# taz.de -- Kreativität in der Pandemie: Auf der Suche nach der Motivation | |
> Schüler:innen sollten ein Essay über ihr Leben schreiben. Die | |
> 16-jährige Emma Haverkamp fragt sich, woher die Kreativität dafür kommen | |
> soll. | |
Bild: Laut „Copsy“-Studie hat die Belastung von Kindern und Jugendlichen in… | |
Am Freitag vor zwei Wochen gab es im Lernraum eine neue Aufgabenstellung, | |
die folgendermaßen lautete: „Verfasst einen Essay über euer Leben in der | |
Pandemie. Ein Essay ist eine freie Form, die aus subjektiven Wertungen und | |
Betrachtungen besteht. Hier sollt ihr euch kreativ ausleben, könnt | |
originelle Gedanken über euch, eure Gefühle und die Veränderungen innerhalb | |
der Gesellschaft und der Welt darlegen.“ | |
Mit dem Lesen dieser Zeilen nahm in meinem Kopf sofort eine Art | |
Gedankenspirale ihren Lauf. Um das zu veranschaulichen, übersetze ich die | |
Aufgabenstellung mal so, wie sie sich für mich ungefähr angehört hat: Mache | |
dir sehr viele Gedanken, verzweifle auf keinen Fall, durchsuche dein Gehirn | |
nach dem letzten Rest an Kreativität und Motivation, und falls du fündig | |
wirst, schreibe den ganzen Text in der Nacht vor der Abgabe, weil du vorher | |
bei dem bloßen Gedanken an kreatives Schreiben schon Panik bekommst. | |
Wenn man wochenlang Texte schreibt, Quellen analysiert, Reden analysiert | |
und schreibt, Textaufgaben löst und an Konferenzen teilnimmt, dann ist da | |
natürlich irgendwann die Luft raus. Vor allem, [1][wenn man dabei alleine | |
mit sich selbst vor dem Laptop sitzt]. Vor dem Lockdown oder besser: Bei | |
normalem Schulbetrieb hätte ich wenigstens mit Freunden über die Aufgaben | |
lästern, Hausaufgaben abschreiben, oder zwischendurch auch mal zu Rewe | |
gehen können, aber jetzt fällt das alles weg. Jetzt sinniere ich allein | |
über meinen Aufgaben, telefoniere stundenlang mit Mitschüler*innen zu | |
Fächern wie Deutsch oder Physik, schicke jeder zweiten Person aus meinem | |
Mathe-Kurs die Lösungen und gehe in die Küche um mir den vierten Kaffee zu | |
machen. | |
Mit mir in die Küche trage ich einen Rucksack. Einen Rucksack aus Aufgaben, | |
Stress, Druck und Erwartungen, der, bevor ich loslaufe, um die gerade | |
eingereichte Aufgabe erleichtert und bei meiner Rückkehr an den | |
Schreibtisch oft sofort wieder mit dem nächsten Auftrag beladen wird. Dabei | |
bleibt der Rucksack immer mindestens halbvoll – im Moment eher übervoll. | |
Wenn ich meine Freund*innen und andere Personen aus meinem Umfeld frage, | |
bekomme ich die Antwort, dass es den meisten genauso ergeht. | |
## Ängste unter Kontrolle zu halten | |
Vermutlich liegt es also nicht an mir, sondern an der Situation, in der wir | |
ja alle auf eine Art gefangen sind. Die meisten haben ihre | |
Hauptbeschäftigung wohl darin gefunden, To-do-Listen zu schreiben und ihre | |
Sorgen, Emotionen und Ängste unter Kontrolle zu halten. Von Energie oder | |
Kreativität hat man leider schon länger nichts mehr gehört. | |
Mittlerweile frage ich mich: Was ist los mit der Kreativität? Hat die | |
Pandemie nicht letztes Jahr noch für einen Schub von innovativen Ideen | |
gesorgt? [2][Die Digitalisierung ist vorangeschritte]n, es entstanden neue | |
Konzepte, Ideen – eine neue Form des Miteinanders und kreative Lösungen für | |
Probleme, da diese nun mal gebraucht wurden. Es wurde so viel improvisiert | |
wie lange nicht mehr, es wurden neue Denkansätze und Lösungswege gesucht | |
und gebraucht. Nicht umsonst gibt es Sprüche wie „Not macht erfinderisch“. | |
Lange hatte man den Eindruck, dass ein gewisser Druck oder Stress sogar | |
notwendig ist, um kreativ zu werden. Warum ist das jetzt anders? | |
Vermutlich, weil Kreativität und Ideen keine steuerbaren Ressourcen sind. | |
Innovationsenergie ist endlich und nicht pausenlos verfügbar. Vor allem in | |
Bezug auf das Homeschooling werden diese Tatsachen inzwischen mehr als | |
deutlich. Die Lernbedingungen sind stark limitiert, und trotzdem kommt | |
niemand auf die Idee, die Ansprüche, wie beispielsweise den Rahmenlehrplan, | |
mal ganz grundsätzlich zu reduzieren. | |
Meine Bildschirmzeit ist auf einem Level gelandet, das vor einem Jahr noch | |
unter den Gefahren exzessiver Mediennutzung als höchst schädlich | |
beschrieben wurde. Ich habe mal nachgerechnet, wie viel Zeit ich am Tag | |
durchschnittlich nur mit Videokonferenzen verbringe und komme auf über vier | |
Stunden. Täglich. Seit 9 Wochen. Dann sitze ich bis abends an den | |
restlichen Aufgaben, so wie jetzt gerade auch. Es ist 22.43 Uhr, und ich | |
frage mich, woher originelle Gedanken, Kreativität, Ausgleich oder | |
Inspiration kommen sollen, wenn man zwischen Schreibtisch, Bett, Küche und | |
der immer gleichen Runde im Park hin und her pendelt. Der letzte Funke von | |
Kreativität hat mein Gehirn wahrscheinlich vor etwa zwei Wochen verlassen. | |
## Zusammen ist man weniger allein | |
Ich bin fast froh, dass eine Befragung von Kindern und Jugendlichen zu | |
ihrem Belastungsgefühl im Lockdown im Rahmen einer [3][größeren Studie mit | |
dem witzig klingenden, aber ernst gemeinten Namen „Copsy“] (Corona und | |
Psyche) ergeben hat, dass sich die Situation von uns allen tatsächlich | |
verschlechtert hat. Zusammen ist man weniger allein. Dann bekommen sicher | |
auch andere bei Aufträgen, die irgendwas mit intellektuellem Aufwand zu tun | |
haben, sofort die innere Rückmeldung: „Achtung: Akku fast leer. Bitte | |
Ladegerät anschließen.“ | |
Okay, jetzt ist mal genug mit dem Rumheulen. Schließlich ist Donnerstag – | |
gleich 23 Uhr, und ich will doch versuchen, etwas Gutes in all dem | |
Schlechten zu finden. Also mein Fazit: Am Ende sitzen wir alle in derselben | |
Gefühlsachterbahn, laufen im Park die immer gleichen Runden und finden | |
Inspiration vor allem im Ausprobieren von neuen Styles für ungeschnittene | |
Haare. Das ist zwar im hier geforderten Sinn nicht gerade kreativ, aber | |
wenigstens ist man mal kurz abgelenkt, kann zusammen jammern oder sich ein | |
bisschen zu zweit mit Abstand und Maske bei der erlaubten „Bewegung im | |
Freien“ einen Coffee-to-go genehmigen. Den fünften Kaffee an dem Tag also. | |
Aber gerade in Krisen sind Routinen ja wichtig. Und jetzt, wo dieser Text | |
geschrieben ist, wird mein Rucksack auch wieder etwas leichter. Zumindest | |
bis Montag. | |
PS: Der Rucksack meiner Mutter ist jetzt, um ehrlich zu sein, | |
wahrscheinlich auch etwas leichter. Sie kannte das Gefühl wohl seit der | |
Grundschule nicht mehr, neben mir sitzen zu müssen bis die Aufgabe fertig | |
ist, um moralische Unterstützung zu leisten. | |
Emma Haverkamp ist 16 Jahre alt und besucht die 11. Klasse eines Berliner | |
Gymnasiums mit musischer Ausrichtung. | |
5 May 2021 | |
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[3] https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie… | |
## AUTOREN | |
Emma Haverkamp | |
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