| # taz.de -- Die Kochbücher des Jahres: Bartender und Thomas Bernhard | |
| > Wir stellen zehn bemerkenswerte kulinarische Bücher aus dem Jahr 2022 vor | |
| > – von Portugal bis Ostasien, von Italien bis Sinzig. | |
| Bild: Erst kommt das Lesen und dann kommt das Mahl | |
| Es muss nicht immer fancy sein | |
| Kann gut sein, dass der Jamie Oliver der 2020er Jahre eine Frau ist und | |
| Alison heißt, Alison Roman. Die Kolumnistin der New York Times mit eigenem | |
| Youtube-Kanal kocht so unprätentiös und einfach wie der „Naked Chef“ vor | |
| der Jahrtausendwende und hält dabei auch noch ihre Fingernägel makellos | |
| orangerot. Wie man für Gäste Essen macht und dabei lässig in der Küche | |
| steht – oder gar nicht stehen muss, weil alles fertig ist oder im Ofen warm | |
| steht –, darum geht es in ihrem zweiten Kochbuch. | |
| Roman präsentiert simple Rezepte, meist mit ein, zwei überraschenden | |
| Kniffen oder Zutaten, Brathähnchen kombiniert sie mit karamellisierter | |
| Zitrone, gelbe Bete mit Buttermilch. Vor allem aber will sie die Leser zu | |
| guten Gastgebern machen. Eine wichtige Erkenntnis dabei: Man sollte sich | |
| helfen lassen, statt hektisch in die Küche zu verschwinden. Die goldene | |
| Regel aber ist laut Alison Roman: keine Entschuldigung. Perfektionismus hat | |
| nur Platz im Restaurant. Jörn Kabisch | |
| Alison Roman: „Nothing Fancy: Entspannt kochen für Freunde“. DK Verlag, 320 | |
| Seiten, 29,95 Euro | |
| * * * | |
| ## Italiensehnsucht neu vermessen | |
| Mit ihrer Webseite „Splendido“ haben die Journalistin Mercedes Lauenstein | |
| und der Fotograf Juri Gottschall [1][die deutsche Italiensehnsucht neu | |
| vermessen]. Tolle Rezepte, sinnlich geschrieben wie kleine Geschichten, | |
| dazu perfekt fotografierte Teller in einer eiskalten Ästhetik, die nichts | |
| mehr mit der erdig-rustikalen Romantik der Toskanafraktion zu tun hat. | |
| Das kommt so gut an, dass drumherum eine – mit Olivenöl für Minimum 30 | |
| Euro/Liter – gut geschmierte Merchandising-Maschine aufgebaut wurde, und | |
| jetzt gibt es eben auch ein Kochbuch. Auch das ist optisch aus einem | |
| schneeweißen Guss, die Rezepte brauchen selten mehr als sieben Zutaten, und | |
| auf Mengenangaben wird ebenfalls verzichtet. Bei gutem Essen geht es | |
| schließlich ums Gefühl. Michael Brake | |
| Mercedes Lauenstein, Juri Gottschall: „Splendido“. DuMont, 256 Seiten, 30 | |
| Euro | |
| * * * | |
| ## Cocktaillust statt Lockdownfrust | |
| Was macht ein Bartender, wenn die Bar coronabedingt schließen muss? | |
| Cocktails to go, sollte man meinen. Oder er liefert eine verbale | |
| Grundausrüstung, damit zumindest die Gäste, die für gewöhnlich an seinem | |
| Tresen sitzen, sich selbst versorgen können. Klaus St. Rainer aus der | |
| Goldenen Bar in München ist einer der bekanntesten Bartender Deutschlands, | |
| in „Home Bar“ beschreibt er, mit welchen Utensilien, Techniken und Zutaten | |
| Drinks gelingen, die den Küchentisch in einen Tresen zu verwandeln | |
| vermögen. Mehr als 70 Rezepte, sie reichen von Klassikern wie Manhattan | |
| oder Mojito bis hin zu ausgefalleneren Variationen wie etwa „Kalte Ente | |
| 2011“, gibt es hier, dazu Stammtischwissen und Shakekniffe, mit und ohne | |
| Alkohol. Das hilft [2][durch die Tage zwischen den Jahren], hält aber auch | |
| [3][bis zur nächsten Gartenparty]. Juliane Reichert | |
| Klaus St. Rainer: „Home Bar“. DK Verlag, 176 Seiten, 19,95 Euro | |
| * * * | |
| ## Ein Wok für alle Gelegenheiten | |
| Sein 2015 erschienenes Debüt „Food Lab“ hat J. Kenji López-Alt zu einem | |
| Star der Koch-Community gemacht, sein zweites Buch trägt den schlichten | |
| Titel „The Wok“. Und weil Woks in ganz Ostasien benutzt werden, bietet das | |
| Buch Rezepte aus der gesamten Region. Darunter sind klassische Stir-Frys, | |
| bei denen die Zutaten im extrem heißen Wok kurz angebraten werden – hier | |
| unbedingt das Kümmel-Lamm probieren –, doch lässt sich mit dem Wok noch | |
| viel mehr machen. López-Alts Rezepte reichen von koreanischen Reiskuchen | |
| über chinesischen Frühstücks-Congee (Reisbrei) und kalte Nudeln bis zur | |
| Zubereitung von [4][Dashi, einer japanischen Suppenbasis]. Wie schon in | |
| „Food Lab“ widmet sich López-Alt dabei ausführlich den chemischen | |
| Prozessen, sein Motto ist: „Technik geht über Rezept“. Und die Techniken | |
| erklärt er so faszinierend und anschaulich, dass sich mit ihnen schnell | |
| eigene Gerichte kreieren lassen. Leonard M. Schulz | |
| J. Kenji López-Alt: „The Wok“. Norton &Company, 658 Seiten, 32,99 Euro | |
| * * * | |
| ## Auf eine Wurst mit Thomas Bernhard | |
| „Schon beim Frühstück entlädt sich die ganz normale Weltverdrossenheit“,… | |
| ist das in den Stücken des österreichischen Dramatikers Thomas Bernhard, in | |
| denen auch sonst permanent getafelt, getrunken und gegessen wird. Seien es | |
| die Brandteigkrapfen, die in „Ritter, Dene, Voss“ heruntergeschlungen und | |
| wieder hinausgewürgt werden, die Nazisuppe, die im „Deutschen Mittagstisch“ | |
| serviert wird, oder diverse Spezialitäten aus Bernhards Heimat. Denn „Essen | |
| fungiert als sadistisches Herrschaftsinstrument“, wie es in einem klugen | |
| Text in diesem gelungenen Buch über Thomas Bernhard und das Essen heißt. | |
| Mit verschiedenen essayistischen Zugängen umkreist der Band sein Thema, es | |
| gibt fundierte Blicke auf einzelne Gerichte, Abhandlungen zum Wesen des | |
| Wirts- und des Kaffeehauses, exakt sechs nachkochbare Rezepte. Und | |
| dazwischen geistert immer wieder Harald Schmidt durchs Buch, der als | |
| Herausgeber fungiert, sich durchs Salzkammergut, Bernhards zweitem | |
| Wohnsitz, schlemmt und länglich mit Claus Peymann plaudert. Ja, hier gibt | |
| es eine geballte Ladung saturierten weißen Kulturbetrieb, und der liefert | |
| gut abgehangene Texte voller Abschweifungen und Nonchalance. | |
| Bernhard-Kenner muss man für all das indes nicht sein, im Gegenteil, man | |
| kann ihn auch erst durch dieses Buch kennenlernen. Michael Brake | |
| Harald Schmidt (Hg.): „In der Frittatensuppe feiert die Provinz ihre | |
| Triumphe“. Brandstätter, 176 Seiten, 36 Euro | |
| * * * | |
| ## Spanien? Marokko? Hauptsache vegan | |
| Vor acht Jahren entschied sich die Software-Entwicklerin Zizi Hattab, | |
| Köchin zu werden, inzwischen hat sie mit dem Kle und dem Dar zwei vegane | |
| Restaurants in Zürich eröffnet, einen Michelin-Stern inklusive. Hattabs | |
| Buch „Taste of Love“ ist von den spanischen und marokkanischen Einflüssen | |
| ihrer Herkunft inspiriert, die Rezepte sind für jedermensch nachkochbar. | |
| Mich haben vor allem die Brotrezepte gepackt, der Spitzkohl mit | |
| Harissasauce und der Birnen-Kohlrabisalat. Ein veganes Kochbuch, das | |
| Maßstäbe setzt! Jörn Kabisch | |
| Zizi Hattab: „Taste of Love. Meine Rezepte – einfach und vegan“. at Verla… | |
| 336 Seiten, 46 Euro | |
| * * * | |
| ## Ein Herz für Berliner Schnauzen | |
| Zwar gibt es die Berliner Küche à la Eisbein und Hoppelpoppel, doch ist es | |
| nicht sie, die Berlin kulinarisch ausmacht – es ist die Vielfalt. Es sind | |
| die verschiedenen Geschichten, wie Menschen zum Kochen und in die | |
| Hauptstadt gekommen sind. Und so stellt „Faces of Gastronomy“ 23 | |
| Berliner:innen jedweder Herkunft vor. Etwa Sophia Rudolph, die im | |
| „Lovis“ in einem einstigen Frauengefängnis regiert, oder Jasmin und David | |
| Suchy, [5][deren veganes Zero-Waste-Restaurant „Frea“] – der Name ist | |
| hergeleitet von der nordischen Göttin der Fruchtbarkeit – ein Tempel der | |
| Nachhaltigkeit ist. Oder Vadim Otto Ursus, der in seinem 2019 gestarteten | |
| „Otto“ sämtliche Maxime einer guten Butter gesprengt hat, sein Trick: Er | |
| lässt die Biobutter mit Buchweizenkoji reifen. 300 Bilder und 16 | |
| Geschichten umfasst „Faces of Gastronomy“ insgesamt, eine gustatorische | |
| Tour durch Berlin im feisten DIN-A4-Coffee-Table-Book-Format. Juliane | |
| Reichert | |
| Melanie Greim, Hinnerk Clausen, Robert Schlesinger: „Faces of Gastronomy“. | |
| 416 Seiten, 79,95 Euro | |
| * * * | |
| ## Kochen, ficken, Drogen nehmen | |
| Kein Kochbuch, sondern ein Koch-Buch ist das hier: Max Strohe, heute | |
| Betreiber und Küchenchef [6][des Berliner Sternerestaurants tulus lotrek], | |
| beschreibt autofiktional sein Leben zwischen 15 und 25, und das war wild. | |
| Vom Gymnasium geflogen, Kochausbildung abgebrochen und doch noch beendet, | |
| danach Messeküche, Sternerestaurant, Altersheimkantine, Hotel auf Kreta | |
| und, und, und … Nirgends kommt Strohe richtig an, landet dafür immer | |
| zielsicher bei Drogen und Alkohol, mit denen er funktioniert, bis es das | |
| nächste Mal kracht. Dazu kommt die sehnsuchtsvolle Beziehung zum eigenen | |
| Vater, ein Antiquitätenhändler, weltgewandt, kultiviert, den Strohe zum | |
| ersten Mal mit 16 trifft. | |
| „Wenn’s geil ist, muss man’s sich nicht rar machen“, rät ebenjener Vat… | |
| bei einem Restaurantbesuch, und Strohe hält sich dran, auch als Autor: | |
| Überreich ist seine Sprache, voller Powersätze, die mitunter | |
| poetry-slam-artig aneinandergeklebt sind; dazu das leicht aufgesetzt | |
| wirkende Krasse, die Drogen, viele Sexszenen – es ist immer etwas too | |
| much, aber durchaus mitreißend. Die besten Stellen sind derweil die, in | |
| denen Strohe über Essen und den Arbeitsalltag in seinen diversen Küchen | |
| schreibt, die innere Organisation, die Hierarchien, die kleinen Tricks. Das | |
| hat man so noch nicht gelesen, und davon will man gern mehr. Michael Brake | |
| Max Strohe: „Kochen am offenen Herzen“. Tropen, 256 Seiten, 22 Euro | |
| * * * | |
| ## Von der Algarve auf den Tisch | |
| Steingut aus Portugal kommt in den buntesten Farben und ist die derzeit | |
| angesagteste Tableware überhaupt – man muss nur irgendein Interior-Magazin | |
| aufschlagen. Auch ich habe ein paar portugiesische Teller, und da ist der | |
| Drang schon groß, auf ihnen auch landestypische Küche anzurichten, aber | |
| bitte abseits der rustikalen und äußerst deftigen Klassiker wie Francesinha | |
| (Käse-Schinken-Toast mit Bratensoße) oder Frango piri-piri (scharfes | |
| Brathendl), die auch die Karten der meisten hiesigen „portugiesischen“ | |
| Lokale dominieren. Schließlich finden sich in Portugal wunderbar leichte, | |
| von Gemüse betonte Gerichte, nach denen man nicht sofort nach Aguardente | |
| (Schnaps) verlangt. Corinna Lawrenz ist durchs ganze Land gereist und | |
| stellt die interessantesten Restaurants vor, mitsamt Rezepten für Gerichte, | |
| die von jedem Teller schmecken. Jörn Kabisch | |
| Corinna Lawrenz: „Zu Gast in Portugal“. Callwey, 208 Seiten, 45 Euro | |
| * * * | |
| ## Fürs trinkfeste Grundstudium | |
| Die „Mixology“ ist mittlerweile ein feststehender Begriff in baraffinen | |
| Kreisen. Nun suggeriert eine Irgendwasologie, fester Bestandteil des | |
| bestehenden Wissenschaftskanons zu sein, etwas, das studiert werden kann – | |
| und mit Fug und Recht kann man behaupten, dass das „Imbibe!“ von David | |
| Wondrich Basislektüre einer trinkfesten Erstsemestervorlesung sein sollte. | |
| 15 Jahre nach seiner Veröffentlichung liegt dieses Standardwerk nun auf | |
| Deutsch vor, es nimmt die Anfänge und Rezepte der „American Bar“ im späten | |
| 19. Jahrhundert in den Blick und dabei im Speziellen Jerry Thomas, der das | |
| allererste Cocktailbuch geschrieben hat. Man will es nicht beschreien, aber | |
| mit diesem Buch würden wir auch noch mal zwei Monate bequem durch einen | |
| Lockdown kommen. Juliane Reichert | |
| David Wondrich: „Imbibe!: ‚Professor‘ Jerry Thomas und die Anfänge der | |
| American Bar“. Kartaus, 320 Seiten, 38 Euro | |
| 11 Dec 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Juliane Reichert | |
| Jörn Kabisch | |
| Michael Brake | |
| Leonard Maximilian Schulz | |
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