| # taz.de -- Bremer Bürgermeister über Coronapolitik: „Ich bin ein bisschen … | |
| > Bremen reagierte auf Corona zurückhaltender als andere Bundesländer. Im | |
| > Interview erklärt Bürgermeister Andreas Bovenschulte sein Grundprinzip in | |
| > der Krise. | |
| Bild: Andreas Bovenschulte ist stolz auf die Bremer Corona-Politik | |
| taz: Herr Bovenschulte, ich hatte Sie im März interviewen wollen, da war | |
| ich wütend wegen Ihrer Coronapolitik, aber es hat nicht geklappt. Dann | |
| gingen die Infektionsraten zurück, und ich musste zugeben, dass Sie vieles | |
| richtig gut gemacht haben. Dafür bekommen Sie gerade bundesweit viel | |
| Aufmerksamkeit. Welche Entscheidungen waren falsch? | |
| Andreas Bovenschulte: Schwerwiegende Fehler sehe ich nicht, aber ich würde | |
| nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass jede Regelung in unserer | |
| Coronaverordnung der Weisheit letzter Schluss war. | |
| Dann lassen Sie uns über Schulen reden. [1][Es hat viele, mich | |
| eingeschlossen, aufgeregt,] dass die quasi die ganze Zeit geöffnet waren, | |
| lange in voller Klassenstärke. | |
| Das war keine leichte Entscheidung, die aber rückblickend richtig war. Es | |
| ging darum, das Recht auf Bildung und auf gute Entwicklungschancen der | |
| Kinder gegen den notwendigen Infektionsschutz abzuwägen. Das ist ja das | |
| Schwierige bei Zielkonflikten: Zwei Rechtsgüter oder Interessen prallen | |
| aufeinander und beide haben für sich ihre Berechtigung. | |
| Aber warum haben Sie [2][in den Grundschulen erst im April Maskenpflicht] | |
| eingeführt? In Schleswig-Holstein gab es die im November – als hier die | |
| Inzidenz am höchsten war. | |
| Auch das war eine Abwägung. Gerade für jüngere Kinder kann es eine | |
| erhebliche Beeinträchtigung sein, wenn sie im Unterricht über lange | |
| Zeiträume Maske tragen müssen. Es lässt sich mangels bundesweit | |
| vergleichbarer Daten nicht hundertprozentig belegen, aber es gibt keine | |
| Anhaltspunkte dafür, dass wir dadurch in Schulen höhere Infektionsraten als | |
| anderswo hatten. | |
| Sie haben oft zurückhaltend agiert. So gab es erst die Testpflicht in | |
| Schulen auf freiwilliger Basis ebenso wie die Maskenpflicht in Geschäften | |
| nach dem ersten Lockdown im April. Hat beides nicht funktioniert. | |
| Wir haben immer erst an die Selbstverantwortung appelliert. Das war unser | |
| Grundprinzip, und darauf bin ich auch ein bisschen stolz. Wenn wir gemerkt | |
| haben, dass etwas nicht klappt, haben wir nachgeschärft. So haben wir die | |
| Kontrollen der Hygieneregeln massiv ausgeweitet. | |
| Man könnte sagen, mit dem freiwilligen Impfen läuft es auch nicht mehr so | |
| richtig, es braucht eine Impfpflicht. | |
| Das sehe ich nicht so. In Bremen hat es bislang ziemlich gut funktioniert | |
| mit der Freiwilligkeit, das zeigt unsere hohe Impfquote. Die hat natürlich | |
| auch damit zu tun, [3][dass wir unsere Impfzentren sehr gut organisiert | |
| haben], zusammen mit Hilfsorganisationen und Wirtschaft. | |
| Na ja, die Wirtschaft hat dafür gesorgt, dass es ein überdimensioniertes | |
| Impfzentrum gibt. | |
| Das war unsere gemeinsame Entscheidung, ausgelegt auf die Impfmengen, die | |
| ursprünglich angekündigt wurden. Und wir hätten ohne die Unterstützung der | |
| lokalen Unternehmen nicht ein so gut funktionierendes Callcenter aufbauen | |
| können. | |
| Oh, ja. Eine Hotline, bei der sofort jemand rangeht und man binnen drei | |
| Minuten zurück gerufen wird. | |
| Das hat uns doch anfangs kaum jemand zugetraut, dass wir das so gut | |
| organisieren können und uns [4][über Monate an der Spitze der | |
| Impfstatistik] wiederfinden, oder? | |
| Hätten Sie das gedacht? | |
| Ehrlich gesagt: Ich war skeptisch. Bremen und Bremerhaven sind Großstädte | |
| mit sehr vielfältiger Bevölkerung, es gibt Sprachbarrieren und etliche | |
| Menschen in schwierigen Lebenslagen – und das verbunden mit der Tatsache, | |
| dass wir nicht als das reichste und in jeder Hinsicht verwaltungsstärkste | |
| Gemeinwesen gelten. Das waren keine einfachen Voraussetzungen. | |
| Aber auch in Bremen wird die Impfquote, die mit Stand vom Freitag bei 71,2 | |
| Prozent der Gesamtbevölkerung liegt – bezogen auf die Erstimpfung – nicht | |
| immer weiter steigen. Fast alle, die eine Impfung wollen, haben sie jetzt | |
| auch. | |
| Ja, aber das sind doch schon erfreulich viele. Wir haben 92,6 Prozent bei | |
| den über Sechzigjährigen und 76,2 Prozent bei den 18- bis 59-Jährigen. Bei | |
| den Zwölf- bis 18-Jährigen wird man so eine hohe Impfquote derzeit nicht | |
| erreichen können, weil es für sie keine allgemeine Impfempfehlung gibt. | |
| Was sagen Sie zur Impfpflicht? | |
| Die halte ich für kontraproduktiv. Ungeimpfte haben jetzt schon erhebliche | |
| Nachteile, und das finde ich auch richtig. Sie müssen sich möglicherweise | |
| schon bald auf eigene Kosten testen lassen, bevor sie ein Bier trinken | |
| gehen oder nach Rückkehr aus Hochinzidenzgebieten in Quarantäne. | |
| Wenn ich frage, welche Entscheidungen im letzten Jahr falsch waren, geht es | |
| mir auch darum, was Sie für die nächste Welle gelernt haben. | |
| Ich habe gelernt, dass man sich zu keinem Zeitpunkt selbstzufrieden | |
| zurücklehnen darf. Als im Herbst letzten Jahres die Zahlen stiegen, haben | |
| wir uns entschlossen, FFP2-Masken mit Hilfe der Apotheken an | |
| Senior:innen zu verteilen. Und als bundesweit noch nicht mal über | |
| flächendeckendes Testen in Schulen geredet wurde, hatten wir das schon | |
| vorbereitet. Gleiches gilt für das Impfen in den Stadtteilen. | |
| Zwischendurch sah es aus, als würde die Situation entgleisen. Im November | |
| hatte Bremen die bundesweit höchste Inzidenz mit 255. | |
| Das hat mir schlaflose Nächte bereitet. Ich habe mich damals immer wieder | |
| gefragt: Was haben wir oder sogar ich persönlich falsch gemacht? Wo haben | |
| wir nicht rechtzeitig oder nicht hart genug reagiert? Die Zahlen sind dann | |
| wieder runtergegangen. Aber ganz ehrlich: Ich kann Ihnen nicht sagen, woran | |
| es lag. | |
| Woher wollen Sie wissen, ob und welche Ihrer Maßnahmen erfolgreich waren? | |
| Welche Maßnahmen welche Wirkung hatten, wird sich nachträglich kaum mehr | |
| aufklären lassen. Aber dass wir nicht alles falsch gemacht haben können, | |
| zeigt die vom RKI erstellte Statistik über die Coronatoten pro 100.000 | |
| Einwohnerinnen und Einwohner. Kennen Sie die? | |
| Nein. | |
| Bremen hat nach Schleswig-Holstein gemeinsam mit Niedersachsen und | |
| Mecklenburg-Vorpommern den niedrigsten Wert aller Bundesländer. | |
| Ach. | |
| Ja, ich wundere mich immer darüber, dass das kaum wahrgenommen wird. | |
| Vielleicht weil es zynisch wirkt, die Covid-Toten gegeneinander | |
| aufzurechnen. Ich tue mich ja auch schwer damit, das anzusprechen, weil | |
| jeder Todesfall einer zu viel ist. | |
| Vielleicht hat das etwas mit der Nähe zu Kliniken in Großstädten zu tun? | |
| Das würde nicht erklären, warum Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen, | |
| also ländlich geprägte Flächenländer, eine ähnlich niedrige Sterberate wie | |
| Bremen haben. Außerdem müssen Sie bedenken, dass der Gesundheitszustand der | |
| Menschen in Städten wie Bremen und Bremerhaven in manchen Quartieren nicht | |
| der allerbeste ist. | |
| Können Sie der Pandemie irgendetwas Gutes abgewinnen? | |
| Nein. Das ist eine schwere Krankheit, an der viele Leute leiden oder gar | |
| sterben. Das gesellschaftliche Leben wurde zurückgefahren und die | |
| Wirtschaft war im Krisenmodus. | |
| Aber wir haben auch ausgelatschte Pfade verlassen, viel [5][mehr Zeit mit | |
| unseren Kindern verbracht] und den öffentlichen Raum ganz anders genutzt. | |
| Ich will nicht ausschließen, dass es Teile der Gesellschaft gab, die | |
| wirtschaftlich abgesichert waren und deshalb eine entschleunigte | |
| Lebensweise auch genießen konnten. Aber ich glaube nicht, dass | |
| Verkäuferinnen oder Müllwagenfahrer von sich sagen würden, sie hätten durch | |
| Corona einen Vorteil gehabt. Für die allermeisten Menschen gab es massive | |
| Einschränkungen, kein normales Vereins-, Kultur- und Freundesleben mehr. | |
| Zugegeben: Wie jede Krise hat auch die Pandemie erzwungene Fortschritte | |
| gebracht wie Homeoffice und Videokonferenzen. Oder dass wir für alle | |
| Schülerinnen und Schüler iPads angeschafft und daraus kein | |
| Zehnjahresprogramm gemacht haben. Aber das wiegt das Leid nicht auf. Darf | |
| ich Sie auch mal was fragen? | |
| Klar. | |
| Warum waren Sie im März so wütend? | |
| Ich glaube, das hatte auch mit persönlichem [6][Frust über den nicht | |
| endenden Lockdown] zu tun. Dazu kamen vor allem im Bildungsbereich | |
| Entscheidungen, die ich falsch fand wie die späte Maskenpflicht, die | |
| Weigerung, Wechselunterricht einzuführen oder die Aufhebung der | |
| Präsenzpflicht. Damit haben Sie die Entscheidung den Eltern überlassen, ob | |
| sie ihre Kinder in die Schule schicken. Mich persönlich hat das teils | |
| überfordert, ich musste das ja auch mit Kolleg:innen abstimmen, wenn ich | |
| zu Hause blieb und weniger arbeiten konnte. Außerdem sind dann viele der | |
| Kinder und Jugendlichen zu Hause geblieben, für die Sie die Schulen offen | |
| halten wollten, die aus benachteiligten Familien. Würden Sie denn sagen, | |
| die Aufhebung der Präsenzpflicht war ein Fehler? | |
| Nein, es war auch wichtig, ängstliche Eltern zu beruhigen, die ihre Kinder | |
| zu Hause behalten wollten. Das hatte zuvor in den Schulen für viel Unruhe | |
| gesorgt. Sie haben aber recht, das hat teilweise dazu geführt, dass | |
| diejenigen, die wir gerne in der Schule gehabt hätten, nicht gekommen sind. | |
| Aber das ist in der Politik so. Sie können nie so handeln, dass Sie nur | |
| positive Effekte haben. | |
| 7 Aug 2021 | |
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| ## AUTOREN | |
| Eiken Bruhn | |
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