| # taz.de -- Welttag der Suizidprävention: „So eine krasse Verzweiflung“ | |
| > Gewaltige Nachfrage: Per Mail beraten junge Menschen wie Paula und | |
| > Expert*innen wie Christine Obermüller Jugendliche mit Suizidgedanken. | |
| Bild: Paula (l.) und Christine Obermüller beraten junge Menschen mit Suizidged… | |
| taz: Frau Obermüller, wie stark ist die Nachfrage nach Ihrer Beratung | |
| gestiegen seit Corona? | |
| Christina Obermüller: Genau lässt sich das nicht sagen. Wir haben ein | |
| Ampelsystem für unsere Ratsuchenden. Grün heißt: Du kannst eine Nachricht | |
| an unsere Peer-Berater*innen schreiben. Rot heißt: Niemand kann sich | |
| anmelden, weil wir keine freien Kapazitäten haben. | |
| Und wie oft war die Ampel im letzten Jahr auf Rot? | |
| Obermüller: Fast 70 Prozent der Zeit. Die Anfragen sind also viel zu hoch | |
| für unsere ehrenamtlichen Peer-Berater*innen. Wir können aber auch nicht | |
| viel mehr ausbilden, weil wir nicht genug Hauptamtliche haben. Die | |
| Hauptamtlichen bilden ja nicht nur aus, sie sind immer im Hintergrund, | |
| lesen jede Mail der Ehrenamtlichen, bevor sie weggeschickt wird. | |
| Paula: Diese Begleitung ist als Sicherheit ganz wichtig für uns | |
| Peer-Berater*innen. | |
| Bei U25 melden sich Jugendliche und junge Erwachsene, die darüber | |
| nachdenken, sich das Leben zu nehmen. Welche Rolle spielt das in den | |
| Emails, die die Berater*innen schreiben? | |
| Obermüller: Was uns als U25 so besonders macht, ist, dass wir konkret nach | |
| Suizidgedanken und Suizidplänen fragen und das können wir nur mit dem | |
| Wissen, dass die andere Seite sich in der Anonymität frei fühlt, uns alles | |
| zu erzählen, ohne dass sie fürchten müssen, dass sie gleich in die Klinik | |
| kommt. | |
| Gibt es da nicht die Angst, die Suizidgedanken zu verstärken? | |
| Paula: Das war ein großes Thema in unserer Ausbildung und auch ich habe | |
| mich das gefragt. Aber uns wurde sehr schnell klar, dass eine Person, die | |
| sich an eine Suizidpräventionsberatungsstelle wendet, nicht dadurch | |
| gefährdeter wird, dass wir nachfragen. | |
| Obermüller: Menschen mit Suizidgedanken erleben oft nur Einsamkeit und | |
| Stigmatisierung. Sie haben das Gefühl, sie können darüber nicht sprechen | |
| und dadurch entsteht noch mehr Druck. In dem Moment, wo Sie uns sagen | |
| können, ich habe Suizidgedanken, kann der Druck erst einmal entweichen und | |
| das kann in dem Moment Leben retten. | |
| Auch für uns Medien ist das Thema Suizid heikel. Wir fürchten den | |
| sogenannten Werther-Effekt. | |
| Obermüller: Es ist natürlich etwas anderes, ob über Suizidprävention oder | |
| Suizid berichtet wird. Wir glauben daran, dass die Thematisierung die | |
| Gesellschaft öffnet und gefährdete Menschen dazu bringen kann, sich einer | |
| Online-Beratung anzuvertrauen oder auch der besten Freundin oder den Eltern | |
| oder den Schulsozialarbeiter*innen. Und das ist die beste Prävention, die | |
| wir machen können: Sprich über das, was dich bewegt, über deine Gedanken. | |
| Warum ist es bei U25 wichtig, dass junge Erwachsene beraten und nicht die | |
| erfahrenen Expert*innen? | |
| Paula: Wir haben zwar auch eine professionelle Distanz durch die Ausbildung | |
| und die Supervision. Aber es ist nicht die Distanz, die man hat, wenn man | |
| noch mal zehn Jahre älter ist und schon zehn Jahre als Sozialpädagogin oder | |
| Therapeutin arbeitet. Ich würde sagen, wir schreiben intuitiver, weil wir | |
| noch so nah dran sind an dem Alltag der Menschen, die sich bei uns melden. | |
| Geht es auch um Jugendsprache? | |
| Paula: Es ist schon gut, wenn man gewisse Referenzen versteht. Aber ich | |
| glaube, da kann man sich auch als 35-jähriger Sozialpädagoge noch ganz gut | |
| reindenken. | |
| Obermüller: Na ja, es gibt schon ab und zu mal Mails, wo ich denke: Mensch, | |
| über was unterhalten die sich jetzt? Also vielleicht ist Jugendsprache auch | |
| ein Teil. Aber vor allem gehen die Peers nicht mit diesem professionellen | |
| Blick ran und das erleichtert den Zugang für beide Seiten. Da werden Fragen | |
| gestellt, die mir als Sozialpädagogin so nicht über die Lippen gekommen | |
| wären. Aber so entstehen Beziehungen, und darum geht es. | |
| Wer meldet sich mit welchen Problemlagen? | |
| Obermüller: Die Ratsuchenden sind zwischen 12 und 25, der Hauptteil sind | |
| 17- und 18-Jährige. 75 Prozent sind weiblich. Obwohl die Suizidrate bei | |
| Männern deutlich höher ist als bei jungen Frauen, erreichen wir die noch | |
| nicht gut. Es ändert sich erst ganz langsam, dass auch Männer mehr über | |
| Krisen sprechen. Von der Problemlage ist wirklich alles dabei: Wir haben | |
| junge Menschen, die kommen mit ihrem ersten Liebeskummer zu uns oder wegen | |
| Streit mit den Eltern. Wir bekommen viel Schuldruck zu spüren – gerade | |
| jetzt, wo die Schule wieder losgegangen ist. Wir haben aber auch Fälle von | |
| häuslicher Gewalt, sexueller Gewalt, Essstörungen. Depression ist natürlich | |
| auch ein Thema. | |
| Sie kommunizieren mit den Ratsuchenden per Mail. Dabei sind doch Chats das | |
| Alltagsmedium der Jugendlichen. | |
| Paula: Mails sind langsamer und das ist gut für beide Seiten. Für mich ist | |
| es eine Entlastung, dass ich sieben Tage Zeit habe, um zu antworten. In den | |
| Mails stehen oft Sachen, die man erst einmal sacken lassen muss. | |
| Zum Beispiel? | |
| Paula: Es geht gar nicht um bestimmte Formulierungen, sondern man spürt | |
| zwischen den Zeilen so eine krasse Verzweiflung und diese tiefe Einsamkeit. | |
| Da hat man schnell den Impuls, zu sagen, es ist doch aber gar nicht alles | |
| schlecht in deinem Leben. Tatsächlich geht es aber darum, diesen Zustand | |
| erst einmal anzunehmen. | |
| Bewirkt die Pandemie eine neue Einsamkeit oder verschärft sie das, was | |
| ohnehin da ist? | |
| Obermüller: Wir spüren natürlich, dass die Jugendlichen noch mehr belastet | |
| sind, weil die Peergroup gefehlt hat und der Austausch mit | |
| Schulsozialarbeitern und so weiter. Aber ich glaube, was die ganze | |
| Corona-Sache mit den jungen Menschen gemacht hat, das wird sich erst in den | |
| nächsten Monaten und Jahren zeigen. Es gibt das Phänomen, dass die | |
| Suizidrate im Frühling ansteigt, weil den Menschen in Krisen dann bewusster | |
| wird, dass es anderen besser geht. Und ich könnte mir vorstellen, dass es | |
| mit Corona ähnlich ist. Jetzt gerade stecken wir alle gemeinsam in der | |
| Krise und wenn sich die Krise auflöst, dann wird den Menschen bewusst, dass | |
| sie alleine in ihrer Krise stecken. Und das wird vielleicht dann noch mehr | |
| Auswirkungen haben auf die Suizidalität. | |
| Kommt man bei der Beratung nicht ein bisschen ins Hadern über ein System, | |
| in dem junge Menschen so allein sind? | |
| Paula: Es ist etwas ganz Anderes als die Zahlen aus den Statistiken, wenn | |
| man ein direktes Gegenüber hat, das einem vor Augen führt, was in der | |
| Gesellschaft abgeht, was man von diesen jungen Menschen alles verlangt und | |
| wie man sie allein lässt. Ich kann mich selbst gut abgrenzen, aber es macht | |
| mich auch betroffen, dass ich zwar dieser einen Person vielleicht ein wenig | |
| helfe. Aber die Probleme, die diese Krisen auslösen, sind damit nicht weg. | |
| Da kann man schon ein bisschen Weltschmerz kriegen. | |
| Fragen manchmal Freunde, warum Sie sich das in der Freizeit zumuten? | |
| Paula: Klar kommt das vor. Aber die Beratung ist auch für mich so | |
| rewarding. Ich bin gezwungen, mir selbst ganz viele Fragen zu stellen. In | |
| den Antworten spüre ich, wie dankbar das Gegenüber ist. Das ist extrem | |
| schön und ich finde, es muss auf allen Ebenen in unserer Gesellschaft viel | |
| mehr solchen akzeptierenden Austausch geben. Es gehört dazu, dass man dann | |
| auch harte Sachen erfährt. | |
| 10 Sep 2021 | |
| ## AUTOREN | |
| Manuela Heim | |
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