# taz.de -- Forscherin über Epigenetik: „Unser Umfeld ist entscheidend“ | |
> Ernährung, Stress, soziales Engagement: All das beeinflusst nicht nur | |
> uns, sondern im Zweifel auch unsere Kinder und Enkel, sagt Isabelle | |
> Mansuy. | |
Bild: „Eineiige Zwillinge entstehen aus derselben Eizelle. Trotzdem wachsen s… | |
taz am wochenende: Frau Mansuy, was versteht man unter Epigenetik? | |
Isabelle Mansuy: Die Epigenetik erforscht alle Mechanismen, die das Genom | |
des Menschen, der Tiere und der Pflanzen regulieren. Das Genom ist der Code | |
unserer DNA. Die Epigenome regulieren, lesen und beeinflussen unsere DNA. | |
Man kann es mit einem Buch vergleichen. Die Genome sind das Buch, und die | |
Epigenome sind seine Leser*innen, die das Buch teilweise oder vollständig | |
lesen und es unterschiedlich interpretieren. | |
Ebenfalls ein beliebtes Beispiel, um Epigenetik zu erklären, sind eineiige | |
Zwillinge. | |
Ja, denn eineiige Zwillinge entstehen aus derselben Eizelle. Da diese ein | |
bestimmtes Genom hat, haben eineiige Zwillinge exakt die gleichen Gene. | |
Trotzdem wachsen sie unterschiedlich heran. Wenn nur das Genom entscheidend | |
wäre für die Regulation des Körpers, des Charakters, der Empfindlichkeit | |
für Krankheiten, dann wären eineiige Zwillinge genau gleich. Aber das ist | |
nicht der Fall. | |
Den Unterschied machen also die epigenetischen Faktoren? | |
Genau. In der Genetik ist man lange davon ausgegangen, dass nur unsere Gene | |
bestimmen, was wir an unsere Kinder weitergeben. Dahinter steckt die | |
Annahme, dass sich unsere DNA nur über unsere Gene verändert. Mittlerweile | |
wissen wir, dass auch epigenetische Faktoren vererbbar sind, also etwa | |
Einflüsse, die Umwelt und Lebenserfahrungen auf uns haben. Aus | |
evolutionärer Sicht sind die epigenetischen Faktoren sogar stärker, da sie | |
direkt mit ihrer Umwelt reagieren. Bei genetischen Veränderungen ist erst | |
einmal eine Mutation notwendig, damit sich der Code ändert. Ist das | |
geschehen, kann er nicht mehr rückgängig gemacht werden –anders als bei | |
epigenetischen Veränderungen. | |
Trotzdem wird der Epigenetikforschung erst seit Kurzem mehr Bedeutung | |
zugemessen. Woran liegt das? | |
Lange fokussierte sich die Forschung auf das Genom. Aber auch darüber | |
wissen wir noch nicht alles. So haben nur etwa 1 bis 2 Prozent unserer | |
Genome eine codierende Funktion, die anderen 98 bis 99 Prozent haben | |
regulatorische Funktionen. Das ist so, als würden Sie ein Buch lesen, aber | |
nur 1 bis 2 Prozent der Buchstaben verstehen. Erst in den letzten 20 Jahren | |
haben wir dann angefangen, zu verstehen, dass auch Epigenome einen | |
entscheidenen Einfluss auf die DNA haben. | |
Der französische Entwicklungsbiologe Jean-Baptiste de Lamarck sprach schon | |
im 18. Jahrhundert von der „Vererbung erworbener Eigenschaften“. War er | |
seiner Zeit voraus? | |
Das war keine Voraussicht, sondern eine Beobachtung. Wie Darwin war Lamarck | |
ein Naturalist. Durch die Beobachtung von Pflanzen und Tieren wurde ihm | |
bewusst, dass sie sich an ihre Umgebung anpassen. Und dass diese | |
Veränderungen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden können. | |
Aber Lamarck war nicht der Erste – schon in der Bibel wird erwähnt, dass | |
das, was deine Eltern getan haben, dich beeinflussen wird. | |
Wo finden sich denn solche epigenetischen Prozesse in der Natur? | |
Zum Beispiel bei Bienenvölkern. Die Bienenkönigin ist die Einzige, die ihr | |
Leben lang Gelée Royale isst. Die anderen Bienen bekommen diesen | |
nährstoffreichen Futtersaft nur am Anfang ihres Lebens, danach ernähren sie | |
sich von Pollen und Honig. Mit der Zeit entwickelt die Königin ganz andere | |
körperliche Merkmale als ihr Bienenvolk. Somit ist die Ernährung | |
entscheidend für die Entwicklung der Bienen. Das liegt wahrscheinlich | |
daran, dass das Gelée Royale sehr viel nährstoffreicher ist. Dadurch werden | |
im Organismus der Bienenkönigin dann ganz andere Gene aktiviert. | |
Und was beeinflusst die Epigenome beim Menschen? | |
Eigentlich alles, womit unser Körper in Berührung kommt. Und das sowohl von | |
innen als auch von außen. Ernährung, Rauchen, Alkohol, Stress, Sport, Wut, | |
soziales Engagement – alles, was unser eigenes Ich verändert. | |
Dann hat Epigenetik also auch einen sozialen Aspekt? | |
Ja. Da unser Umfeld unsere Epigenome beeinflusst, ist dieses Umfeld | |
entscheidend. Anders als in der Genetik, bei der es vor allem um ethische | |
Fragen geht, wird unsere Gesundheit in der Epigenetik zu einem | |
gesamtgesellschaftlichen Thema. Eine Erkenntnis der Epigenetik ist | |
beispielsweise, dass sich unsere Epigenome in unserer Kindheit und Jugend | |
stärker verändern. Das heißt, wir sollten uns mehr mit der mentalen | |
Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auseinandersetzen, mit deren | |
Ernährung, Lebensbedingungen und Beziehungen zu ihren Eltern. | |
Wieso verändern sich unsere Epigenome in unserer Kindheit und Jugend | |
stärker? | |
Biologisch lässt sich das damit erklären, dass ein Organismus, der gerade | |
noch dabei ist, sich weiterzuentwickeln, auch automatisch stärker | |
modifizierbar ist. Wer wir als Erwachsene sind, hat viel damit zu tun, was | |
für eine Kindheit wir hatten. Bestimmte Zellen sind in der Kindheit noch | |
nicht vollständig geformt. Aber das heißt nicht, dass sich unsere Epigenome | |
im Laufe unseres Lebens nicht noch ändern lassen. | |
Wie wir als Kinder und Jugendliche leben, beeinflusst also automatisch | |
unsere Nachkommen? | |
Das ist wissenschaftlich schwer zu belegen. Aber es ist wahrscheinlich, | |
dass Menschen, die beispielsweise ein schweres Kindheitstrauma erlebt | |
haben, bestimmte Symptome an ihre Nachkommen weitergeben. Bei Mäusen | |
konnten wir nachweisen, dass die Symptome von Kindheitstraumata bis in die | |
fünfte Generation weitervererbt wurden. Und auch bei Menschen gibt es | |
ähnliche Studien. Hat jemand eine extreme Hungersnot oder Gewalt erlebt, | |
leiden dessen Nachkommen vermehrt unter Übergewicht, Krebs und | |
Depressionen. Trotzdem können wir nicht hundertprozentig sagen, dass es | |
genau die epigenetischen Prozesse sind, die dafür verantwortlich sind. | |
Außerdem können die Effekte des Traumas wahrscheinlich auch korrigiert | |
werden. Sonst würden wir ja alle wegen der beiden Weltkriege unter | |
Depressionen leiden. | |
In der Psychologie gibt es den Begriff der „Transgenerationalen Traumata“. | |
Spielen epigenetische Erkenntnisse bei der Behandlung von psychischen | |
Erkrankungen eine Rolle? | |
Ich glaube, die Psychotherapie bezieht die Epigenetik ein, ohne es zu | |
wissen. Sie arbeitet ja genau daran, dass das Umfeld, Selbstwertgefühl und | |
die Selbstreflexion ihrer Patient*innen verbessert werden. Und diese | |
Prozesse haben dann auch einen direkten positiven Einfluss auf die | |
Epigenome im Körper. | |
Kann man denn sagen, welche Epigenome weitervererbt werden und welche | |
nicht? | |
Wir wissen nicht, welche Markierungen genau sich verändern und welche | |
übertragen werden. Bis wir zu unseren jetzigen Erkenntnissen gekommen sind, | |
hat es 20 Jahre gedauert. Es gibt noch viel zu erforschen. | |
25 Jan 2021 | |
## AUTOREN | |
Sabina Zollner | |
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