.
Nach den letzten beiden Wahlen war das anders. „Und, wie geht es dir mit
dem Ergebnis?“, fragte ich. Sie sagte: „Ja, nicht gut. Ich habe richtig
Sorge.“
Meine Mutter ist 1973 in die SPD eingetreten, mit 21 Jahren. Lange Jahre
war sie Vorsitzende eines Ortsvereins mit 60 Mitgliedern und
stellvertretende Bürgermeisterin einer Gemeinde im Landkreis Osnabrück,
westliches Niedersachsen, geprägt von Schweinezucht und Legebatterien.
Tiefschwarz alles, und da war sie in der SPD.
Ich habe die SPD vielleicht auch mal gewählt, kann sein, ich mag mich daran
nicht erinnern. Es gab aber nie eine Partei, der ich meine Stimme gern
gegeben habe. Ich habe sie immer bunt verteilt. Dass die SPD nun qualvoll
stirbt, betrifft mich aber, weil ich einmal an ihre soziale Politik
geglaubt habe. Die SPD war in meiner Kindheit ein Zuhause. So vertraut wie
für manche die Furnierschrankwand im elterlichen Wohnzimmer waren für mich
weiß-rote Kugelschreiber und Broschüren mit Fotos meiner Mutter. Und zu
diesem Zuhause gehörte auch das Versprechen von Gerechtigkeit, das ich mit
dem Wort „Genosse“ verband.
## „Schröder“, nicht mehr „Gerd“
Heute spricht meine Mutter von [1][„Schröder“, nicht mehr von „Gerd“].…
Partei ist ihr fremd geworden, sie engagiert sich nicht mehr. Ich möchte
wissen, wann das kaputtging, das zwischen meiner Mutter und der SPD. Wie
sich die politische Heimat meiner Kindheit auflöste. Also fahre ich mit
meiner Mutter noch mal hin, zu ihrer alten Gemeindefraktion.
Auf dem Weg zur Fraktionssitzung ihres früheren Ortsvereins fahren wir an
einem Pferdegestüt vorbei, das der Familie eines früheren Schulfreunds
gehört. Meine Mutter erzählt, dass die Besitzerin mal bei uns zu Hause
anrief und sich beklagt habe, ich hätte ihren Sohn ein
„Kapitalistenschwein“ genannt. Meine Mutter behauptete am Telefon, ein
solches Vokabular würde bei uns nicht gebraucht, dabei stimmte das gar
nicht.
Heute sagt das keiner mehr. Und vielleicht ist das Teil des Problems, dass
auch in der SPD keiner mehr „Kapitalistenschwein“ sagt.
Die alte Fraktion meiner Mutter trifft sich in den Räumen der
Arbeiterwohlfahrt: gelb gemusterte Papiertischdecken, rotes Plastiklaub,
Bier mit Tequila-Geschmack. Fünf Leute sitzen da. Die zwei Frauen in den
Vierzigern waren mal Schülerinnen meiner Mutter, die Kunst und Arbeitslehre
an einer Gesamtschule unterrichtet hat.
## Egal, welche Partei die Straßen flickt
Die eine Frau kenne ich noch von früheren Ausflügen. Den Mann daneben,
ungefähr in meinem Alter, so Mitte dreißig, kenne ich nicht. Auch den
Fraktionsvorsitzenden nicht. Dann ist da noch der Bürgermeister, den kenne
ich, der ist seit Ewigkeiten dabei. Seit 2001 ist er der erste
SPD-Bürgermeister in der Gemeinde. Er sieht so aus, wie man sich den
Bürgermeister bei Benjamin Blümchen vorstellt, mit gemütlichem Bauch. „Dich
muss ich erst mal drücken“, sagt er zu meiner Mutter. Und macht das mit
norddeutscher Herzlichkeit.
Lange wurde in der Gegend nur CDU gewählt. Mittlerweile sei die Partei bei
Kommunalwahlen egal, da gehe es um die Person, sagen sie hier. Der
SPD-Bürgermeister ist so beliebt, dass die CDU sogar auf Gegenkandidaten
verzichtet hat. Wenn man die Leute in den Ratssitzungen reden höre, könne
man oft gar nicht sagen, wer zu welcher Partei gehöre, sagt eine der Frauen
am Tisch. Es sei egal, welche Partei die Löcher in den Straßen flicke, sagt
meine Mutter.
Drei Tagesordnungspunkte gibt es bei der Fraktionssitzung, dann Sonstiges.
Grundstücksgrenzen, Asphalt und Probleme mit neumodischer
Vorgartengestaltung. Weil immer mehr Hausbesitzer ihre Grundstücke mit
Steinen und dickfleischigen Immergrünpflanzen gestalten, finden die Bienen
kaum genug Blüten. Wenigstens die AfD ist hier kein Problem.
Meine Mutter hört zu und isst AWO-Schokolade, sie faltet das Papier
ordentlich zusammen, manchmal nickt sie. Sie wirkt, als hätte sie das alles
nicht besonders vermisst. Nur bei der Turnhalle horcht sie auf. Seit 25
Jahren soll die gebaut werden. „Dass die immer noch nicht fertig ist“, sagt
meine Mutter und schüttelt den Kopf. Wenn jetzt in Berlin die Koalition
platze, flössen die schon zugedachten Bundesgelder nicht, fürchtet die
Fraktion. Keine Sorge, vor Weihnachten passiert da nichts, sagt der
Bürgermeister.
## Die SPD als Provokation
1980 ziehen meine Eltern, die beide als Lehrer an einer Gesamtschule
arbeiten, in die Gemeinde. Zwei Jahre später werde ich geboren. Unser Dorf
besteht aus vier Bauernhöfen und drei weiteren Häusern. Weizenfelder,
Kuhweiden. Wir sind Zugezogene und meine Mutter bei der SPD. Das reicht
schon, um nicht nur Freunde zu haben. Außerdem raucht meine Mutter Marlboro
Light, engagiert sich gegen Baumfällungen, spinnt die Wolle unserer
Hobby-Schafzucht. Sie ist im Emsland aufgewachsen, klassisch
nachkriegskonservativ, ihr Vater wählte immer CDU. Dass sie zur SPD ging,
war wohl Provokation. Die Grünen gab es ja damals noch nicht.
Mir war als Kind der Regenwald wichtig. Ich malte Plakate mit vielen Bäumen
und hängte sie in Supermärkten auf. Wir hatten ein Western-Windrad, mit
großen gelben Flügeln, das Strom machte und auf das man klettern konnte –
und das war ein Problem auf dem Land, das Anderssein.
Drohungen, Anfeindungen, körperliche Gewalt in der Kneipe, die Welt der
Filterkaffee-Trinker konnte auch schnell feindlich werden. Ich erinnere
mich an die Bilder vom Messer-Attentat auf Oskar Lafontaine 1990. Wie die
braunen Stühle unordentlich dort standen, das weiße Kleid der Täterin, die
Rosen. Was blieb, war ein Gefühl von „Wir gegen die“, ein wohliges Gefühl.
Ich bin in dem Jahr geboren, als Helmut Kohl Kanzler wurde. 16 Jahre
aufgewachsen mit diesem schmierigen Wohlstands-Grinsen. Und mit dem Gefühl
der Machtlosigkeit. Dort die Schlechten, wir die Guten. Solidarität, sich
kümmern. Das Gute war für alle da. „Gemeinsam sind wir stark“, „Freu di…
auf den Wechsel, Deutschland“, solche Plakate klebte die SPD damals. Links
sein, das war für meine Mutter, fortschrittlicher zu sein, aufgeklärter,
„nicht so engstirnig“. Heute möchte sie anstatt „links“ lieber sagen: …
wagen.
## Gemeinderat, Bauausschuss, Jugendausschuss
Meine Mutter hatte zu Hause viele Ordner im Regal. An den Abenden musste
sie zu Sitzungen. Gemeinderat, Bauausschuss, Jugendausschuss. Sie war in
der ASF, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen. Und sie war
stolz, weil in ihrer Ratszeit mehr Frauen als Männer in der Fraktion saßen.
Erstmalig. Sie machte auch eine Ortsvereinszeitung, die hieß moment mal.
Darin standen Sätze wie: „Der Staat leistet sich den Luxus,
Spitzenverdienern ihre Haushaltshilfe, teure Geschäftsreisen und sogar
Schmiergelder steuerlich zu bezuschussen.“
Der Ortsverein bestand aus Menschen in beigen Jacken, mit rosa Wangen,
manchmal Paare, ein Tierarzt, klein und graue Haare, viele Lehrer wie meine
Eltern, außerdem Polizisten, Maurer. Meine Mutter fing dort als
Schriftführerin an und wurde Anfang der 90er zur Vorsitzenden gewählt.
Manchmal fuhren sie in Bussen irgendwohin und ich durfte mit. Es gab
Kegelabende mit Bier – und für mich Fanta und Kekse aus Metalldosen.
Im Herbst 1992 stand meine Mutter weinend im Bad, einen lila Waschlappen in
der Hand, durch die geöffnete Tür hörte man das Radio. Sie weinte, weil
„Willy“ gestorben war. Ich war zehn und machte mir Sorgen. Dass sie wegen
Willy Brandt geheult habe, könne sie sich wirklich nicht mehr vorstellen,
sagt sie heute.
Kurze Zeit später, 1993, hat die Partei in einer Urwahl über ihren
Kanzlerkandidaten abstimmen lassen. Die Basis, das waren damals noch
870.000 Mitglieder. Und die Urwahl versprach Teilhabe. Wir waren die
Partei. Es war ein guter Sommer. Ich spielte probeweise Fußball und
entschied mich dann doch für Judo. Beim Ballett sagte man, ich sei zu dick.
Obwohl ich gar nicht dick war. Ich glaube, meine Mutter freute das.
Ballett, das waren wir nicht, das waren die anderen.
## Ein Kribbelgefühl am Wahlabend
Meine Mutter baute für die Abstimmung über den Kanzlerkandidaten das
Schützenvereinsheim zum Wahlbüro um. Dafür musste man große Pappen auf die
Tische gegenüber dem Schießstand stellen und jeweils einen Kugelschreiber
anbinden. Meine Mutter stimmte dann nicht für Wieczorek-Zeul, obwohl sie
für sie war und nicht für Scharping, nicht für Schröder. Das sei eine
verschenkte Stimme, sagte sie. Ich verstand das nicht: Wenn sie möchte,
dass sie gewinnt, warum stimmt sie dann für einen anderen? Es war mein
erster Kontakt mit Realpolitik.
Ich freute mich als Kind, wenn sonntagabends in der „Lindenstraße“ die
ersten Hochrechnungen kommentiert wurden, weil meine Eltern sich freuten.
Bei den Worten „erste Hochrechnung“ hatte ich lange Zeit ein Kribbelgefühl
wie beim Gedanken an Silvester.
Über Zeitungsartikeln der Lokalpresse, die meine Mutter ordentlich
abheftete, standen Überschriften wie „SPD fordert die Rücknahme der
Kindergarten-Sparbeschlüsse“, „SPD befasste sich mit der Asylproblematik�…
auch einen empörten Leserbrief an das Kreisblatt heftete sie ab, in dem sie
sich beschwerte, die Zeitung würde nur im Sinne der CDU berichten. Aber
einmal schrieb die auch, wie meine Mutter dem Gegner der CDU einen „Hang
zur Polemik“ vorwarf . Ihre Streitlust fand ich „cool“, so sagte man dama…
noch.
Zur Wahl 1994 machte meine Mutter eine Broschüre, in der stand, dass die
Ausgaben für „Steuerkriminalität“ viel höher seien als für Sozialhilfe.…
Plakate der CDU zeigten in diesem Jahr rote Socken. Bei der Wahl musste ich
dann allein draußen vor dem Wahlbüro warten, weil ich mit einem
SPD-Luftballon spielte. Als Wahlwerbung sei der an der Urne verboten,
sagten die Wahlhelfer. Meine Mutter war empört und ich fühlte uns in eine
Außenseiterrolle geschoben, die es einfacher machte, zu glauben, wir seien
im Recht.
## Dann war „Gerd“ Kanzler
Dann verlor Kohl die Wahl, ich war 16 und es kam mir wie eine Erlösung vor.
Im Wahlkampf hatte meine Mutter für Schröder gekämpft, er habe sich in
Niedersachsen „nachhaltig um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gekümmert“,
sagte sie auf einer Veranstaltung. Dann war „Gerd“ Kanzler. Es gab Sekt und
Freudenschreie. Es war ein bisschen so, als würde einem endlich das Haus
gehören, in dem man wohnt, endlich die Fassade streichen, endlich das Dach
ausbessern. „Endlich mal regieren“, sagte meine Mutter.
Ulla Schmidt, Franz Müntefering und Peter Struck, die waren wie entfernte
Verwandte: sympathisch und fremd. Im Dorf hatten sie keine große Bedeutung.
Und die Freude über den Sieg von Rot-Grün verblasste. „Jetzt müssen wir
aber …“, sagte meine Mutter.
Und dann hatte man bald immer wieder das Foto vom Wahlabend im Kopf, von
[2][Gerd, Joschka und Oskar, ihre Champagnerschalen] haltend, feist
grinsend. Mit der Macht kamen Hartz IV, Scharpings Pool-Fotos und
schließlich die Vertrauensfrage. Eine neue Sozialdemokratie, die sich um
die kümmerte, die gar nicht in unserem Bekanntenkreis waren. Genosse der
Bosse. Natürlich tranken meine Eltern auch Barolo, aber nur vom Aldi.
Trotzdem sprach meine Mutter manchmal, als sei sie mit in der
Regierungsverantwortung. Während sie noch mit Sach- und Fraktionszwang
argumentierte, wurde alles immer schlimmer. Niemand verstand die
Riesterrente, Agenda 2010, Arbeitslosengeld II.
## Ein rotes Mazda-Cabriolet
Wer bestimmen darf, macht auch Fehler. Geht nicht anders. „Schlimmer als
mit der CDU kann es ja nun nicht werden.“ An diesem Satz hielt sich meine
Mutter in den späten Jahren von Rot-Grün noch lange fest. „Politische
Träume sind wirklich etwas anderes, als echte Politik machen zu müssen“,
sagt sie heute. „Aber diesen Schröder-Scheiß, Hartz IV, das habe ich schon
als nicht sozial empfunden.“
In der Endphase von Rot-Grün wurde meine Mutter zum Realo und legte sich
schließlich ein rotes Mazda-Cabriolet zu. Ich freute mich für sie, denn sie
gönnte sich selten was.
Ich musste dann los, unser Dorf und die gemeinsame SPD-Heimat hinter mir
lassen. Ich fuhr auf der Schnellstraße entlang verschiedener
Politisierungsmöglichkeiten: Studium, Anti-Nazi-Demos, Freunde mit
interessanten Ideen von der Welt. Ich arbeitete mehr durch Zufall kurz als
Pressesprecherin eines PDS-Kandidaten und sollte die meiste Zeit nur darauf
achten, ob seine Socken zur Krawatte passten.
## Kuschelige Popkultur
Als meine Mutter 21 war, trat sie in eine Partei ein, sie glaubte an
Gerechtigkeit und entwickelte daraus ein großes Pflichtgefühl. Ich dagegen
fand statt einer politischen Heimat eine kuschelige Popkultur. Ich zog nach
Berlin, wo es in den Clubs keine Parteien gab, aber die Idee einer
milieuübergreifenden Szene. Das Versprechen lautete: Jeder kann dabei sein.
Jedes Hyperindividuum. Die große gemeinsame Erzählung aber fehlte.
Politische Identität war nur ein nachgeordneter Teil in der Erzählung des
eigenen Lebens.
An den Wahlabenden äffte ich mit Freunden eine Zeit lang die Floskeln der
Parteipolitiker nach: „Klarer Auftrag“, „Verlust abgewendet“, „gestä…
einziehen“. Erst war das noch lustig, dann war es lächerlich. Ich habe
heute vergessen, was ich bei vielen Wahlen angekreuzt habe, weil es mir
egal war. Ein paarmal habe ich „Die Partei“ gewählt, weil ich mir die
Finger nicht schmutzig machen wollte. Weil der Zynismus sich als
Ehrlichkeit verkleidete.
Eine Kindheit mit der SPD machte aus mir keine sozial engagierte Person.
Die SPD gewann mich nicht, und sie verlor gleichzeitig das Engagement
meiner Mutter.
Denn meine Mutter spielte jetzt mehr Solitaire auf dem Computer, sie fuhr
Rennrad und begann Saxofon zu lernen. 2006 hat sie dann all ihre
politischen Mandate abgegeben. Eine Krankheit machte es ihr leichter. Wenn
ich sie heute nach den Gründen frage, sagt sie: „Es war mir zu viel. Ich
fühlte mich überfordert. Immer wurde man angemacht, man war der Mülleimer
für alle Menschen, die sich über die da oben aufregen wollten.“
## Urkunde, Blumenstrauß und Handtuch-Set
2013 hat sie eine Urkunde für vier Jahrzehnte Parteimitgliedschaft
bekommen, einen Blumenstrauß und ein Handtuch-Set. Das hatte sie sich
gewünscht, etwas Nützliches. „Der politische Rückzug war auch Enttäuschung
über den Verrat am sozialen Gedanken, aber parallel dazu hat sich die
Gesellschaft eben auch entwickelt, es gab nicht mehr so viele Arbeiter, für
die wir uns einsetzen müssen“, sagt meine Mutter, auch wenn sie schon vor
Längerem entschieden hat, nicht mehr bei Amazon zu bestellen, weil sie die
Arbeitsbedingungen dort ablehnt.
„Mit der Regierungsbeteiligung bin ich viel angreifbarer geworden. Vorher
waren wir die, die immer ‚Geht so nicht!‘ geschrien hatten. Und dann lief
es nicht so viel besser als bei den anderen.“
Meine Mutter packte nach dem Parteijubiläum die Handtücher ein und zog in
die nächste große Stadt – mehr Anonymität schafft auch weniger
Pflichtbewusstsein. Sie fing an, als Hobby bunte Monsterpuppen zu nähen,
die die Zunge rausstrecken konnten. Das Aufgeben der Politik war für sie
vielleicht auch das Aufgeben eines Selbstbildnisses. Und ich glaube, sie
nahm sich selbst auch nicht mehr wichtig genug, um Politik zu machen.
Meine Mutter und ich haben dann kaum mehr über Politik geredet, nur noch
über mein Kind, ihren Enkel. Als der Schulz-Zug angerollt kam, rief meine
Mutter aber mit aufgekratzter Stimme an: „Das könnte noch was werden!“ Es
waren kurze Wochen der Euphorie. Als nach der erneuten Niederlage und dem
Scheitern von Jamaika die SPD-Basis über eine neue Große Koalition
abstimmte, hat meine Mutter nicht mehr mit abgestimmt. Könne man ja eh
nichts machen, was soll’n sie denn tun?
Die AWO-Schokoladentäfelchen bei dem Fraktionstreffen sind jetzt
aufgegessen, mittlerweile wird diskutiert, wie die SPD noch zu retten sei.
Die komplette Spitze austauschen? Am Tisch herrscht Uneinigkeit. Der
Bürgermeister sagt: „Nä.“ Der jüngere Mann sagt: „Es täte jetzt schon
langsam mal gut, wenn Kevin kommen würde.“ Die Sozialdemokratisierung der
CDU müsse aufhören, finden alle. Neue Themen setzen, sagt der
Bürgermeister, die gäbe es ja: Werksarbeit abschaffen. Fachkräfte stärken.
Mindestlohn auf 12, 13 Euro anheben.
## Wer mitmacht, bleibt meist dabei
34 Mitglieder hat die SPD in Mutters früherem Ortsverein, nachdem er sich
einmal aufgeteilt hatte. Ziemlich gleich ist die Mitgliederzahl hier in den
vergangenen 20 Jahren geblieben. Zwei jüngere sind nach der Bundestagswahl
dazugekommen. Und wer mal mitmacht, bleibt meist dabei. Das sei hier so.
Das Nicht-Mitmachen sei vor allem dem Zeitmangel geschuldet. „Alle am
Arbeiten, organisieren die Kinder weg, die Familienstruktur hat sich
geändert, wann bleibt da noch Zeit?“, fragt der Bürgermeister.
Meine Mutter steht auf und setzt sich zu ihrem Enkel, der am Nebentisch
warten und spielen muss, wie ich früher. Als ich die Gruppe frage, ob sich
die SPD denn nun auflöse, geht meine Mutter mit dem Kind raus, um im Flur
laut Fußball zu spielen, als wolle sie deutlich machen, dass sie mit alldem
nichts mehr zu tun hat.
Als wir nach Hause fahren, frage ich, warum sie aufgestanden ist. „Ich
dachte nur: Oh Gott, wie gut, dass ich das alles nicht mehr machen muss.“
Und, willst du austreten? „Nein, sicher nicht.“ Dann lacht sie und sagt,
das erledige sich ja wohl von allein. Über 460.000 Mitglieder hat die
Partei nur noch. Kann man die einfach so auflösen? Letztens habe sie
geträumt, dass die SPD das Willy-Brandt-Haus verkauft, weil die Partei
pleite sei, sagt meine Mutter.
Warum willst du die Welt nicht mehr verbessern, Mutter? „Ich will mich
nicht mehr verantwortlich fühlen.“ Ich sage was von Olaf [3][Scholz' Lügen
nach dem G20-Gipfel], dem Ekel vor Karrieristen wie Tim Renner, dem
verlachten Ex-Kulturstaatssekretär in Berlin, von unserer Ferne zu Andrea
Nahles, die ihrer Tochter aus der Bibel vorliest. Da wird meine Mutter
stiller.
## „Ich will mich für so was nicht mehr rechtfertigen müssen“
Als ich ihr erzähle, dass Sigmar Gabriel als Autor für einen Verlag bis zu
30.000 Euro im Monat verdient und vermutlich viel weniger schreibt als ich,
sagt meine Mutter: „Sauerei“. Eine kurze Pause: „Ich will mich für so was
nicht mehr rechtfertigen müssen“, sagt sie dann lauter und sticht mit dem
Zeigefinger in die Luft.
In unserer alten Heimat gibt es jetzt eine Kneipe, die „Alte Heimat“ heißt.
Mit Pulled Pork Burger und Livemusik. Als wir vorbeifahren, meckert meine
Mutter, dass die Spätaussiedler, die Russlanddeutschen, AfD wählen würden.
Warum sie das machten, kann sie sich nicht erklären. „Die haben doch
alles“, sagt meine Mutter. So was hätte sie früher nicht gesagt.
Sind wir vielleicht doch immer konservativer gewesen, als wir von uns
dachten? „Ich bin konservativer geworden“, sagt meine Mutter. „Egoistisch…
auch. Aber wer guckt denn nicht erst vor seiner Haustür? Die Idealisten,
aber werden die nicht belächelt?“
Meine Mutter ist jetzt im Seniorenbeirat in der Stadt, in der sie lebt. Sie
setzt sich für Techniklotsen ein, die älteren Menschen bei der
Digitalisierung helfen sollen. Und auch das Angebot von Seniorenportionen
in Restaurants fände sie eine gute Idee, weil der Hunger kleiner wird, so
wie man selbst. „Im Alter ist man nicht mehr so mutig. Früher war da ein
Ziel, da war eine Empörung und die hat man herausgeschrien und hinterher
geschaut, wie man mit den Prügeln umgeht.“
## Ist die SPD CDUisiert worden?
Manchmal geht meine Mutter noch zum Sommerfest des neuen Ortsvereins, da
seien viele junge Leute, alle sehr vernünftig, die würden nicht so laute
Forderungen stellen wie sie früher. „Aber die brauchen mich hier nicht, ich
kenne mich mit Stadtthemen auch nicht aus. Ich habe an den Wahlkampfständen
gestanden und mich unwohl gefühlt.“
Trotzdem glaubt meine Mutter daran, dass die sozialen Themen in der SPD
immer noch am besten aufgehoben sind. Warum genau, kann sie nicht sagen.
Sie wählt die Partei auch immer noch. „Die Unterschiede zwischen Arm und
Reich, da könnten sie schon mehr Stellung beziehen.“
Vielleicht ist die SPD ja eher CDUisiert worden als andersrum? Und
vielleicht wurde vergessen, dass Linkssein auch bedeutet, das
Selbstverständnis den Umständen anzupassen? Oder war die SPD, waren wir nie
so sozial, wie wir gedacht haben? Meine Mutter zuckt mit den Schultern.
Am [4][Abend der Hessenwahl] wollte ich zur Wahlparty ins
Willy-Brandt-Haus, Katastrophentourismus. Aber die machen nicht mal mehr
Partys zu Landtagswahlen.
## Der vermaledeite Glaube an Solidarität
Stattdessen stellte ich den Livestream der ARD an. Da erklärte die Frau von
der SPD, es gebe eine „Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise“. Trotz aller
Kompetenzzuschreibungen. Und dann sagt es noch eine SPD-Frau genauso. Und
dann auch noch mal Thorsten Schäfer-Gümbel. Sein Team um ihn herum hat
Tränen in den Augen.
Die CDU hat zwar an diesem Abend fast gleich viel verloren, aber ihre
Vertreter weinen nicht. Sie lächeln und nicken sich motivierend zu. Meine
Mutter macht das wütend, diese Verlogenheit.
Das ist der Unterschied zur CDU, dieser Rest Menschlichkeit der SPD. Und
dieser Unterschied ist mit dem vermaledeiten Glauben verbunden, echte,
fühlende Menschen müssten doch solidarisch sein. Dass sie es oft nicht
sind, das ist der Grund, warum meine Mutter manchmal im Fernsehen ist und
so erschrocken guckt.
6 Jan 2019
## LINKS
[1] /Gerhard-Schroeder/!t5014714
[2] https://www.abendzeitung-muenchen.de/gallery.elefantenrunde-hochwasser-co-z…
[3] /Schwerpunkt-G20-in-Hamburg/!t5417647
[4] /Hessen-Wahl/!t5053241
## AUTOREN
Laura Ewert
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