# taz.de -- Die Psyche in der Pandemie: Der Coronablues spielt lauter | |
> Bei vielen Menschen führen die Angst vor Krankheit und Existenzsorgen | |
> derzeit zu psychischen Belastungen. Mehrere Expert*innen berichten. | |
Bild: Allein im Lockdown: morgens in der Innenstadt von Frankfurt | |
Dass eine Pandemie auch der psychischen Gesundheit nicht unbedingt dienlich | |
ist, belegten Studien schon im Coronajahr 2020. In der zweiten Welle sind | |
die Prognosen nun eher noch düsterer. Laut einer im Februar | |
veröffentlichten Studie der Pronova BKK beobachten Psychiater*innen und | |
Psychotherapeut*innen aktuell eine Verschärfung der Probleme. Die | |
Befragten diagnostizierten deutlich häufiger Angststörungen, Depressionen | |
und Anpassungsstörungen. Mehr als 60 Prozent beobachteten eine Zunahme von | |
Alkoholproblemen unter den Patient*innen. | |
Weniger krank in der Krise, hieß es dagegen jüngst von der Techniker | |
Krankenkasse: Die Fehltage von Arbeitnehmer*innen gingen 2020 zurück | |
– etwa weil Erkältungen ausblieben. Allerdings gilt dieser Trend eben nicht | |
für psychische Erkrankungen: Hier steigen die Krankschreibungen weiter | |
deutlich. | |
Dass auch Kinder vermehrt unter den Auswirkungen der Pandemie leiden, zeigt | |
die vor wenigen Tagen veröffentlichte Copsy-Studie des | |
Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Bereits bei einer ersten Befragung | |
im Juni gaben 71 Prozent der Kinder und Jugendlichen an, seelische | |
Belastungen zu spüren. In der zweiten Befragung von Dezember und Januar | |
sind es 85 Prozent. Fast jedes dritte Kind zeigt laut Studie ein knappes | |
Jahr nach Beginn der Pandemie psychische Auffälligkeiten, vor der Krise nur | |
jedes fünfte. | |
„Mit der zweiten Welle haben wir eine ganz andere Qualität“, sagt Dietrich | |
Munz, Vorstand der Bundespsychotherapeutenkammer. Die andauernde | |
unterschwellige Angst vor Ansteckung und Erkrankung, existenzielle Sorgen, | |
die Enge im Zuhause, massive Einschränkung von Beziehungen und Routinen | |
führten bei einigen zu Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit, Ängsten und | |
Suchtmittelgebrauch. „Wenn diese über Wochen anhalten, sollte man sich | |
dringend Hilfe suchen.“ | |
Allerdings zeigt sich auch hier der Mangel in der Krise. Laut einer Umfrage | |
des Berufsverbandes der Psychotherapeut*innen nahmen | |
Patientenanfragen im Vergleich zum Januar 2020 um durchschnittlich 40 | |
Prozent zu. Die Hälfte müsse länger als einen Monat auf ein Erstgespräch | |
warten. Ein Drittel der Behandlungsbedürftigen habe erst nach über sechs | |
Monaten Aussicht auf einen Therapieplatz. | |
Die Überforderung zehrt offenbar auch an den Psychotherapeut*innen | |
selbst: In einer Umfrage des Psychotherapeuten-Netzwerks gab über die | |
Hälfte an, wegen der Mehrbelastung unter körperlichen bzw. psychischen | |
Symptomen zu leiden. | |
## „Corona wirkt wie ein Brandbeschleuniger“ | |
Dr. Thomas Herzog, Offene Tür Berlin e. V.: | |
„Der erste Lockdown war wie ein Schock, in dem sich aber viele Menschen | |
einrichten konnten. Dieser Lockdown war zeitlich begrenzt, die meisten | |
haben an einem Strang gezogen. Es gab eine Art Konsens: Jetzt machen wir | |
mal alle ein bisschen ruhiger und ziehen uns zurück, damit wir dieses Virus | |
wieder loswerden. Ich habe auch oft gehört: ‚Ach, das ist gar nicht so | |
schlecht, weil ich habe mir ohnehin vorgenommen ein bisschen weniger zu | |
arbeiten.‘ | |
Im zweiten Lockdown ist das nun anders. Man merkt im Grunde, dass die | |
aushaltbare Perspektive weggebrochen ist. Es gibt einen Ausspruch des | |
Wiener Psychiaters und Existenzanalytikers Viktor Frankl: Wer ein Warum zum | |
Leben hat, erträgt fast jedes Wie. Dieses ‚Warum‘ bzw. ‚Wozu‘ ist gera… | |
nicht mehr so klar definiert. Natürlich will man die Infektionszahlen | |
runter kriegen, aber niemand weiß aktuell, wo das hinführt. Es herrscht | |
also auch ein Stück Hoffnungslosigkeit und das Gefühl des | |
Ausgeliefertseins. | |
Wir haben wenig Menschen in der Beratung, die direkt sagen, dass sie Angst | |
vor dem Virus oder einer Ansteckung hätten. Corona wirkt vielmehr wie ein | |
Brandbeschleuniger für Probleme, die latent auch vorher schon da waren. In | |
unsere Beratung ‚Offene Tür‘ kommen viele Paare. Letzte Woche meldete sich | |
ein Ehepaar, das beschlossen hatte, sich scheiden zu lassen. Das war | |
ohnehin bereits eine sehr belastete Beziehung, der Lockdown aber lässt die | |
Lage eskalieren. Der Mann mit cholerischer Neigung arbeitet im Homeoffice. | |
Die Frau ist kurz davor, ihre Arbeit zu verlieren. Es gibt kleine Kinder, | |
die nicht in die Kita und Schule können, denen es mit der angespannten | |
Situation zu Hause sehr schlecht geht. Eine rasch vollzogene Trennung | |
brächte eine dringend notwendige Entschärfung des Konflikts mit sich. Nun | |
gibt es durch Corona aber nicht ohne Weiteres einen Termin beim Anwalt oder | |
Gericht. Auch eine Wohnung zu finden ist momentan schwieriger als sonst. | |
Der enorme Druck, der auf dieser Familie lastet, findet durch den Lockdown | |
gerade keine Möglichkeit, zu entweichen.“ | |
## „Viele sind mit Homeschooling überfordert“ | |
Dr. Manuela Richter-Werling, Irrsinnig Menschlich e. V., Leipzig: | |
„Unser Verein wendet sich an Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in | |
Schule, Ausbildung und Studium und konzentriert sich auf die Prävention von | |
psychischen Krankheiten oder Krisen. Ungefähr 75 Prozent aller psychischen | |
Erkrankungen entstehen vor dem 25. Lebensjahr. Vor Corona haben wir viele | |
Workshops in Schulen angeboten, einfach weil wir da alle Kinder erreichen | |
können. | |
Aktuell ist das sehr schwierig. Einzelne Schulen machen das ganz gut, die | |
haben die Technik, da funktioniert so ein Workshop auch digital. Aber viele | |
sind ja schon mit dem Homeschooling überfordert. Was wir aktuell verstärkt | |
machen, sind Lehrerfortbildungen. Das darf man auch nicht unterschätzen. | |
Wenn es den Lehrern gut geht, geht es oft auch den Schülern besser. | |
Ein anderes großes Thema, dem wir uns neben der Prävention widmen, ist die | |
Entstigmatisierung. Ich nehme schon wahr, dass aktuell stärker auf die | |
psychische Gesundheit geachtet wird. Es gibt ja auch Forderungen, mehr | |
Psychologen, mehr Soziologen an den Corona-Entscheidungen zu beteiligen. | |
Allerdings bin ich skeptisch, ob das wirklich von Dauer ist. Solche | |
Perioden gab es immer wieder. Für die Betroffenen hat sich meist nicht viel | |
geändert. Ich hoffe sehr, dass das durch Corona anders werden könnte. Aber | |
ich bin nicht sehr optimistisch.“ | |
## „Gerade ist nicht die Zeit für Perfektionismus“ | |
Bianca Beiderbeck, Psychotherapeutische und Psychosoziale Beratung des | |
Studentenwerks München: | |
„Wir sehen nach wie vor die ganze Bandbreite an psychischen | |
Herausforderungen. Schon während des ersten Lockdowns hörten wir vermehrt | |
von Konflikten in Partnerschaften oder auch in den Familien. Studierende, | |
die ja schon im Ablösungsprozess vom Elternhaus sind und sich ein | |
eigenständiges Leben am Hochschulort aufgebaut haben, sind während des | |
Onlinesemesters wieder zu den Eltern gezogen, was nicht selten alte | |
Konflikte zutage fördert. Wir haben auch beobachtet, dass sich besonders | |
für Studierende mit weniger privilegiertem Hintergrund die Situation oft | |
verschlechterte. Zum Beispiel weil Nebenjobs nicht mehr wie gewohnt | |
ausgeführt werden können. | |
Der zweite Lockdown ist für viele Studierende psychisch noch | |
herausfordernder als der erste, da gerade kein richtiges Ende in Sicht | |
scheint. Das macht hilflos und demotiviert. Es zeichnet sich ab, dass | |
manche Studierende den gesamten Studiengang online erleben werden und viel | |
verpassen, was zur Erfahrung eines Studierendenlebens dazugehört – neue | |
Freundschaften, gemeinsames Lernen und Feiern. | |
Viele der Ratschläge, die wir geben, klingen im Prinzip recht einfach, | |
fallen aber doch manchmal schwer in der Umsetzung. Antriebslosigkeit, | |
Freudlosigkeit und Einsamkeit sollte man entgegenwirken. Besonders wichtig | |
ist ein strukturierter Tag. Es kann helfen, einen Plan zu schreiben und | |
darin Vorlesungszeiten, Freizeitaktivitäten, Lernphasen und Mahlzeiten | |
festzuhalten. Auf gedanklicher Ebene sollte man sich klarmachen, dass | |
gerade nicht die Zeit für Perfektionismus ist und dass es okay ist, keine | |
Bestnoten abzuliefern und länger fürs Studium zu brauchen. Milde mit sich | |
selbst ist gefragt. Man muss seine Zeit auch nicht immer produktiv nutzen. | |
Es ist in Ordnung, wenn man sich während einer weltweiten Pandemie eine | |
Pause gönnt und keine neue Fremdsprache oder Sportart lernt.“ | |
## „Es gibt auch seelische Risikopatienten“ | |
Heidi Graf, Die Arche – Suizidprävention und Hilfe in Lebenskrisen e. V., | |
München: | |
„Wir haben durch Corona nicht mehr Anfragen als sonst – zum Glück, denn wir | |
arbeiten ohnehin am oberen Limit. Bei den Beratungen merken wir, dass | |
diejenigen, die ohnehin schon etwas angeschlagen sind, etwa weil sie eine | |
Trennung noch nicht verarbeitet, Schwierigkeiten in der Arbeit oder mit | |
Finanzen haben, jetzt noch mehr kämpfen müssen. Es gab bislang keinen | |
Ratsuchenden, der ausschließlich wegen Corona da war. Corona verschärft, | |
Corona katalysiert das, was schon da war. | |
Es gibt auch seelische Risikopatienten. So wie bei körperlichen | |
Vorerkrankungen stellt Corona ein enormes Risiko in Bezug auf psychosoziale | |
Folgen für Menschen mit seelischen Vorbelastungen und Vorerkrankungen dar. | |
Die Menschen geraten rascher in eine Krise. Krisen sind grundsätzlich | |
subjektiv, scheinbar kleine Auslöser können eine große Wirkung haben. | |
Eine Krise entsteht dann, wenn Belastung und Bewältigungsstrategien im | |
Missverhältnis stehen. Deshalb wiegen momentan Belastungen schwerer, da die | |
Möglichkeiten, diese zu bewältigen, kleiner geworden sind. | |
Selbst Menschen mit bisher hoher Resilienz müssen jetzt mehr Selbstfürsorge | |
und Selbstkontrolle aufbringen, um einigermaßen durchzukommen. | |
Das macht die Beratung nicht leichter. Zum einen sind die Berater den | |
allgemeinen Belastungen ebenso unterworfen und müssen mehr für ihre innere | |
Balance tun, um arbeitsfähig zu bleiben, zum anderen sind viele | |
Möglichkeiten, die früher für die Hilfesuchenden als Bewältigungsstrategie | |
im Umgang mit ihren Nöten entwickelbar waren, unerreichbar – wie z. B. | |
einem Chor oder einer Sportgruppe beizutreten.“ | |
## Bei vielen Kindern geht das Unbeschwerte verloren | |
Claudia Radermacher-Lamberty, Caritas Familienberatung Aachen: | |
„Wir haben eine unglaublich hohe Zahl an Anmeldungen von Alleinerziehenden. | |
Das war 2020 so und das reißt auch jetzt nicht ab. Mein Eindruck ist, dass | |
die, die vorher schon belastet waren, diese Krise noch einmal doppelt | |
trifft. Der erste Lockdown war für Familien sehr belastend. Vieles war | |
ungewiss. Die wussten nicht, wie gehen wir mit den Kindern um? Was machen | |
wir, wenn die den ganzen Tag zu Hause sind und wir uns als Eltern auch noch | |
um das Homeschooling kümmern müssen? | |
Das Bedürfnis war groß, den Kindern die Situation zu erklären. Warum darf | |
man nicht mehr Opa und Oma besuchen? Da gab es eine große Unsicherheit, wie | |
man Kindern eine solche Krise vermitteln kann. Mittlerweile habe ich den | |
Eindruck, dass Kinder das ganz gut verstehen und sich eine Art Alltag | |
eingestellt hat. Natürlich werden die Belastungen nicht kleiner. Man kann | |
aber nicht pauschal sagen, dass alle Eltern Coronamüde sind und alles immer | |
schlimmer wird. Bei vielen klappt das Homeschooling besser, viele Schulen | |
sind besser ausgerüstet. Es gibt engagierte Lehrer. | |
Auf der anderen Seite beraten wir auch viele Pflegeeltern und | |
Adoptiveltern. In den Familien leben oft traumatisierte Kinder. Für die ist | |
eine Kita- oder Schulschließung enorm belastend. Ich hatte schon sehr | |
verzweifelte Eltern am Telefon, die meinten, sie halten das nicht mehr aus. | |
Insgesamt geht bei vielen Kindern und Jugendlichen etwas das Unbeschwerte | |
verloren. Die meisten haben das sehr stark verinnerlicht: Abstand halten, | |
Maske aufsetzen. | |
Hier erlebe ich aber auch viele kreative Eltern, die auch kleinen Kindern | |
virtuelle Treffen ermöglichen. Die älteren schreiben sich ohnehin über | |
WhatsApp die Finger wund und sind technisch oft eh viel versierter als die | |
Elterngeneration. Viele trägt die Hoffnung, dass es im Sommer wieder etwas | |
normaler wird.“ | |
17 Feb 2021 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
Daniel Böldt | |
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