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# taz.de -- Übers kreative Schreiben: Die Angst vor dem Ich
> Seit 40 Jahren verdient unsere Autorin ihr Geld mit Schreiben. Zum
> Jubiläum: unfertige Gedanken über Scham, Hermetik und eine veränderte
> Öffentlichkeit.
Bild: „Wir Jüngeren betrachteten uns als Werdende, nicht als Seiende“
Irgendwann in diesem Jahr hatte ich ein kleines persönliches Jubiläum:
[1][40 Jahren Schreiben], öffentlich und für Geld. Hui, das ist eine
verdammt lange Zeit, dachte ich und fing an – ja was wohl? – ein paar
Gedanken zu notieren. Was hat sich verändert, mit dem Schreiben und den
Schreibenden? Die Notate blieben liegen, willentlich vergessen, denn sie
gaben nichts präsentabel Eindeutiges, gar Kämpferisches her, nichts, das
irgendjemandes Erwartung hätte erfüllen können.
Aber vielleicht ist dieses Zaudern und der Wunsch, mich selbst zu schützen
vor dem Äußern von angreifbar Mehrdeutigem ein erster, indirekter Hinweis
auf das, was sich gewandelt hat, im Verhältnis von Ego, Sprache und
Öffentlichkeit. Es sei hier forsch alles ignoriert, was analytisch
Medienbibliotheken füllt, [2][Digitalisierung], Globalisierung, und allein
ein unscheinbarer, schrumpeliger Kern herausgelöst: das Individuum, mit dem
Stift in der Hand der Welt gegenübertretend.
Was also hat sich geändert? Beginnen wir mit Peripherem. Besagte Welt
gleich nach der Journalistenschule mit einem Buch zu beglücken, wäre als
lächerlich empfunden worden. Es gab eine stillschweigende Anerkenntnis,
dass es einer Zeit des Lernens und Wachsens bedurfte, um sich an Themen
zunehmender Komplexität heranzutrauen. Natürlich war dieses
Adoleszenz-Modell auch Ausdruck von Hierarchien, gegen die sich bestens
rebellieren ließ. Aber da war noch etwas anderes:
Wir Jüngeren betrachteten uns als Werdende, nicht als Seiende; niemand
verstand sich als Marke. Gewiss gab es Eitelkeit: „sich einen Namen
machen“! Doch selbst bei berühmten Namen blieb der Mensch dahinter eher
unbekannt, hatte manchmal über Jahre für ein größeres Publikum nicht einmal
ein fotografisches Gesicht. Der Hinweis, solche Ikonen seien meistens
Männer und immer weiß gewesen, liegt auf der Hand.
## Scheinheiligkeit unter Journalist:innen
Aber lag der Unwille, sich mit Persönlichem zu exhibitionieren, wirklich
nur daran, dass in einer arg homogenen Zunft selbst die nackten Körper alle
ähnlich gewesen wären? Ja und nein. Die heutige Tendenz, sich mit Facetten
eigener Identität frühzeitig als interessantes Unikat zu stilisieren,
stimmt mich froh, wenn ich sie als Ausdruck errungener Diversität
betrachtete – und nicht als Folge prekärer Verhältnisse, in denen das
eigene Verschiedensein zu Markte getragen werden muss, um voranzukommen.
Aktivismus? Galt mit Journalismus als unvereinbar, dabei hatten zahllose
Kolleg:innen eine politische Agenda, und die Lagerbildung entlang
Parteibuch war legendär. Aus dem Mikrokosmos der einstigen Hauptstadt Bonn
erinnere ich lebhaft das Phänomen der gespaltenen Persönlichkeiten: Sie
schrieben anders, als sie dachten, und redeten anders, als sie schrieben.
Auf Pressekonferenzen auftreten wie der Rächer der Enterbten und dann im
Gedruckten nicht wiederzuerkennen.
Scheinheiligkeit war verbreitet, weil sich Parteinahme ebenso wie
Gefälligkeit gegenüber Machtinteressen hermetischer als heute hinter einer
Fassade sogenannter Objektivität verbergen konnten.Die Ich-Form war verpönt
und ich selbst eine leidenschaftliche Verfechterin dieser Doktrin. Als
meine Wochenzeitung in den 90er Jahren verlangte, ich solle mich an einer
Kolumne beteiligen, die in der ersten Person zu schreiben sei, wälzte ich
mich nachts in durchgeschwitzten Laken.
Als hätte ich am nächsten Morgen nackt auf die Straße treten müssen. Dem
Nachwuchs verlangte ich als Schreib-Dozentin über Jahre ab, sich bei
Dramaturgie-Problemen nicht mit einem billigen „… und dann stieg ich in den
Bus und fuhr nach X.“ herauszuplappern, sondern gefälligst die kühlen Höhen
Ich-loser Professionalität zu erklimmen.
## Bloss keine Ich-Form
Am eigenen szenischen Texten schraubte ich so lange herum, bis das
subjektiv Gesehene ohne das sehende Subjekt verwacklungsfrei auf dem Blatt
stand – das Ideal einer freihändigen Wahrhaftigkeit. Times gone by, auch
bei mir. Aber dies alles ist ja keineswegs allein eine Frage von Stil und
Handwerk, sondern des Verhältnisses von Individuellem und Öffentlichem.
Darf ich, will ich, muss ich mich als Person ausstellen, erkennbar,
unverwechselbar machen?
Kürzlich lernte ich den Begriff „Absendereindeutigkeit“, das ist
Buchbranchen-Jargon. Warum ebendiese Autorin ebendieses Buch verfasst hat,
das muss der Kundschaft, dem Markt auf ersten Blick zweifelsfrei klar sein,
es muss passen, hautfarben- und haargenau, eine ins Auge springende
Evidenz, bloß nicht Nachdenken-Müssen dabei. Und welche Fallhöhe entsteht,
wenn beim Publikum bestimmte Identitätsmerkmale die Aussagen einer Person
erst attraktiv machen!
Wie gegenwärtig auf großer Schlammbühne [3][einem jüdischen Publizisten]
seine Selbstbezeichnung abgesprochen wird, ist ein Lehrstück des
Schreckens. Was das Ich betrifft, fahre ich längst im Zug der Zeit. Ich
habe begriffen: Es gibt ein veräußerlichtes Ich, das in der Öffentlichkeit
herumspazieren kann, ohne nächtliche Schamangst zu verursachen. Manches ist
so intim, sagte Virginia Woolf, dass man es nur gedruckt äußern kann.
Mein lebensherbstliches Beobachter-Ich hat sich von früheren Ängsten
befreit, doch ist an deren Stelle ein andersgeartetes Zaudern getreten.
Mein Reden und Schreiben über weiße Weltsichten und angemaßte
Neutralitätskonstrukte hat mich zwischen Baum und Borke platziert und für
jedweden vorbeiflanierenden Zweifel empfänglich gemacht.
Die einstige Selbstgewissheit, Kenntnisse und kritischer Verstand seien
fürs öffentliche Wort eine hinreichende Legitimation, ist Vorsicht
gewichen. Wofür bin ich kompetent, wo sprechfähig? Zu keiner (so
empfundenen) Kohorte zu gehören, erscheint mir heute schwieriger als
früher. Vielleicht bündelt sich in diesen Zweifeln im Guten wie im
Schlechten, was sich verändert hat.
19 Sep 2021
## LINKS
[1] http://charlottewiedemann.de/vita
[2] /Ministerium-fuer-Digitales/!5782589
[3] https://www.deutschlandfunk.de/kontroverse-um-die-zugehoerigkeit-zum-judent…
## AUTOREN
Charlotte Wiedemann
## TAGS
Schlagloch
Schreiben
Digitalisierung
Globalisierung
Diversität
Hetze
Schwerpunkt Coronavirus
Weimar
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