# taz.de -- Datenschutz bei Suizid-Statistiken: „Problem nicht korrekt abgebi… | |
> Etwa 9.200 Suizide gab es 2021 in Deutschland. Fachleute kritisieren, | |
> dass die Zahl nicht aussagekräftig sei, und fordern veränderte | |
> Datenschutzregeln. | |
Bild: Je nach Ort und Ursache unterscheiden sich die Verfahren. Suizide werden … | |
BERLIN taz | In diesem Text sind die Kategorien X und R wichtig: Es geht um | |
Todesfälle in Deutschland; konkret um die Frage, wie Menschen gestorben | |
sind. „Das ist wichtig, um zum Beispiel entsprechende Prävention betreiben | |
zu können“, sagt Ute Lewitzka, die an der Uniklinik Dresden den | |
Forschungsbereich [1][Suizidprävention leitet]. Herzinfarkte werden in der | |
Statistik beispielsweise in der Kategorie I eingeordnet, in der Kategorie X | |
werden Suizide erfasst, unter der Kategorie R „sonstige Todesfälle“. | |
Fachärztin Ute Lewitzka erhebt einen schweren Vorwurf: „Seit Einführung der | |
Datenschutz-Grundverordnung im Jahr 2016 wissen wir nicht mehr, wie viele | |
Menschen sich in Deutschland jedes Jahr wirklich das Leben nehmen.“ Zwar | |
seien die in der Statistik erfassten Suizide – Kategorie X – seit 2016 | |
gesunken, von damals 9.838 „vorsätzlichen Selbstbeschädigungen“, wie Suiz… | |
im Amtsdeutsch heißt, auf 9.215 im Jahr 2021. Aber: „Die Statistik bildet | |
[2][das Problem der Wirklichkeit in unserem Land] aber nicht mehr korrekt | |
ab“, kritisiert Lewitzka. | |
Dazu muss man wissen, wie der Tod eines Menschen in Deutschland | |
festgestellt wird: Bei einem Todesfall zu Hause muss ein Notarzt gerufen | |
werden, im Altersheim steht in der Regel ein Arzt des Bereitschaftsdienstes | |
und im Krankenhaus ein angestellter Arzt zur Verfügung. Diese Ärzte stellen | |
die Todesursache fest und fertigen eine Todesbescheinigung aus. Handelt es | |
sich aber um einen Suizid, muss die Polizei gerufen werden: „Es könnte sich | |
schließlich um eine fingierte Selbsttötung handeln“, erklärt Lewitzka. | |
Damit wird der Tod zu einem Kriminalfall und der Leichnam beschlagnahmt. | |
## Für die Bekämpfung ist das Ausmaß relevant | |
Es kann vorkommen, dass sich die Angehörigen von dem Toten nicht mehr | |
persönlich verabschieden können. Ist der Fall abgeschlossen, entscheidet | |
die Staatsanwaltschaft, welche Todesursache vorliegt. „Und wegen der | |
Datenschutz-Grundverordnung tauchen die Toten in der Statistik dann immer | |
häufiger in der Kategorie R statt X auf“, so Lewitzkas Vorwurf. | |
Einerseits ist das aus Datenschutz-Sicht nachvollziehbar, räumt selbst die | |
Expertin ein: „Die Daten sind grundsätzlich öffentlich zugänglich. Wenn es | |
in einer Kommune im letzten halben Jahr nur einen Toten gab – | |
beispielsweise den Bäckermeister –, hat dessen Familie im Suizid-Fall noch | |
mehr Stigmatisierung auszuhalten als im R-Fall.“ Andererseits sei Suizid | |
ein gesellschaftliches Problem, das nur bekämpft werden kann, wenn man das | |
genaue Ausmaß kennt. | |
Ihren Verfälschungsvorwurf untermauert Forscherin Lewitzka mit einer Zahl, | |
einem Indiz und einer Menge fehlender Antworten: „Aus meiner Arbeit weiß | |
ich, dass im ersten Geltungsjahr der Datenschutz-Grundverordnung 29 Fälle | |
von Suizid zu R umgeschlüsselt wurden.“ Gleichzeitig hätten sich seitdem in | |
der Statistik die R-Todesfälle „mehr als verdoppelt“, so die Expertin: | |
Führte das Statistische Bundesamt im Jahr 2000 noch 16.420 Todesfälle in | |
der Kategorie „sonstige Ursachen“, so waren es 33.818 im Jahr 2021. Und es | |
ist unklar, warum: „Alle meine Versuche, bei den Statistikern Licht ins | |
Dunkel zu bringen, schlugen bisher fehl“, berichtet Lewitzka. | |
Professor Tom Bschor bestätigt dieses „Umschlüsselungsproblem“: Tatsächl… | |
sei dies eine Folge der Datenschutzverordnung von 2016. „Wie groß das | |
Problem allerdings ist, das wissen wir nicht“, so der Facharzt für | |
Psychiatrie und Psychotherapie. Aber auch Bschor fordert mehr Klarheit von | |
den Statistikern: „Um ein Problem zu lösen, müssen wir wissen, wie groß es | |
ist.“ Die Statistik der Suizide gehe bis ins 19. Jahrhundert zurück, | |
berechtigter Datenschutz dürfe sie im 21. Jahrhundert nicht unrealistisch | |
werden lassen. | |
Tatsächlich sind die Selbsttötungen in Deutschland seit Mitte der 1970er | |
Jahre zurückgegangen, damals hatten sie den Nachkriegshöhepunkt erreicht. | |
„Seitdem halbierten sich die Zahlen bis in die 2000er Jahre“, sagt Ute | |
Lewitzka, die einen wesentlichen Grund in der Reform der psychiatrischen | |
Medizin in den 1980er Jahren sieht. | |
Allerdings hat diese gute Nachricht einen Haken. „Seit 2005 stagnieren die | |
Zahlen und pendeln um jährlich 9.500“, sagt Tom Bschor, der aktuell die | |
„Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte | |
Krankenhausversorgung“ leitet. „Das entspricht etwa 30 Suiziden pro Tag, | |
dreimal mehr Tote als im Straßenverkehr.“ Und dann gibt es eben diesen | |
Vorwurf der hohen Dunkelziffer infolge der Einführung der | |
Datenschutz-Grundverordnung. Zudem sei eine Bevölkerungsschicht betroffen, | |
die Bschor in der Gesellschaft als „weitgehend vergessen“ bezeichnet. „Mit | |
großem Abstand töten sich alte Männer am häufigsten – mehr als fünfmal so | |
häufig wie gleichaltrige Frauen.“ | |
Das Statistische Bundesamt bestätigt die stark angestiegenen Zahlen in der | |
R-Kategorie, auf die sich der Vorwurf der Suizidforscherin Lewitzka | |
unter anderem stützt – und die „Umschlüsselungen von Suiziden“. Allerdi… | |
gehen die Statistiker von Einzelfällen aus. Eine Sprecherin erklärt, „dass | |
im Jahr 2021 cirva 50 Suizide bundesweit unter die Geheimhaltung gefallen | |
sind. Bei einer Anzahl von rund 9.200 ausgewiesenen Suiziden kann nicht | |
von einer Verfälschung und massiven Unterschätzung gesprochen werden.“ | |
Lewitzka sieht das Problem allerdings weiter unten bei den | |
Landesstatistikern, nicht beim Bundesamt. Und sie ist überzeugt, dass es | |
massiv wachsen wird: „Das liegt am Gesetzentwurf für ein Recht auf einen | |
selbstbestimmten Tod, derzeit im parlamentarischen Verfahren.“ Tom Bschor | |
sagt: „Erfahrungen aus anderen Ländern, Holland zum Beispiel, zeigen, dass | |
die Suizidraten mit einem solchen Gesetz stark ansteigen.“ Bleibt die | |
Frage: In welchem Teil der Statistik werden sie auftauchen? | |
25 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Suizidpraevention-in-Deutschland/!5889395 | |
[2] /Welttag-der-Suizidpraevention/!5795832 | |
## AUTOREN | |
Nick Reimer | |
## TAGS | |
Datenschutz | |
Suizid | |
Statistik | |
Todesfälle | |
Suizid | |
Suizid | |
Finanzen | |
Mediennutzung | |
Schwerpunkt Überwachung | |
Suizid | |
psychische Gesundheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Telefonseelsorge überlastet: Nur jeder zehnte Anruf kommt durch | |
Die Telefonseelsorge ist zunehmend überlastet. Gesundheitsminister | |
Lauterbach (SPD) will mit den Ländern eine Hotline für Suizidgefährdete | |
entwickeln. | |
Zu wenig Hilfsangebote: Mehr Geld für Suizidprävention | |
Jährlich sterben in Deutschland 9.000 Menschen durch Suizid. Etliche | |
Hilfsangebote sind allerdings enorm unterfinanziert. | |
Ausbildung von Psychotherapeuten: Die finanzielle Realität | |
Psychotherapie ist in – die Ausbildung der Therapeut:innen aber immer | |
noch teuer. Die Bundesregierung muss die Finanzierung schnellstens klären. | |
Expertin über Medien und Suizid: „Nachahmungseffekte verhindern“ | |
Der Verein „Freunde fürs Leben“ informiert auf sämtlichen Medienkanälen | |
über mentale Gesundheit. Warum sie das aber nicht auf Tiktok tun. | |
Anwalt über innenpolitische Verschärfungen: „Justiz stärken, nicht die Pol… | |
Stefan Conen vom Republikanischen Anwält*innenverein RAV kritisiert | |
die innenpolitischen Pläne von Schwarz-Rot als rechtsstaatlichen | |
Rückschritt. | |
Suizidprävention in Deutschland: Dringender Nachholbedarf | |
Während über Suizidhilfe heftig debattiert wird, findet der Ruf nach mehr | |
Suizidprävention kaum Gehör. Verbände fordern gesetzliche Regelungen. | |
Welttag der Suizidprävention: „So eine krasse Verzweiflung“ | |
Gewaltige Nachfrage: Per Mail beraten junge Menschen wie Paula und | |
Expert*innen wie Christine Obermüller Jugendliche mit Suizidgedanken. |