# taz.de -- Foodbloggerin aus Weimar: Essen wie zu Goethes Zeiten | |
> Goethe hat sich einst Sardellensalat ins Theater liefern lassen. Petra | |
> Hermann hat ein komplettes Menü nach seinem Geschmack zusammengestellt. | |
Bild: Ein Dessert aus Resten: die Nonnenfürtz. Der Name führt in die Irre | |
Alle dreißig Jahre, sagt Petra Hermann, „fang ich was Neues an“. Erst war | |
sie Finanzbearbeiterin, ab 30 dann Täschnerin und Designerin; sie baute | |
eine Taschenmanufaktur auf. Mit 60 wurde sie Foodbloggerin. „Was es mit 90 | |
ist, weiß ich nicht.“ | |
Seit fast zehn Jahren schreibt Hermann übers Essen, über Nahrung, über das, | |
was man sich einverleibt, was schmecken und guttun soll. [1][Obers trifft | |
Sahne] heißt ihr Blog. Der Name entstand im Austausch mit österreichischen | |
Hobbyköchinnen. | |
Trotz internationaler Vernetzung hat Hermann aber nie ihre Bodenhaftung | |
verloren. Da wird nichts gekocht, wozu Zutaten gebraucht werden, die erst | |
teuer bestellt werden müssen. Kommt dazu: Petra Hermann ist Weimarerin. Bei | |
allem, was mit Essen zu tun hat, verliert sie den Blick auf ihre Stadt und | |
ihr Thüringen nicht, sagt sie. Außerdem habe man als Weimarerin stets | |
Goethe luftig im Gepäck. | |
Und so entdeckte Hermann vor ein paar Jahren in einer Ausstellung ein von | |
einer Hofdame notiertes Rezept: „Sardellen Salat sehr gut“. Eine Leibspeise | |
von Goethe sei es gewesen; Sardellen, Ei, Pellkartoffeln und einiges mehr | |
ist drin. Goethe habe sich den Salat sogar in seine Loge ins Weimarer | |
Hoftheater liefern lassen, sagt Hermann. „Catering gab’s damals nicht.“ | |
Das Rezept hat sie animiert, sich weiter mit Goethe zu beschäftigen und ein | |
Menü zusammenzustellen, das der Dichter Anfang des 19. Jahrhunderts so | |
gegessen haben könnte. Fleischlastig, klar. Goethe liebte Fleisch, aber das | |
Tierwohl sei ihm auch sehr am Herzen gelegen. Im „Erbenhof“, einem | |
Restaurant in Weimar, unweit des Goethe-Hauses, mit fantastischem Innenhof, | |
kann man es auf Anmeldung für 40 Euro bekommen. | |
## Der erste Gang | |
Als Erstes kommt auch hier ein Sardellensalat auf den Tisch, unter dem | |
Namen „Geheimratsecken“, auf geröstetem Graubrot mit Rote-Bete-Creme | |
serviert. Beim geschmacklichen Herantasten, die Salznote des Fisches wird | |
weich abgetönt vom Ei, den Kartoffeln und der süßlichen Rote Bete, wird die | |
Zunge gelöst. Ja, sie habe immer schon gerne gekocht, sagt Hermann. Als sie | |
ihre Taschenmanufaktur an ihren Sohn weitergab, sei das Kochen mehr in den | |
Fokus gerückt. Speisen erfinden, sich Dinge vorzustellen, die einem das | |
Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, sei ein kreativer Akt. | |
Wenn Petra Hermann die Rezepte aufschreibt und auf ihren Blog stellt, setzt | |
sie sich selbst den Rahmen. Ihrer ist es, Geschichten zu erzählen, die mit | |
Essen, mit Genuss zu tun haben. Essen, so Hermann, wecke Erinnerungen – an | |
Eltern, Großeltern, Umstände, das Land, andere Länder. | |
## Der zweite Gang | |
Es folgt eine „Brühe vom Kalb mit kleinen Pastetlein“. Letztere sind im | |
Erbenhof pilzgefüllte Teigtaschen. „Eigentlich müssten es Teigpasteten | |
sein“, sagt Hermann, toleriert aber, wenngleich in diesem Fall ungern, | |
Abweichungen. Sich strikt daran zu halten, wie es vor 200 Jahren war, ziehe | |
nicht in Betracht, dass sich die Welt geändert habe. | |
Und für Petra Hermann hat sich die Welt über all ihre Lebensjahrzehnte sehr | |
geändert. „Mit 30 habe ich mich nochmal ans Fließband gesetzt.“ In einem | |
Lederwarenkombinat in Weimar. Weil sie nicht der Typ war, der Erfüllung im | |
Zahlenjonglieren der Buchhaltung fand, weil sie dieses Begehren hatte, | |
kreativ zu sein, etwas mit ihren Händen zu tun. Da klingt auch Verzweiflung | |
mit. Denn Fließband und Kreativität gehen ebenfalls nicht wirklich | |
zusammen. | |
Dennoch: Petra Hermann lernte das Handwerk, wurde Täschnerin, begann ihre | |
eigenen Taschenmodelle zu entwerfen, hatte ihre eigene Werkstatt – alles | |
legal, alles noch in der DDR. „Einmal im Monat setzten sich Kunden morgens | |
um vier in meinen Hof und um zehn waren wir ausverkauft.“ So lief das im | |
Sozialismus. Taschen waren Mangelware. | |
Und dann kam die Wende, die Marktwirtschaft, der Kapitalismus, die | |
Konkurrenz. Und sie behauptete sich, fertigte zeitweise die Täschchen für | |
die Stewardessen der Lufthansa, hatte acht Mitarbeitende. | |
So eine Brühe wärmt den Körper und macht das Sprechen leicht. Noch nämlich | |
liegt nichts schwer im Magen. Nur dass die Themen, die angerissen werden, | |
schon anfangen zu mäandern: Vom thüringischen Wein – früher sei das ein Tal | |
der Tränen gewesen – zu Farben und zur Fotografie, Petra Hermann | |
perfektioniert das gerade bei der Foodfotografie, geht es weiter im | |
Gespräch: über die Wende 1989, das Kochen, die „Ambiente“, eine | |
Designmesse, und Auszeichnungen, die Hermann gewann, einen „Red Dot Design | |
Award“ für eine Taschenkreation. | |
Alle Themen verschmelzen zu einem. Auch die gewonnene „Küchenschlacht“ im | |
ZDF vor elf Jahren wird angerissen, um dann endlich bei Goethes Vorlieben | |
zu landen. Artischocken etwa und Pasta, die damals 30 Minuten lang gekocht | |
wurde. | |
## Der Hauptgang | |
„Gut Wildbret mit Morchelsoße an Franken Knöpflein“ wird nun serviert. Das | |
Wild ist zart, schmelzend – und ohne stechenden Geruch. Die Morcheln sanft. | |
Und Knöpfle, das seien Semmelknödel, erklärt Hermann. Das Rezept komme aus | |
dem Rezeptbuch von Goethes Großmutter. Darin gebe es übrigens nur ein | |
einziges Gemüsegericht: gefüllte Weinblätter. Und weil das Essen jetzt | |
schwerer wird, wird es auch das Gespräch. Corona, Klima, Verantwortung für | |
die Geschichte und die Zukunft – solche Themen. | |
Aber der Schwenk in den Alltag kommt doch wieder auf, trotz der großen | |
Fragen. Denn als Petra Hermann am Anfang der Coronazeit sah, wie die | |
Supermärkte leer gekauft wurden, dachte sie praktisch: „Das viele Essen, | |
das da am Ende weggeworfen wird.“ Und sie begann, ein Kochbuch zu | |
schreiben: „Das Beste sind die Reste“. Drin steht, was man aus altem Brot, | |
übrig gebliebenem Fleisch, zu viel gekochten Kartoffeln und Nudeln, | |
altbackenem Kuchen, stehen gelassenem Reis und nicht gegessener Wurst | |
machen kann. | |
## Das Dessert | |
Was zum Schluss kommt, nennt sich „Nonnenfürtz an Weinschaum und | |
Apfelcreme. Dazu Welsche Nüsse“. Auch das ist ein Rezept von Goethes | |
Familie. | |
Charmant, verschmitzt und gleichzeitig unglücklich sei die Bezeichnung. In | |
Wirklichkeit leite es sich von „Nonnekenfurt“ ab und das bedeute, „was | |
Nonnen am besten können“. Reste verwerten wohl. Die übrig gebliebenen | |
Lebkuchen von Weihnachten gehen darin auf. Hermann hat das Rezept in ihr | |
Restekochbuch aufgenommen. | |
Der Weinschaum, die fermentierten Nüsse und die Apfelcreme sind das | |
Sicherheitsnetz für den Salto, den einfache Gerichte wie die Nonnenfürtz | |
machen, um zu verzaubern. Warum essen wie Gott in Frankreich? Bescheidener | |
sein: essen wie Goethe in Weimar. Das Savoir-vivre ist da. | |
2 Nov 2020 | |
## LINKS | |
[1] http://www.oberstrifftsahne.com | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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