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# taz.de -- Kochen mit dem Internet: Besser als Spam
> Das Kochbuch „Leaked Recipes“ von Demetria Glace versammelt Rezepte, die
> im Zuge prominenter Mail-Leaks und -Hacks im Internet gelandet sind.
Bild: Herausgefischt: 53 Rezepte aus dem Netz
Rezepte sind die Algorithmen der Küche: strukturierte „Erst dies, dann das,
und wenn jenes, dann dieses“-Protokolle, die zu einem vorab definierten
Ergebnis führen sollen. Und wie andere Datensätze auch, wie Bilder, Musik,
Geschichten und Ideen, sind Kochrezepte seit Jahrtausenden Teil dessen, was
wir heute Remix-Kultur nennen. Sie werden kopiert und weitergegeben und
dabei modifiziert, angepasst, verbessert, verfeinert.
Die Wege, auf denen dies geschieht, sind verschlungen, informell und wenig
erforscht: Lange geschah es nur mündlich, später wurden Aktenordner gefüllt
mit abgeschriebenen oder fotokopierten Rezepten, am Rand mit Notizen
vollgekritzelt. Seit einigen Jahrzehnten erfolgt die Weitergabe auch
elektronisch, und einen kleinen Einblick darein bietet nun das durch und
durch faszinierende Buch [1][„Leaked Recipes“ der Britin Demetria Glace.]
Die Rezepte waren nicht für ein Kochbuch vorgesehen. Sie stammen aus knapp
sieben Millionen E-Mails aus den Jahren 2000 bis 2017, die im Zuge von elf
Mail-Leaks und -Hacks im Internet gelandet sind. Glace hat sie mit einigen
Dutzend Suchbegriffen – „recipe“ natürlich, aber auch „ingredient“,
„sugar“, „dish“, „cheese“, „chocolate“ oder „garlic“ – du…
53 Rezepte herausgefischt.
Dabei habe sie durchaus Unterschiede in der Unternehmenskultur ausmachen
können, berichtet Demetria Glace. Manche Arbeitszusammenhänge seien
deutlich „foodie“-hafter als andere, manche Leaks gaben gar keine Rezepte
her, während beim untergegangenen Skandalkonzern Enron sogar über ein
Firmenkochbuch nachgedacht wurde.
## Topmanagement kocht Taglioni mit Trüffeln
Weitere Mails stammen [2][aus dem Umfeld von Hillary Clinton] und Emmanuel
Macron, aber auch von Mitarbeiter:innen von Sony Pictures oder [3][dem
US-amerikanischen Thinktank Stratfor], bis hin zum Topmanagement, das gerne
mal Taglioni mit 100 Gramm weißen Trüffeln kocht. Veröffentlicht wurden die
Leaks natürlich wegen Inhalten, die auf eine ganz andere Art delikat sind –
doch die Enthüllungen über Firmen- und Staatsaffären sind eben nur die
Spitze des Eisbergs. Unter der Oberfläche der allgemeinen Aufmerksamkeit
finden sich Unmengen an Alltagskommunikation.
Kulinarisch gesehen sind die Rezepte eher profan: Viele Dips, Soßen,
Beilagen und Desserts sind dabei, auch einige Pasta-, Seafood- und
Fleischgerichte. Weniger profan ist es, sie nachzukochen. Demetria Glace
hat die Rezepte absichtlich nur so weit bearbeitet, dass sie sie in eine
einheitliche Form brachte, ansonsten aber alle Leerstellen und
Ungenauigkeiten, die bei der privaten Weitergabe entstehen, übernommen –
inklusive hilfreicher Hinweise wie „Think of it as a baseline and work from
there“ oder „I don’t usually bake them, but my grandma does“.
Doch es geht in „Leaked Recipes“ ja gar nicht wirklich um Essen. Es geht um
Kommunikation. In einer Art Making-of im Anhang ihres Buches ergänzt Glace
die Rezepte um kurze essayartige Texte über die Hintergründe der
E-Mail-Leaks, den Umgang der Betroffenen damit, um
Office-Kommunikationskultur und Verschwörungstheorien. Außerdem
veröffentlicht sie einige der Original-Mails, aus denen sie die Rezepte
extrahiert hat, mit geschwärzten Namen.
## FW: <em>Chicken</em><em>Tequila</em> Sauce
Hier finden sich detaillierte Instruktionen für die Gastgeber des
Grillabends einer Kirchengemeinde („The menu is a back-yard grill special
with an emphasis on casual, easy summer foods. (…) Casual tableware
including nice paper/plastic is fine.“), genau wie der Austausch
gelangweilter Praktikant:innen („I am at internship. It’s slow. I’m
kind of bored. wooooooo.“ – „im sorry you’re bored. im at a style x mee…
and im pretendig to take notes.. muahaha wooooo spring brizzeakkkk!“), und
natürlich wurden auch die Betreffzeilen der Mails 1:1 übernommen („Subject:
FW: <em>Chicken</em><em>Tequila</em> Sauce“ – „Subject: Re: Fwd: EMAZING
Recipe of the Day“ – „RE: November Newsletter Deadline“).
Glace hat seit 2017 an „Leaked Recipes“ gearbeitet, wobei die konkrete Idee
eines Buchs erst während des Lockdowns kam. Sie hat versucht, mit allen
Rezeptmail-Verfasser:innen Kontakt aufzunehmen, hat alle Gerichte
mindestens drei Mal nachgekocht und all das mit viel Liebe zum Detail zu
einem Gesamtwerk editiert, das gleichermaßen Kochbuch wie Kunstprojekt ist.
Dazu tragen auch die Fotos von [4][Emilie Baltz] bei. Das Essen ist hier
auf, in und um Objekte aus der Arbeits- und Computerwelt arrangiert, die
zum Teil musealen Charakter haben: Mini-Discs verfeinern einen
Artischocken-Dip, eine Forelle wird von einem Mehrfachstecker umschlungen,
eine Apple-Retro-Maus liegt neben Schweinerücken und Süßkartoffeln und
Dunkle-Schokolade-Kirsch-Cupcakes auf einem Motorola-Klapphandy. Zum
Reinbeißen!
11 Jul 2021
## LINKS
[1] https://www.jbe-books.com/products/the-leaked-recipes-cookbook-by-demetria-…
[2] /Hillary-Clintons-E-Mail-Affaere/!5274441
[3] /Das-Geschaeft-mit-den-Informationen/!5099548
[4] http://emiliebaltz.com/
## AUTOREN
Michael Brake
## TAGS
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