# taz.de -- Corona macht depressiv: Die Stimmung ist gekippt | |
> Nach einem Jahr Pandemie merken viele psychische Beeinträchtigungen. | |
> Vielleicht steckt dahinter die Erfahrung der eigenen Machtlosigkeit. | |
Bild: Die Pandemie fühlt sich manchmal an wie ewig bewölktes Wetter | |
BREMEN taz | Am Karfreitag, meinem ersten Urlaubstag, wachte ich auf – und | |
hatte eine [1][Coronadepression]. Erst dachte ich, ich sei überarbeitet. | |
Schließlich hatte ich noch am Vorabend dafür gesorgt, dass mir meine | |
beruflichen Mails im Urlaub nicht zugestellt würden. Zwei Tage machte ich | |
den Computer gar nicht an, auch das Handy blieb aus. | |
Bis dahin hatte ich meine Arbeit als Journalistin in der Pandemie als so | |
befriedigend erlebt, dass ich nach Feierabend regelmäßig weitergearbeitet | |
hatte, das Homeoffice machte es möglich. Kein Wunder, dass mein Wunsch nach | |
einer Pause so groß war wie lange nicht. | |
Doch zu meiner Verwunderung löste sich dieses Grundgefühl von Traurigkeit | |
nicht nach einigen Tagen Erholung auf. Und auch meine Lust, etwas anderes | |
zu machen als essen und herumliegen, blieb gering. Ich bin keine | |
Anfängerin. Ich weiß, wie sich eine Krise anfühlt und auch, was ich tun | |
muss, um nicht tiefer hineinzurutschen. | |
Also tat ich alles, von dem ich weiß, dass ich mich dann besser fühle. Ging | |
raus, beobachtete Vögel, aß gut und regelmäßig, duschte lang. Aber ich | |
tanzte weniger in der Wohnung herum und auch Yoga machte ich kaum noch – | |
auch weil ich keine Lust mehr hatte, meinen Yogalehrer nur auf dem Monitor | |
zu sehen. | |
Irgendwann dämmerte mir: Das hat etwas Depressives. Für mich eine neue | |
Erfahrung. Das Wort geht auf das lateinische „depressio“ zurück, was | |
„Niederdrücken“ oder „-senken“ bedeutet. Was im Körper bei Depression… | |
genau geschieht, ist nicht hinreichend klar, weswegen die medikamentöse | |
Behandlung längst nicht so einfach ist, wie es oft dargestellt wird. | |
Bekannt ist dafür, was Depressionen auslösen kann. Überlastung gehört dazu, | |
Urlaubsbeginn. | |
## Corona macht etwas mit mir | |
Auch das klinische Bild ist ausführlich beschrieben. Meine Symptome könnte | |
man [2][nach dem international gültigen Code für Krankheiten] als „F32.0“ | |
als „leichte depressive Episode“ klassifizieren. Es passt nicht so ganz, | |
dafür habe ich zu viel Freude am Leben, aber trotzdem: Corona macht etwas | |
mit mir. | |
Und nach allem, was ich höre und lese, bin ich nicht die einzige, der es so | |
geht. Ein paar Freundinnen und Bekannte hatten schon vor Monaten von | |
Müdigkeit und Erschöpfung erzählt. In den letzten Wochen hatte ich den | |
Eindruck, diese Berichte häuften sich. | |
Auch die [3][Meldungen von Psychotherapeut*innenkammern] und Kassen | |
bestätigen den Eindruck. Der Bedarf an Psychotherapie unter anderem wegen | |
höhergradigen und damit behandlungsbedürftigen Depressionen ist danach | |
stetig gestiegen. [4][Ende März teilte die Stiftung Deutsche | |
Depressionshilfe mit], selbst „für die Allgemeinbevölkerung ohne psychische | |
Erkrankung“ sei die Situation „aktuell deutlich belastender als im ersten | |
Lockdown“. Und jetzt war es mir auch passiert. | |
Aber warum? Was ist gekippt und wann? Klar, witzig fand ich das letzte Jahr | |
auch nicht. Mein jüngster Neffe ist im Januar ein Jahr alt geworden, ich | |
kenne ihn nicht. Meine drei Geschwister und ihre Familien hatte ich | |
Weihnachten 2019 das letzte Mal gesehen. Als mich eine meiner Schwestern | |
Ostern besuchte, haben wir uns nicht umarmt, obwohl mir die körperlichen | |
Kontakte sehr fehlen. | |
## Zurückgezogen in kleine Blasen | |
Ich treffe zwar draußen regelmäßig Freund*innen, aber nur die, die in | |
Bremen leben, und die seltener, als es möglich wäre. Es ist, als ob wir uns | |
in sehr kleine Blasen zurückgezogen hätten und nicht wissen, wie wir wieder | |
hinauskommen. Das tut weh. Als ich mit einer Handvoll Freund*innen im | |
Januar meinen Geburtstag im Freien feiern wollte und alle bis auf eine | |
wegen Corona absagten, war ich so enttäuscht, dass mir heute noch die | |
Tränen kommen, wenn ich daran denke. | |
Aber vieles von dem, was gerade nicht möglich ist oder schlicht hirnrissig | |
wäre, vermisse ich so gar nicht. Shoppingtouren, Flugreisen. Kulturangebote | |
habe ich auch vor Corona in einem überschaubaren Maß genutzt, und dass ich | |
nicht in vollen Restaurants auf teures Essen warten muss: so what. Auch der | |
Wechsel ins Homeoffice hat nicht nur Nachteile. Es riecht dort besser als | |
in der Redaktion, die Umgebung ist schöner, und die Laune kann ich mir zu | |
Hause nur selbst vermiesen. | |
Ich hätte noch nicht mal auf hohem Niveau jammern können. Worüber denn? | |
Immerhin kann ich Urlaub machen. Anders als etwa viele Politiker*innen | |
oder Pflegekräfte und Ärzt*innen, die seit einem Jahr in Dauerbereitschaft | |
sind. In meinem Freundeskreis und in der Familie sind alle gesund | |
geblieben, niemand hat den Job verloren, diejenigen mit hohem Risiko für | |
schwere Krankheitsverläufe sind geimpft, und weil in Bremen Grundschulen | |
und Kindertagesstätten fast durchgängig geöffnet waren, ist uns der | |
[5][Homeschooling-Stress] weitgehend erspart geblieben. | |
Die Kinder konnten die meisten ihrer Freund*innen treffen, weil sie | |
ohnehin mit ihnen den halben Tag in engen Räumen verbringen. [6][Als | |
Journalistin kritisiere ich], dass in Bremen so wenig für den Schutz von | |
Kindern und Erwachsenen in Kita und Schule getan wurde und bis heute die | |
Grundschulklassen in voller Gruppenstärke unterrichtet werden. Als | |
Privatperson nehme ich die Vorteile dieser Politik dankend an, [7][schalte | |
mein Gehirn aus], insbesondere die Angstzentrale, und hoffe, dass es gut | |
geht. | |
## Vieles war wirklich schön | |
Diese Strategie, mich nicht lange mit dem zu beschäftigen, was mich | |
niederdrücken könnte, ging lange auf. Dazu musste ich mir die Situation | |
nicht einmal schön reden: Vieles war wirklich schön – und das in einer | |
kleinen Wohnung ohne Garten. Wir entzündeten mitten im Winter Lagerfeuer | |
und ich bekam so viel von meinen Kindern mit, wie lange nicht. | |
Ohne die Pandemie hätte auch meine Freundinnengang aus der Schulzeit nicht | |
wieder zusammengefunden, zunächst nur online, aber das ist immer noch mehr | |
Kontakt als in den letzten zehn Jahren. | |
Und schließlich hatte ich meine Arbeit. Noch nie habe ich sie als so | |
sinnhaft erlebt wie in dieser Krise. Sogar ganz offiziell war mir im | |
vergangenen Frühjahr meine Systemrelevanz bescheinigt worden. Als | |
Journalistin bin ich so wichtig wie Erzieher*innen und Verkäufer*innen, | |
aber anders als diese stand ich eben nie an der Front, wie es der Weser | |
Kurier am 16. März 2020 in einem Editorial suggerierte: „Unsere Mitarbeiter | |
sind nervenstark“. | |
Die gefährlichsten Situationen für Bremer Lokaljournalist*innen waren | |
die Senatspressekonferenzen in einem riesigen Saal im Rathaus. Ich konnte | |
stets selbst entscheiden, wann ich mein Homeoffice verließ, um mit Maske | |
und Abstand Leute zu treffen. | |
Dieses Gefühl, nicht hilflos ausgeliefert zu sein, sondern mitgestalten zu | |
können, muss mich lange getragen haben. Selbstwirksamkeit heißt das – ein | |
Schlüssel zu psychischer Gesundheit. Doch im Laufe der vergangenen paar | |
Monate habe ich wohl die Gewissheit verloren, dass ich | |
Einflussmöglichkeiten auf das Geschehen habe, sowohl privat als auch | |
beruflich. | |
## Das Belohnungssystem versagt | |
Ich halte mich an die Empfehlungen zum Infektionsschutz. Aber spätestens | |
jetzt, in der dritten Welle, ist klar, dass ich keinen Gewinn daraus ziehe, | |
mich so extrem einzuschränken. Die Zahlen steigen, egal wie ich mich | |
verhalte. Das Belohnungssystem, das nicht nur in der Erziehung von Hunden | |
eine elementare Rolle spielt, versagt fast komplett. | |
Als Journalistin habe ich mich natürlich schon vor der Pandemie manches Mal | |
gefragt, wie viele Artikel ich zu einem Thema eigentlich noch schreiben | |
muss, bevor sich etwas ändert. Aber normalerweise weiß ich, welche Haltung | |
ich habe und was richtig und falsch ist. Auch im vergangenen Jahr war das | |
so. Momentan fehlt mir oft der Kompass. | |
Mehrmals habe ich aus vollem Hals gelacht, wenn ich desaströse Nachrichten | |
über den Verlauf der Pandemie und politische Entscheidungen gelesen habe. | |
Lachen befreit. Vielleicht bin ich die Letzte, aber ich habe erst bei der | |
Nummer mit der Osterruhe wirklich begriffen, dass nicht die Details der | |
Bremer/deutschen/europäischen Coronastrategie problematisch sind – sondern | |
dass das Problem in einer fehlenden Strategie besteht. | |
Auch vor der Pandemie habe ich immer wieder mal mit meiner Branche | |
gehadert. Deren Vertreter – die Vertreter*innen schon eher – neigen | |
nicht zum Selbstzweifel und wenn doch, dann sprechen sie nicht drüber. Wir | |
müssen ja auch nie Verantwortung übernehmen und [8][uns selten für Fehler | |
rechtfertigen]. | |
Noch stärker als in normalen Zeiten kommt es mir vor, als stünden | |
Journalist*innen wie lauter Co-Trainer*innen pöbelnd am Spielfeldrand | |
und brüllten den Spieler*innen Taktiken zu, die todsicher zum Erfolg | |
führen. Dabei sind sie ausgesprochen flexibel im Denken. Wenn alle gerade | |
noch unisono eine defensive Spielweise gefordert haben, sind sie zehn | |
Minuten später überzeugt davon, dass nur ein Sturm aufs Tor helfen kann, | |
weil sie das aus einer neuen Studie herausgelesen haben wollen. | |
So will ich nicht sein. Aber ich will auch nicht wie viele Lokalmedien aus | |
Überforderung und Unsicherheit politische Entscheidungen nur noch erklären | |
und nicht mehr hinterfragen. | |
Das auszuhalten, ist anstrengend. Und das ist das einzige Fazit, das ich am | |
Ende dieses Textes ziehen kann. Es gibt keinen Ausblick, keine | |
versöhnlichen Sätze zum Ausklang. Ein anderer Schluss will mir nicht | |
einfallen. | |
Mehr über blank liegende Nerven nach einem Jahr Corona lesen Sie in der | |
gedruckten taz am wochenende oder im e-kiosk. | |
Hilfe im Krisenfall: Wenn Sie Ängste haben oder vielleicht sogar an Suizid | |
denken, versuchen Sie, mit anderen darüber zu sprechen. Unter anderem die | |
Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr kostenlose Beratung: 08001110111 | |
oder per Chat via telefonseelsorge.de. In Notfällen wenden Sie sich bitte | |
an die nächste psychiatrische Klinik oder den Notarzt unter der | |
Telefonnummer 112. Weitere Hilfsadressen und Informationen zu Depressionen | |
gibt es außerdem bei deutsche-depressionshilfe.de | |
16 Apr 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Psyche-in-der-Pandemie/!5747207 | |
[2] https://www.icd-code.de/icd/code/F32.-.html | |
[3] https://www.pk-hb.de/nachrichten/8841326.html | |
[4] https://www.deutsche-depressionshilfe.de/presse-und-pr/pressemitteilungen?f… | |
[5] /Familienpsychologe-ueber-den-Lockdown/!5749102 | |
[6] /Infektionszahlen-an-Bremer-Grundschulen/!5758257 | |
[7] /Maeandernde-Schulpolitik-in-der-Pandemie/!5750761 | |
[8] /Campact-Vorstand-zur-Coronapolitik/!5761568 | |
## AUTOREN | |
Eiken Bruhn | |
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