# taz.de -- Unterricht in der Pandemie: Wie in der Fankurve | |
> Wolfgang Fehle arbeitet gerne als Lehrer am Gymnasium. Daran hat selbst | |
> die Pandemie nichts geändert. Wobei, anstrengender ist es schon geworden. | |
Bild: „Forza, ragazzi“: Der Lehrer bei der pandemiebedingten virtuellen Unt… | |
BAD AIBLING taz | Herr Fehle ist in seinen Schreibtischstuhl gesunken. Die | |
Beine überschlagen, mustert er den Bildschirm und brummt ein „Buongiorno a | |
tutti“ in die Webcam. Mehrere Sekunden vergehen, keine Antwort. Herr Fehle | |
atmet tief durch, richtet sich auf und versucht es noch einmal, diesmal mit | |
einem lang gezogenen „Buongiooorno“. Endlich blinkt eine Kachel im unteren | |
Bildschirmeck auf, ein zaghaftes „Buongiorno“ kommt zurück. „Danke, Dari… | |
Geht doch.“ | |
Der Schultag der Klasse 8 beginnt mit Italienisch. In 22 Rechtecken sieht | |
Herr Fehle zwei Pferde, einen Ritterhelm, einen Panda und Jedimeister Yoda. | |
Nicht ein Schüler hat die Kamera eingeschaltet. | |
Am anderen Ende hingegen sehen und hören die Achtklässler:innen live, | |
wie Lehrer Fehle laut wird. Immer wieder feuert er seine Schüler:innen | |
an, als stünde er in der Fankurve und die Klasse 8 im Endspiel um die | |
italienische Meisterschaft: „Forza, ragazzi. Vai vai, coraggio!“ Auf | |
geht’s, Leute. Los, nur Mut! Die Antwort der Klasse 8: Schweigen. | |
Wolfgang Fehle unterrichtet seit 25 Jahren am Gymnasium Bad Aibling. Seine | |
Fächer: Latein, Geschichte, Ethik, Sozialkunde und Italienisch. Die | |
Schüler:innen des 54-Jährigen lachen über seine Witze, gelegentlich | |
rutscht ihm ein „Scheiße“ vor der Klasse heraus. Herr Fehle ist ein Lehrer, | |
der die Nähe zu den Schüler:innen sucht. Und findet. Normalerweise. | |
In der ersten Stunde an diesem Mittwoch Ende März sollen Verben konjugiert | |
werden. Fehles Augen wandern die Liste der Eingeloggten am Bildschirmrand | |
entlang. „Wer hat heute noch nichts gesagt? Marie?“ Keine Reaktion. „Es i… | |
nicht schlimm, wenn du die Antwort nicht kennst. Ich will nur wissen, ob du | |
überhaupt da bist.“ Das Handsymbol neben Maries Profilfoto ploppt auf. | |
Dabei belässt er es. „Aha“, erwidert Fehle und rollt mit den Augen. | |
Nach Marie ist Lukas mit Konjugieren an der Reihe. Fehle ruft ihn durch das | |
Mikrofon auf, beim dritten Versuch platzt der Frust aus ihm heraus. Mit | |
strenger Stimme sagt er: „Lukas, zockst du etwa schon wieder?“ Hastig | |
versucht sich Lukas an der dritten Person Singular. | |
Die direkte Ansprache sei wichtig. Bei Schüler:innen und Eltern. Es | |
passiere häufiger als vor der Pandemie, dass Fehle Letztere kontaktiere. | |
Nur so könne er überhaupt erfahren, wenn jemand im Unterricht nicht mehr | |
mitkomme. | |
Seit Dezember unterrichtet Herr Fehle wieder aus dem Homeoffice, direkt | |
neben seinem Ehebett steht sein PC. So viel Arbeit für die Vor- und | |
Nachbereitung der Stunden wie gerade hatte Fehle nicht einmal in seinen | |
Anfangsjahren als Referendar. Der Lehrer spricht vom „doppelten bis | |
dreifachen Aufwand“. Dazu kommt: Bei Fragen zur digitalen Lernplattform ist | |
er der erste Ansprechpartner im Kollegium. | |
Andere Kolleg:innen hätten deutlich mehr Probleme im Homeoffice: Kameras | |
und Mikros, die nicht funktionieren wollten, fremde Programme für | |
Onlinehausaufgaben. Herr Fehle hingegen habe es sogar Spaß gemacht, sich in | |
die neuen Anwendungen einzuarbeiten. Sein Fazit zum Distanzunterricht: | |
„Geht ganz gut.“ Wer den Lehrer an der Tafel erlebt, weiß allerdings, was | |
seinen Schüler:innen zurzeit entgeht. | |
## Eine Plexiglaswand trennt Lehrer und Schüler:innen | |
Nach zwei Onlinestunden Italienisch packt Fehle seinen Rucksack und stapft | |
in Richtung Schule, die nur wenige Hundert Meter entfernt liegt. Auf dem | |
Stundenplan steht Sozialkunde im Abschlussjahrgang. Auf Online- folgt | |
Wechselunterricht: Ein paar Schüler:innen sind mit Kamera zugeschaltet, | |
der Rest sitzt mit Maske und Abstand vor ihm. Eine Plexiglaswand am | |
Lehrerpult trennt sie von ihm. | |
Während Sunny aus der Abschlussklasse über die Tuareg in Mali referiert, | |
tigert Fehle durch den Raum und zeichnet den afrikanischen Kontinent auf | |
einen Tafelflügel. Fehle ist ein High-Energy-Lehrer. Im Vergleich zur | |
vorigen Italienischstunde, als alles noch zäh lief, blüht er jetzt auf. Er | |
ergänzt Sunnys Präsentation aus dem Stegreif mit Details zum Bürgerkrieg in | |
Mali. Die Blicke der Schüler:innen sind auf ihn gerichtet, niemand | |
tuschelt. Von den vier Zugeschalteten meldet sich keine:r zu Wort. Es | |
scheint, als hätten sowohl Fehle als auch die anwesenden Schüler:innen | |
sie vergessen. | |
Plötzlich unterbricht ein lautes Piepsen Sunnys Vortrag. Das CO2-Messgerät | |
schlägt Alarm. Vier Schülerinnen springen synchron von ihren Stühlen und | |
reißen die Fenster auf. Gelassen nimmt Fehle die Unruhe in Kauf. | |
Offene Fenster und Maske sind mittlerweile Schulalltag, doch seit Monaten | |
ändern sich Regeln und Unterrichtsformen regelmäßig. „Wir Lehrer sind es | |
gewohnt, uns auf Dinge einzustellen, die nicht gut geplant sind“, sagt | |
Fehle. Allein heute unterrichtet er drei Klassen in drei verschiedenen | |
Formaten. Nach Sozialkunde im Wechselunterricht steht die Vorbereitung auf | |
das Italienisch-Abitur in Präsenz an. | |
## Manche Lehrer nehmen es mit Humor | |
Ob er Angst habe, sich in der Schule mit Covid-19 anzustecken? Fehle winkt | |
ab. Er mache sich da keinen Kopf. Und nach einer kurzen Pause: „Es ist | |
jetzt nicht so, dass ich mich gerne infizieren würde.“ | |
Im Lehrerzimmer herrscht eine eigenartige Stimmung. Der große Raum wirkt | |
leer, die wenigen Lehrer:innen unterhalten sich mit Abstand. Distanziert | |
ist die Stimmung deshalb nicht. Im Gegenteil, Witze über die | |
Aufsichtspflicht bei Schülerschnelltests sind heute besonders beliebt. Ein | |
älterer Kollege fragt, was denn zu tun wäre, wenn der Test eines im | |
Klassenzimmer getesteten Schülers positiv ausfiele. „Tja, ist dann halt | |
so.“ Gelächter. | |
Mittendrin grinst Schulleiter Michael Beer. Im Plausch mit Fehle will Beer | |
keine Prognosen abgeben, welche Regelungen aus dem Kultusministerium | |
nächste Woche in sein Mailpostfach flattern: „Ist halt Wahljahr.“ Lachend | |
verschwindet er in seinem Büro. | |
Dass nicht alle Lehrer:innen über das Risiko einer Covidinfektion in der | |
Schule lachen können, ist Fehle bewusst. Der Lehrer berichtet von Fällen, | |
in denen die Angst zur psychischen Belastung wurde. Einige Kolleg:innen | |
hätten sich krankschreiben lassen. Langsam werde es kritisch. | |
Ende März drohte der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) dem | |
Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) in einem Brandbrief: Lehrkräfte, die | |
bis Ostern nicht geimpft seien, würden ausschließlich Distanzunterricht | |
halten. Sowohl im Kollegium als auch unter Eltern tummelten sich laut Fehle | |
Kandidat:innen, die das Virus verharmlosen. | |
Der Bayer erzählt von einem Schüler, dessen Eltern es diesem überließen, ob | |
er eine Maske im Unterricht tragen wolle. Dann müsse er eben alleine und | |
mit Extraabstand in der Ecke sitzen, lautete Fehles Reaktion. „Da war die | |
Maske schnell wieder auf.“ | |
Deutlich mehr Sorge bereiten dem Lehrer die Schüler:innen, die wegen | |
gesundheitlicher Bedenken ihretwegen oder wegen eines engen | |
Familienmitglieds nur noch von zu Hause aus am Unterricht teilnähmen. | |
Im Gegensatz zu anderen Schulen passiere es am Gymnasium Bad Aibling eher | |
selten, dass die Familienkasse nicht ausreiche, um Laptop oder Tablet für | |
den Onlineunterricht zu bezahlen. Der Landkreis Rosenheim ist, verglichen | |
mit dem Rest der Bundesrepublik, überdurchschnittlich reich, vor den | |
Einfamilienhäusern in Bad Aibling parken teure Autos. Es riecht nach Gülle | |
und Geld. | |
Fehle weiß, dass die Realität in vielen Schulen anders aussieht. Trotzdem | |
gebe es an seinem Gymnasium mehrere Schüler:innen, die jetzt zurückfielen. | |
Fehle sieht das gelassen. Innerhalb der nächsten zwei Jahre könne man den | |
versäumten Stoff wieder aufholen. Fehle ist ein positiver Pädagoge, er | |
glaubt an den Lernerfolg seiner Schüler:innen. Wirklich wütend in der | |
Schule machen ihn andere Dinge. | |
## Know-how fehlt | |
Die Art, wie das bayerische Kultusministerium in der Pandemie kommuniziere, | |
lasse ihn seine positive Haltung vergessen. Er kritisiert, dass es im | |
vergangenen Sommer keine einheitlichen Konzepte für den Distanzunterricht | |
gegeben habe. Wenn Fehle seinen Worten Nachdruck verleiht, zieht er eine | |
seiner buschigen Augenbrauen hoch. | |
Es fehle an Plattformen und Know-how im Umgang mit Onlinelernprogrammen. | |
Und auch an Respekt für die Arbeit, die die Lehrer.innen leisteten. Die | |
meisten im Kollegium kämpften täglich, auch mit Nachfragen abseits des | |
Unterrichts, darum zu erfahren, was ihre Schüler:innen im Lockdown | |
bedrücke. Deshalb sei es besonders „ärgerlich“, dass aus dem | |
Kultusministerium die Botschaft vermittelt werde, Distanzunterricht sei | |
eher wertlos. | |
Diese These widerlegt die Klasse 8 trotz ihres anfänglichen Schweigens in | |
der ersten Stunde. Nach ein paar Minuten beteiligen sie sich am | |
Onlineunterricht. Fehle gelingt es, seine Begeisterung für Italienisch auch | |
im digitalen Klassenraum weiterzugeben. | |
Trotzdem hofft der Lehrer im Herbst auf einen normalen Start in das neue | |
Schuljahr. Sollte dieser Wunsch nicht in Erfüllung gehen, wäre das für ihn | |
nicht der Untergang. „Das halten wir schon alles durch, so ist es nicht.“ | |
Die Namen der Schüler und Schülerinnen wurden geändert | |
9 May 2021 | |
## AUTOREN | |
Aaron Wörz | |
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