| # taz.de -- Autoren über Rezepte aus Altersheimen: „Unsere älteste Köchin … | |
| > Manuela Rehn und Jörg Reuter wollen kulinarische Erinnerungen vor dem | |
| > Vergessen retten. Ihr Kochbuch vereint Kesselknall und Hopseklöße. | |
| Bild: Lernen von den Alten: lse Ködderitz und die Köchin Lisa Angermann | |
| taz am wochenende: Frau Rehn, Herr Reuter, in Ihrem Kochbuch gibt es | |
| Rezepte für „Dippehas“, „Pluckte Finken“ oder „Dinette“. Das kling… | |
| sehr exotisch. | |
| Manuela Rehn: Ist aber deutsche Küche. Diese Gerichte kommen eben nur noch | |
| selten oder gar nicht mehr auf den Tisch. | |
| Was man beklagen muss? | |
| Jörg Reuter: Wir fänden es zumindest schade, wenn die Erinnerung daran | |
| verloren ginge. | |
| Sie haben für Ihr Buch „Unser kulinarisches Erbe“ nach diesen Erinnerungen | |
| gesucht und sie in Altersheimen in ganz Deutschland gefunden. Wie lief das | |
| ab? | |
| Reuter: Wir waren immer zwei Tage da. Am ersten Tag haben wir mit den | |
| Senior*innen nur über Gerichte und Rezepte geredet, am zweiten Tag | |
| gemeinsam gekocht. Unsere Grundfrage dabei war immer: Was waren | |
| Lieblingsessen Ihrer Kindheit? Das ganz konkret zu beantworten ist für | |
| Leute, die zum Teil über neunzig sind, gar nicht so einfach, stellten wir | |
| fest. Dafür hatten wir auf unserer Reise Andreas Rieger dabei, einen der | |
| intellektuellen Köpfe der jungen deutschen Köche, der früher im Berliner | |
| Einsunternull gekocht hat. Er hat oft mit den Stichworten, die wir bekamen, | |
| bis tief in die Nacht nach Rezepten gefahndet. | |
| Richtige Detektivarbeit! | |
| Reuter: Ja! Aber vor allem ging es uns darum, die Schilderungen umzusetzen. | |
| In einem Münchner Heim erzählte ein Herr von einem Speckkuchen aus seiner | |
| Kindheit. Er sei aus übrig gebliebenen Brotteigresten gemacht worden, | |
| fingerdick mit Speck belegt. Da war klar, genauso versuchen wir das auch – | |
| egal ob der Speck damals tatsächlich so dick auf dem Teig lag oder | |
| vielleicht nur aus der Perspektive eines kleinen Jungen. | |
| Was ist nun dieses kulinarische Erbe? Omaküche? | |
| Rehn: Nein, eigentlich Ururoma-Küche. Wir haben nicht [1][nach | |
| Nachkriegs-Maggi-Dr.-Oetker-Rezepten] gesucht, sondern nach denen aus der | |
| Vorkriegszeit, als Konserven, Tütensuppen und Tiefkühlschränke noch rar | |
| waren. Deswegen war unser Fokus, Menschen zu begegnen, die über achtzig | |
| sind. Unsere älteste Köchin war hundert Jahre alt. Sie erzählte immer so | |
| schön, wie die ganze Verwandtschaft kam und für alle gekocht wurde. | |
| Reuter: Es ist eine Generation, von der bald nicht mehr viele leben. Wir | |
| hatten im Laufe des Projektes das Gefühl, uns läuft die Zeit davon. | |
| Was zeichnet diese Küche aus? Viel Schwein, viele Kartoffeln? | |
| Reuter: Ja, so ungefähr waren anfangs auch unsere Erwartungen. In meiner | |
| Vorstellung war die deutsche Küche einfältig, nichts, auf das man richtig | |
| stolz ist. Doch wir sind auf eine ungeahnte Vielfalt gestoßen. Nicht nur | |
| Gulasch, Sauerbraten und Rouladen, es gibt viel mehr, vom „Errötenden | |
| Mädchen“ bis zu „Pfefferpotthast“ und „Kesselknall“. | |
| „Errötendes Mädchen“? | |
| Das ist eine Süßspeise mit Buttermilch und Preiselbeeren aus | |
| Schleswig-Holstein. | |
| Wie erklären Sie sich diese Vielfalt? | |
| Rehn: Zum einen sind wir auf eine Küche gestoßen, in der Regionalität und | |
| Saisonalität noch selbstverständlich waren. Die Zutaten und Rezepte ändern | |
| sich mehr, wenn Orte und Jahreszeiten eine Rolle spielen. Es kann nicht | |
| immer Schnitzel geben. Es wurde damals außerdem viel mehr eingemacht. Und | |
| auch das Prinzip der Ganztierverwertung gehört zu dieser Küche. | |
| Also Blut und Innereien? | |
| Reuter: Innereien weniger. Aber wenn mit Blut gekocht wurde am Schlachttag, | |
| sehr deftig, sehr herzhaft, das haben viele positiv in Erinnerung behalten. | |
| Auch Mehlspeisen finden sich im Buch. Wie „Riwanzerl“, eine Art Blini. | |
| Rehn: Das ist der osteuropäische Einfluss. Überhaupt merkt man bei vielen | |
| Gerichten, wie die Küche schon damals durch Migration bestimmt war – aus | |
| Schlesien, Ostpreußen oder dem Sudetenland. | |
| Was war kulinarisch die schwierigste Region? | |
| Reuter: Berlin. Es war wirklich mühsam, den Menschen mehr rauszulocken als | |
| Eintopf. Wir fragten: Was kam rein in den Eintopf? Antwort: Was im Garten | |
| wuchs. Und was gab’s sonntags? Eintopf! | |
| Haben Sie versucht, die Gerichte originalgetreu nachzukochen? | |
| Reuter: Ja und nein. Wir hatten in den letzten Jahren viel Kontakt zu | |
| jungen Köchen, die für eine neue deutsche Aufbruchsküche stehen. Die werden | |
| nicht mehr vom Hummer inspiriert, sondern vom Teltower Rübchen. Wie Andreas | |
| Rieger, aber auch Micha Schäfer vom Nobelhart & Schmutzig. Diese Köche mit | |
| den alten Menschen und ihrem lebendigen Wissen zusammenzubringen, das hat | |
| uns interessiert. Und sie bringen natürlich viel Handwerk mit und Wissen um | |
| moderne Küchentechnik. Warum sollte man das ignorieren? | |
| Rehn: Die Köche wiederum haben sich erhofft, Rezepte zu entdecken, die man | |
| heute wieder auferstehen lassen könnte. Interessant war dabei: Es gab | |
| Gerichte, die waren für die alten Menschen eher Rezepte aus der Not. Die | |
| jungen Köche sahen das ganz anders. | |
| Reuter: Ein gutes Beispiel dafür ist die „Funzelsuppe“. Das war wirklich | |
| ein armes Gericht. Eigentlich werden dafür nur geriebene Kartoffeln in | |
| Wasser und Salz gekocht. Aber heute gibt es keinen Grund, sie so wie früher | |
| zu kochen und auf Brühe zu verzichten. Gerade bei der neuen Zubereitung | |
| kamen die Senior*innen ins Schwelgen. Es bleibt ein einfaches Gericht, mit | |
| einem bekannten Geschmack – aber doch besser. Im Altersheim gibt es jeden | |
| Tag Fisch und Fleisch. Dass eine einfache Kartoffelsuppe solche Reaktionen | |
| bekommt, fand ich bemerkenswert. | |
| Wie war es, bei Ihren Besuchen mit den alten Leuten zu kochen? | |
| Rehn: Das setzte Erinnerungen frei. Die Leute kamen richtig ins Quasseln. | |
| Eine Dame erzählte sicher zehn Mal von „Hopseklößen“, immer wenn das | |
| Gespräch auf Kartoffeln kam. Das sind Kartoffelknödel, die kurz mit | |
| zerlassenem Speck in einem Topf vermengt werden. Man lässt sie darin | |
| schnell hopsen. Und dann kam der Topf auf den Tisch. Das ist uns öfter | |
| begegnet: An Gerichte, die gemeinsam aus einem Topf gegessen werden, | |
| erinnert man sich offenbar gerne. | |
| Reuter: Wenn normal gegessen wird, sitzen die Bewohner*innen oft schweigend | |
| nebeneinander. Was vielleicht auch daher kommt, dass alle ihre festen | |
| Plätze haben, und irgendwann hat man dem Menschen neben sich auch nicht | |
| mehr viel zu erzählen. Aber durch das gemeinsame Kochen hat sich das total | |
| aufgelöst. | |
| Sollte in Alters- und Pflegeheimen mehr gemeinsam gekocht werden? | |
| Reuter: Unbedingt. Die Leute haben Zeit, sie sollten basteln und singen. | |
| Viel zu selten wird angeboten, gemeinsam zu kochen und zu essen. Das ist | |
| Erinnerung, Heimat, es strukturiert den Tag. | |
| Eine letzte Frage: Was sind denn nun eigentlich „Dippehas“, „Pluckte | |
| Finken“ und „Dinette“? | |
| Rehn: „Dippehas“ ist ein Haseneintopf mit Backpflaumen. „Pluckte Finken“ | |
| sind Walfleischstücke, die in eine Bohnensuppe kamen. Und eine „Dinette“ | |
| ist die schwäbische Variante des Elsässer Flammkuchens. | |
| 5 Apr 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jörn Kabisch | |
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