# taz.de -- Krise der Sozialdemokratie: Meine Mutter, die SPD und ich | |
> Die Mutter unserer Autorin ist seit über 40 Jahren in der SPD. Sie | |
> leitete lange einen Ortsverein, heute ist ihr die Partei fremd geworden. | |
> Wie kam es dazu? | |
Bild: Elisabeth Bühring trat 1973 in die SPD ein | |
Wenn die SPD eine Wahl verliert, ist meine Mutter oft im Fernsehen zu | |
sehen. 2009 fuhr sie zur Party nach der Bundestagswahl ins | |
Willy-Brandt-Haus. Damals hatte die Partei schon schlechte Umfragewerte, | |
Frank-Walter Steinmeier hatte als Spitzenkandidat einen mäßig inspirierten | |
Wahlkampf geführt, aber als die ersten Hochrechnungen kamen, war das doch | |
ein Schock: nur 23 Prozent. | |
Wenn meine Mutter erstaunt ist, reißt sie die Augen auf und formt die | |
Lippen zu einem schmalen O. An diesem Abend hielt eine Kamera des ZDF | |
direkt drauf. Seitdem benutzt der Sender diese Bilder immer wieder bei | |
SPD-Niederlagen, zuletzt nach der Landtagswahl in Hessen im Oktober. | |
Ich rufe meine Mutter schon länger nicht mehr an, wenn ich traurig bin. | |
Nach den letzten beiden Wahlen war das anders. „Und, wie geht es dir mit | |
dem Ergebnis?“, fragte ich. Sie sagte: „Ja, nicht gut. Ich habe richtig | |
Sorge.“ | |
Meine Mutter ist 1973 in die SPD eingetreten, mit 21 Jahren. Lange Jahre | |
war sie Vorsitzende eines Ortsvereins mit 60 Mitgliedern und | |
stellvertretende Bürgermeisterin einer Gemeinde im Landkreis Osnabrück, | |
westliches Niedersachsen, geprägt von Schweinezucht und Legebatterien. | |
Tiefschwarz alles, und da war sie in der SPD. | |
Ich habe die SPD vielleicht auch mal gewählt, kann sein, ich mag mich daran | |
nicht erinnern. Es gab aber nie eine Partei, der ich meine Stimme gern | |
gegeben habe. Ich habe sie immer bunt verteilt. Dass die SPD nun qualvoll | |
stirbt, betrifft mich aber, weil ich einmal an ihre soziale Politik | |
geglaubt habe. Die SPD war in meiner Kindheit ein Zuhause. So vertraut wie | |
für manche die Furnierschrankwand im elterlichen Wohnzimmer waren für mich | |
weiß-rote Kugelschreiber und Broschüren mit Fotos meiner Mutter. Und zu | |
diesem Zuhause gehörte auch das Versprechen von Gerechtigkeit, das ich mit | |
dem Wort „Genosse“ verband. | |
## „Schröder“, nicht mehr „Gerd“ | |
Heute spricht meine Mutter von [1][„Schröder“, nicht mehr von „Gerd“].… | |
Partei ist ihr fremd geworden, sie engagiert sich nicht mehr. Ich möchte | |
wissen, wann das kaputtging, das zwischen meiner Mutter und der SPD. Wie | |
sich die politische Heimat meiner Kindheit auflöste. Also fahre ich mit | |
meiner Mutter noch mal hin, zu ihrer alten Gemeindefraktion. | |
Auf dem Weg zur Fraktionssitzung ihres früheren Ortsvereins fahren wir an | |
einem Pferdegestüt vorbei, das der Familie eines früheren Schulfreunds | |
gehört. Meine Mutter erzählt, dass die Besitzerin mal bei uns zu Hause | |
anrief und sich beklagt habe, ich hätte ihren Sohn ein | |
„Kapitalistenschwein“ genannt. Meine Mutter behauptete am Telefon, ein | |
solches Vokabular würde bei uns nicht gebraucht, dabei stimmte das gar | |
nicht. | |
Heute sagt das keiner mehr. Und vielleicht ist das Teil des Problems, dass | |
auch in der SPD keiner mehr „Kapitalistenschwein“ sagt. | |
Die alte Fraktion meiner Mutter trifft sich in den Räumen der | |
Arbeiterwohlfahrt: gelb gemusterte Papiertischdecken, rotes Plastiklaub, | |
Bier mit Tequila-Geschmack. Fünf Leute sitzen da. Die zwei Frauen in den | |
Vierzigern waren mal Schülerinnen meiner Mutter, die Kunst und Arbeitslehre | |
an einer Gesamtschule unterrichtet hat. | |
## Egal, welche Partei die Straßen flickt | |
Die eine Frau kenne ich noch von früheren Ausflügen. Den Mann daneben, | |
ungefähr in meinem Alter, so Mitte dreißig, kenne ich nicht. Auch den | |
Fraktionsvorsitzenden nicht. Dann ist da noch der Bürgermeister, den kenne | |
ich, der ist seit Ewigkeiten dabei. Seit 2001 ist er der erste | |
SPD-Bürgermeister in der Gemeinde. Er sieht so aus, wie man sich den | |
Bürgermeister bei Benjamin Blümchen vorstellt, mit gemütlichem Bauch. „Dich | |
muss ich erst mal drücken“, sagt er zu meiner Mutter. Und macht das mit | |
norddeutscher Herzlichkeit. | |
Lange wurde in der Gegend nur CDU gewählt. Mittlerweile sei die Partei bei | |
Kommunalwahlen egal, da gehe es um die Person, sagen sie hier. Der | |
SPD-Bürgermeister ist so beliebt, dass die CDU sogar auf Gegenkandidaten | |
verzichtet hat. Wenn man die Leute in den Ratssitzungen reden höre, könne | |
man oft gar nicht sagen, wer zu welcher Partei gehöre, sagt eine der Frauen | |
am Tisch. Es sei egal, welche Partei die Löcher in den Straßen flicke, sagt | |
meine Mutter. | |
Drei Tagesordnungspunkte gibt es bei der Fraktionssitzung, dann Sonstiges. | |
Grundstücksgrenzen, Asphalt und Probleme mit neumodischer | |
Vorgartengestaltung. Weil immer mehr Hausbesitzer ihre Grundstücke mit | |
Steinen und dickfleischigen Immergrünpflanzen gestalten, finden die Bienen | |
kaum genug Blüten. Wenigstens die AfD ist hier kein Problem. | |
Meine Mutter hört zu und isst AWO-Schokolade, sie faltet das Papier | |
ordentlich zusammen, manchmal nickt sie. Sie wirkt, als hätte sie das alles | |
nicht besonders vermisst. Nur bei der Turnhalle horcht sie auf. Seit 25 | |
Jahren soll die gebaut werden. „Dass die immer noch nicht fertig ist“, sagt | |
meine Mutter und schüttelt den Kopf. Wenn jetzt in Berlin die Koalition | |
platze, flössen die schon zugedachten Bundesgelder nicht, fürchtet die | |
Fraktion. Keine Sorge, vor Weihnachten passiert da nichts, sagt der | |
Bürgermeister. | |
## Die SPD als Provokation | |
1980 ziehen meine Eltern, die beide als Lehrer an einer Gesamtschule | |
arbeiten, in die Gemeinde. Zwei Jahre später werde ich geboren. Unser Dorf | |
besteht aus vier Bauernhöfen und drei weiteren Häusern. Weizenfelder, | |
Kuhweiden. Wir sind Zugezogene und meine Mutter bei der SPD. Das reicht | |
schon, um nicht nur Freunde zu haben. Außerdem raucht meine Mutter Marlboro | |
Light, engagiert sich gegen Baumfällungen, spinnt die Wolle unserer | |
Hobby-Schafzucht. Sie ist im Emsland aufgewachsen, klassisch | |
nachkriegskonservativ, ihr Vater wählte immer CDU. Dass sie zur SPD ging, | |
war wohl Provokation. Die Grünen gab es ja damals noch nicht. | |
Mir war als Kind der Regenwald wichtig. Ich malte Plakate mit vielen Bäumen | |
und hängte sie in Supermärkten auf. Wir hatten ein Western-Windrad, mit | |
großen gelben Flügeln, das Strom machte und auf das man klettern konnte – | |
und das war ein Problem auf dem Land, das Anderssein. | |
Drohungen, Anfeindungen, körperliche Gewalt in der Kneipe, die Welt der | |
Filterkaffee-Trinker konnte auch schnell feindlich werden. Ich erinnere | |
mich an die Bilder vom Messer-Attentat auf Oskar Lafontaine 1990. Wie die | |
braunen Stühle unordentlich dort standen, das weiße Kleid der Täterin, die | |
Rosen. Was blieb, war ein Gefühl von „Wir gegen die“, ein wohliges Gefühl. | |
Ich bin in dem Jahr geboren, als Helmut Kohl Kanzler wurde. 16 Jahre | |
aufgewachsen mit diesem schmierigen Wohlstands-Grinsen. Und mit dem Gefühl | |
der Machtlosigkeit. Dort die Schlechten, wir die Guten. Solidarität, sich | |
kümmern. Das Gute war für alle da. „Gemeinsam sind wir stark“, „Freu di… | |
auf den Wechsel, Deutschland“, solche Plakate klebte die SPD damals. Links | |
sein, das war für meine Mutter, fortschrittlicher zu sein, aufgeklärter, | |
„nicht so engstirnig“. Heute möchte sie anstatt „links“ lieber sagen: … | |
wagen. | |
## Gemeinderat, Bauausschuss, Jugendausschuss | |
Meine Mutter hatte zu Hause viele Ordner im Regal. An den Abenden musste | |
sie zu Sitzungen. Gemeinderat, Bauausschuss, Jugendausschuss. Sie war in | |
der ASF, der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen. Und sie war | |
stolz, weil in ihrer Ratszeit mehr Frauen als Männer in der Fraktion saßen. | |
Erstmalig. Sie machte auch eine Ortsvereinszeitung, die hieß moment mal. | |
Darin standen Sätze wie: „Der Staat leistet sich den Luxus, | |
Spitzenverdienern ihre Haushaltshilfe, teure Geschäftsreisen und sogar | |
Schmiergelder steuerlich zu bezuschussen.“ | |
Der Ortsverein bestand aus Menschen in beigen Jacken, mit rosa Wangen, | |
manchmal Paare, ein Tierarzt, klein und graue Haare, viele Lehrer wie meine | |
Eltern, außerdem Polizisten, Maurer. Meine Mutter fing dort als | |
Schriftführerin an und wurde Anfang der 90er zur Vorsitzenden gewählt. | |
Manchmal fuhren sie in Bussen irgendwohin und ich durfte mit. Es gab | |
Kegelabende mit Bier – und für mich Fanta und Kekse aus Metalldosen. | |
Im Herbst 1992 stand meine Mutter weinend im Bad, einen lila Waschlappen in | |
der Hand, durch die geöffnete Tür hörte man das Radio. Sie weinte, weil | |
„Willy“ gestorben war. Ich war zehn und machte mir Sorgen. Dass sie wegen | |
Willy Brandt geheult habe, könne sie sich wirklich nicht mehr vorstellen, | |
sagt sie heute. | |
Kurze Zeit später, 1993, hat die Partei in einer Urwahl über ihren | |
Kanzlerkandidaten abstimmen lassen. Die Basis, das waren damals noch | |
870.000 Mitglieder. Und die Urwahl versprach Teilhabe. Wir waren die | |
Partei. Es war ein guter Sommer. Ich spielte probeweise Fußball und | |
entschied mich dann doch für Judo. Beim Ballett sagte man, ich sei zu dick. | |
Obwohl ich gar nicht dick war. Ich glaube, meine Mutter freute das. | |
Ballett, das waren wir nicht, das waren die anderen. | |
## Ein Kribbelgefühl am Wahlabend | |
Meine Mutter baute für die Abstimmung über den Kanzlerkandidaten das | |
Schützenvereinsheim zum Wahlbüro um. Dafür musste man große Pappen auf die | |
Tische gegenüber dem Schießstand stellen und jeweils einen Kugelschreiber | |
anbinden. Meine Mutter stimmte dann nicht für Wieczorek-Zeul, obwohl sie | |
für sie war und nicht für Scharping, nicht für Schröder. Das sei eine | |
verschenkte Stimme, sagte sie. Ich verstand das nicht: Wenn sie möchte, | |
dass sie gewinnt, warum stimmt sie dann für einen anderen? Es war mein | |
erster Kontakt mit Realpolitik. | |
Ich freute mich als Kind, wenn sonntagabends in der „Lindenstraße“ die | |
ersten Hochrechnungen kommentiert wurden, weil meine Eltern sich freuten. | |
Bei den Worten „erste Hochrechnung“ hatte ich lange Zeit ein Kribbelgefühl | |
wie beim Gedanken an Silvester. | |
Über Zeitungsartikeln der Lokalpresse, die meine Mutter ordentlich | |
abheftete, standen Überschriften wie „SPD fordert die Rücknahme der | |
Kindergarten-Sparbeschlüsse“, „SPD befasste sich mit der Asylproblematik�… | |
auch einen empörten Leserbrief an das Kreisblatt heftete sie ab, in dem sie | |
sich beschwerte, die Zeitung würde nur im Sinne der CDU berichten. Aber | |
einmal schrieb die auch, wie meine Mutter dem Gegner der CDU einen „Hang | |
zur Polemik“ vorwarf . Ihre Streitlust fand ich „cool“, so sagte man dama… | |
noch. | |
Zur Wahl 1994 machte meine Mutter eine Broschüre, in der stand, dass die | |
Ausgaben für „Steuerkriminalität“ viel höher seien als für Sozialhilfe.… | |
Plakate der CDU zeigten in diesem Jahr rote Socken. Bei der Wahl musste ich | |
dann allein draußen vor dem Wahlbüro warten, weil ich mit einem | |
SPD-Luftballon spielte. Als Wahlwerbung sei der an der Urne verboten, | |
sagten die Wahlhelfer. Meine Mutter war empört und ich fühlte uns in eine | |
Außenseiterrolle geschoben, die es einfacher machte, zu glauben, wir seien | |
im Recht. | |
## Dann war „Gerd“ Kanzler | |
Dann verlor Kohl die Wahl, ich war 16 und es kam mir wie eine Erlösung vor. | |
Im Wahlkampf hatte meine Mutter für Schröder gekämpft, er habe sich in | |
Niedersachsen „nachhaltig um Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gekümmert“, | |
sagte sie auf einer Veranstaltung. Dann war „Gerd“ Kanzler. Es gab Sekt und | |
Freudenschreie. Es war ein bisschen so, als würde einem endlich das Haus | |
gehören, in dem man wohnt, endlich die Fassade streichen, endlich das Dach | |
ausbessern. „Endlich mal regieren“, sagte meine Mutter. | |
Ulla Schmidt, Franz Müntefering und Peter Struck, die waren wie entfernte | |
Verwandte: sympathisch und fremd. Im Dorf hatten sie keine große Bedeutung. | |
Und die Freude über den Sieg von Rot-Grün verblasste. „Jetzt müssen wir | |
aber …“, sagte meine Mutter. | |
Und dann hatte man bald immer wieder das Foto vom Wahlabend im Kopf, von | |
[2][Gerd, Joschka und Oskar, ihre Champagnerschalen] haltend, feist | |
grinsend. Mit der Macht kamen Hartz IV, Scharpings Pool-Fotos und | |
schließlich die Vertrauensfrage. Eine neue Sozialdemokratie, die sich um | |
die kümmerte, die gar nicht in unserem Bekanntenkreis waren. Genosse der | |
Bosse. Natürlich tranken meine Eltern auch Barolo, aber nur vom Aldi. | |
Trotzdem sprach meine Mutter manchmal, als sei sie mit in der | |
Regierungsverantwortung. Während sie noch mit Sach- und Fraktionszwang | |
argumentierte, wurde alles immer schlimmer. Niemand verstand die | |
Riesterrente, Agenda 2010, Arbeitslosengeld II. | |
## Ein rotes Mazda-Cabriolet | |
Wer bestimmen darf, macht auch Fehler. Geht nicht anders. „Schlimmer als | |
mit der CDU kann es ja nun nicht werden.“ An diesem Satz hielt sich meine | |
Mutter in den späten Jahren von Rot-Grün noch lange fest. „Politische | |
Träume sind wirklich etwas anderes, als echte Politik machen zu müssen“, | |
sagt sie heute. „Aber diesen Schröder-Scheiß, Hartz IV, das habe ich schon | |
als nicht sozial empfunden.“ | |
In der Endphase von Rot-Grün wurde meine Mutter zum Realo und legte sich | |
schließlich ein rotes Mazda-Cabriolet zu. Ich freute mich für sie, denn sie | |
gönnte sich selten was. | |
Ich musste dann los, unser Dorf und die gemeinsame SPD-Heimat hinter mir | |
lassen. Ich fuhr auf der Schnellstraße entlang verschiedener | |
Politisierungsmöglichkeiten: Studium, Anti-Nazi-Demos, Freunde mit | |
interessanten Ideen von der Welt. Ich arbeitete mehr durch Zufall kurz als | |
Pressesprecherin eines PDS-Kandidaten und sollte die meiste Zeit nur darauf | |
achten, ob seine Socken zur Krawatte passten. | |
## Kuschelige Popkultur | |
Als meine Mutter 21 war, trat sie in eine Partei ein, sie glaubte an | |
Gerechtigkeit und entwickelte daraus ein großes Pflichtgefühl. Ich dagegen | |
fand statt einer politischen Heimat eine kuschelige Popkultur. Ich zog nach | |
Berlin, wo es in den Clubs keine Parteien gab, aber die Idee einer | |
milieuübergreifenden Szene. Das Versprechen lautete: Jeder kann dabei sein. | |
Jedes Hyperindividuum. Die große gemeinsame Erzählung aber fehlte. | |
Politische Identität war nur ein nachgeordneter Teil in der Erzählung des | |
eigenen Lebens. | |
An den Wahlabenden äffte ich mit Freunden eine Zeit lang die Floskeln der | |
Parteipolitiker nach: „Klarer Auftrag“, „Verlust abgewendet“, „gestä… | |
einziehen“. Erst war das noch lustig, dann war es lächerlich. Ich habe | |
heute vergessen, was ich bei vielen Wahlen angekreuzt habe, weil es mir | |
egal war. Ein paarmal habe ich „Die Partei“ gewählt, weil ich mir die | |
Finger nicht schmutzig machen wollte. Weil der Zynismus sich als | |
Ehrlichkeit verkleidete. | |
Eine Kindheit mit der SPD machte aus mir keine sozial engagierte Person. | |
Die SPD gewann mich nicht, und sie verlor gleichzeitig das Engagement | |
meiner Mutter. | |
Denn meine Mutter spielte jetzt mehr Solitaire auf dem Computer, sie fuhr | |
Rennrad und begann Saxofon zu lernen. 2006 hat sie dann all ihre | |
politischen Mandate abgegeben. Eine Krankheit machte es ihr leichter. Wenn | |
ich sie heute nach den Gründen frage, sagt sie: „Es war mir zu viel. Ich | |
fühlte mich überfordert. Immer wurde man angemacht, man war der Mülleimer | |
für alle Menschen, die sich über die da oben aufregen wollten.“ | |
## Urkunde, Blumenstrauß und Handtuch-Set | |
2013 hat sie eine Urkunde für vier Jahrzehnte Parteimitgliedschaft | |
bekommen, einen Blumenstrauß und ein Handtuch-Set. Das hatte sie sich | |
gewünscht, etwas Nützliches. „Der politische Rückzug war auch Enttäuschung | |
über den Verrat am sozialen Gedanken, aber parallel dazu hat sich die | |
Gesellschaft eben auch entwickelt, es gab nicht mehr so viele Arbeiter, für | |
die wir uns einsetzen müssen“, sagt meine Mutter, auch wenn sie schon vor | |
Längerem entschieden hat, nicht mehr bei Amazon zu bestellen, weil sie die | |
Arbeitsbedingungen dort ablehnt. | |
„Mit der Regierungsbeteiligung bin ich viel angreifbarer geworden. Vorher | |
waren wir die, die immer ‚Geht so nicht!‘ geschrien hatten. Und dann lief | |
es nicht so viel besser als bei den anderen.“ | |
Meine Mutter packte nach dem Parteijubiläum die Handtücher ein und zog in | |
die nächste große Stadt – mehr Anonymität schafft auch weniger | |
Pflichtbewusstsein. Sie fing an, als Hobby bunte Monsterpuppen zu nähen, | |
die die Zunge rausstrecken konnten. Das Aufgeben der Politik war für sie | |
vielleicht auch das Aufgeben eines Selbstbildnisses. Und ich glaube, sie | |
nahm sich selbst auch nicht mehr wichtig genug, um Politik zu machen. | |
Meine Mutter und ich haben dann kaum mehr über Politik geredet, nur noch | |
über mein Kind, ihren Enkel. Als der Schulz-Zug angerollt kam, rief meine | |
Mutter aber mit aufgekratzter Stimme an: „Das könnte noch was werden!“ Es | |
waren kurze Wochen der Euphorie. Als nach der erneuten Niederlage und dem | |
Scheitern von Jamaika die SPD-Basis über eine neue Große Koalition | |
abstimmte, hat meine Mutter nicht mehr mit abgestimmt. Könne man ja eh | |
nichts machen, was soll’n sie denn tun? | |
Die AWO-Schokoladentäfelchen bei dem Fraktionstreffen sind jetzt | |
aufgegessen, mittlerweile wird diskutiert, wie die SPD noch zu retten sei. | |
Die komplette Spitze austauschen? Am Tisch herrscht Uneinigkeit. Der | |
Bürgermeister sagt: „Nä.“ Der jüngere Mann sagt: „Es täte jetzt schon | |
langsam mal gut, wenn Kevin kommen würde.“ Die Sozialdemokratisierung der | |
CDU müsse aufhören, finden alle. Neue Themen setzen, sagt der | |
Bürgermeister, die gäbe es ja: Werksarbeit abschaffen. Fachkräfte stärken. | |
Mindestlohn auf 12, 13 Euro anheben. | |
## Wer mitmacht, bleibt meist dabei | |
34 Mitglieder hat die SPD in Mutters früherem Ortsverein, nachdem er sich | |
einmal aufgeteilt hatte. Ziemlich gleich ist die Mitgliederzahl hier in den | |
vergangenen 20 Jahren geblieben. Zwei jüngere sind nach der Bundestagswahl | |
dazugekommen. Und wer mal mitmacht, bleibt meist dabei. Das sei hier so. | |
Das Nicht-Mitmachen sei vor allem dem Zeitmangel geschuldet. „Alle am | |
Arbeiten, organisieren die Kinder weg, die Familienstruktur hat sich | |
geändert, wann bleibt da noch Zeit?“, fragt der Bürgermeister. | |
Meine Mutter steht auf und setzt sich zu ihrem Enkel, der am Nebentisch | |
warten und spielen muss, wie ich früher. Als ich die Gruppe frage, ob sich | |
die SPD denn nun auflöse, geht meine Mutter mit dem Kind raus, um im Flur | |
laut Fußball zu spielen, als wolle sie deutlich machen, dass sie mit alldem | |
nichts mehr zu tun hat. | |
Als wir nach Hause fahren, frage ich, warum sie aufgestanden ist. „Ich | |
dachte nur: Oh Gott, wie gut, dass ich das alles nicht mehr machen muss.“ | |
Und, willst du austreten? „Nein, sicher nicht.“ Dann lacht sie und sagt, | |
das erledige sich ja wohl von allein. Über 460.000 Mitglieder hat die | |
Partei nur noch. Kann man die einfach so auflösen? Letztens habe sie | |
geträumt, dass die SPD das Willy-Brandt-Haus verkauft, weil die Partei | |
pleite sei, sagt meine Mutter. | |
Warum willst du die Welt nicht mehr verbessern, Mutter? „Ich will mich | |
nicht mehr verantwortlich fühlen.“ Ich sage was von Olaf [3][Scholz' Lügen | |
nach dem G20-Gipfel], dem Ekel vor Karrieristen wie Tim Renner, dem | |
verlachten Ex-Kulturstaatssekretär in Berlin, von unserer Ferne zu Andrea | |
Nahles, die ihrer Tochter aus der Bibel vorliest. Da wird meine Mutter | |
stiller. | |
## „Ich will mich für so was nicht mehr rechtfertigen müssen“ | |
Als ich ihr erzähle, dass Sigmar Gabriel als Autor für einen Verlag bis zu | |
30.000 Euro im Monat verdient und vermutlich viel weniger schreibt als ich, | |
sagt meine Mutter: „Sauerei“. Eine kurze Pause: „Ich will mich für so was | |
nicht mehr rechtfertigen müssen“, sagt sie dann lauter und sticht mit dem | |
Zeigefinger in die Luft. | |
In unserer alten Heimat gibt es jetzt eine Kneipe, die „Alte Heimat“ heißt. | |
Mit Pulled Pork Burger und Livemusik. Als wir vorbeifahren, meckert meine | |
Mutter, dass die Spätaussiedler, die Russlanddeutschen, AfD wählen würden. | |
Warum sie das machten, kann sie sich nicht erklären. „Die haben doch | |
alles“, sagt meine Mutter. So was hätte sie früher nicht gesagt. | |
Sind wir vielleicht doch immer konservativer gewesen, als wir von uns | |
dachten? „Ich bin konservativer geworden“, sagt meine Mutter. „Egoistisch… | |
auch. Aber wer guckt denn nicht erst vor seiner Haustür? Die Idealisten, | |
aber werden die nicht belächelt?“ | |
Meine Mutter ist jetzt im Seniorenbeirat in der Stadt, in der sie lebt. Sie | |
setzt sich für Techniklotsen ein, die älteren Menschen bei der | |
Digitalisierung helfen sollen. Und auch das Angebot von Seniorenportionen | |
in Restaurants fände sie eine gute Idee, weil der Hunger kleiner wird, so | |
wie man selbst. „Im Alter ist man nicht mehr so mutig. Früher war da ein | |
Ziel, da war eine Empörung und die hat man herausgeschrien und hinterher | |
geschaut, wie man mit den Prügeln umgeht.“ | |
## Ist die SPD CDUisiert worden? | |
Manchmal geht meine Mutter noch zum Sommerfest des neuen Ortsvereins, da | |
seien viele junge Leute, alle sehr vernünftig, die würden nicht so laute | |
Forderungen stellen wie sie früher. „Aber die brauchen mich hier nicht, ich | |
kenne mich mit Stadtthemen auch nicht aus. Ich habe an den Wahlkampfständen | |
gestanden und mich unwohl gefühlt.“ | |
Trotzdem glaubt meine Mutter daran, dass die sozialen Themen in der SPD | |
immer noch am besten aufgehoben sind. Warum genau, kann sie nicht sagen. | |
Sie wählt die Partei auch immer noch. „Die Unterschiede zwischen Arm und | |
Reich, da könnten sie schon mehr Stellung beziehen.“ | |
Vielleicht ist die SPD ja eher CDUisiert worden als andersrum? Und | |
vielleicht wurde vergessen, dass Linkssein auch bedeutet, das | |
Selbstverständnis den Umständen anzupassen? Oder war die SPD, waren wir nie | |
so sozial, wie wir gedacht haben? Meine Mutter zuckt mit den Schultern. | |
Am [4][Abend der Hessenwahl] wollte ich zur Wahlparty ins | |
Willy-Brandt-Haus, Katastrophentourismus. Aber die machen nicht mal mehr | |
Partys zu Landtagswahlen. | |
## Der vermaledeite Glaube an Solidarität | |
Stattdessen stellte ich den Livestream der ARD an. Da erklärte die Frau von | |
der SPD, es gebe eine „Vertrauens- und Glaubwürdigkeitskrise“. Trotz aller | |
Kompetenzzuschreibungen. Und dann sagt es noch eine SPD-Frau genauso. Und | |
dann auch noch mal Thorsten Schäfer-Gümbel. Sein Team um ihn herum hat | |
Tränen in den Augen. | |
Die CDU hat zwar an diesem Abend fast gleich viel verloren, aber ihre | |
Vertreter weinen nicht. Sie lächeln und nicken sich motivierend zu. Meine | |
Mutter macht das wütend, diese Verlogenheit. | |
Das ist der Unterschied zur CDU, dieser Rest Menschlichkeit der SPD. Und | |
dieser Unterschied ist mit dem vermaledeiten Glauben verbunden, echte, | |
fühlende Menschen müssten doch solidarisch sein. Dass sie es oft nicht | |
sind, das ist der Grund, warum meine Mutter manchmal im Fernsehen ist und | |
so erschrocken guckt. | |
6 Jan 2019 | |
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[1] /Gerhard-Schroeder/!t5014714 | |
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Laura Ewert | |
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