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# taz.de -- Psychische Gesundheit und Klasse: Die Depressionen der Anderen
> Auch reiche Menschen werden psychisch krank. Das Leiden der Seele
> verbindet über Klassengrenzen hinweg. Erst im Umgang offenbaren sich
> Privilegien.
Bild: Depression als gemeinsamer Bezugspunkt?
Es liegt auch an Literatur, dass wir wieder mehr über Klasse sprechen.
Genauer gesagt an Literatur von Proletenkindern, zunächst aus Frankreich:
Ernaux, [1][Eribon], Louis. Und dann auch aus Deutschland: zuletzt
„Streulicht“ von Deniz Ohde.
Wer sich in dieser Literatur wiedererkennt, bekommt Begriffe und Bilder,
mit denen er sich selbst verstehen, sich im gesellschaftlichen Ringen um
Geld und Macht verorten oder sich eben gegen diese Art des Ringens
positionieren kann. Mir hat diese Literatur geholfen. Auch wegen ihr
schreibe ich diese Kolumne.
Gerade aber lese ich Bücher mit postmateriellem Blick auf die Welt, die
dennoch ähnlich und doch ein bisschen anders wirken. Es geht um Menschen,
die sich nie Gedanken machen mussten, ob das Geld reicht; deren Leben nicht
schon immer von der Frage strukturiert ist, wie sie sich finanziell
absichern können; die beim Stichwort Altersvorsorge nicht resigniert
abwinken; in deren Leben es so Dinge gibt wie: Eigentum, Erbe,
Einfamilienhaus.
In [2][Ottessa Moshfeghs] Roman „Mein Jahr der Ruhe und Entspannung“, der
für mich einer ethnologischen Studie gleicht, leidet so eine junge Frau,
die eigentlich alles hat: Wohnung in Manhattan, Kunstgeschichte-Abschluss
von der Eliteuni, Job in einer Galerie, wobei Lohnarbeit für sie eher so
etwas ist wie ein Hobby, dem man nachgehen kann, wenn man Lust darauf hat,
aber nicht unbedingt muss. Denn ihre wohlhabenden, toten Eltern haben ihr
eine Immobilie und viel Geld hinterlassen, so viel, dass sie Klamotten in
einem Luxuskaufhaus bestellt, an deren Erwerb sie sich nicht mehr erinnert,
wenn die Pakete ankommen.
## Gemeinsam krank, verschieden gesund
Auch wenn man als Leser ganz woanders herkommt, fühlt man mit ihr, wenn sie
ihre depressive Lebensunlust und ihren unbenennbaren Mangel mit jenen
Käufen und vor allem mit exzessivem Medikamentenmischkonsum zu umgehen
versucht. Ein Moment, in dem man das Sowiesoklare nochmal auf eine andere
Weise verinnerlicht: Reiche haben Depressionen, auch wenn ich Depressionen
eher von Menschen kenne, die krank geworden sind, weil sie um das
Notwendigste kämpften.
Die banale Erkenntnis erleichtert, weil die Verhältnisse offenbar auch die
anderen, die Wohlhabenden krank machen. Man kommt sich so näher. Depression
als gemeinsamer Bezugspunkt? Ausgangspunkt gemeinsamer Revolution?
Die fremde Lebenswelt entsetzt aber auch, denn sie offenbart die
unversöhnliche Differenz: Während die einen es sich leisten können,
zugunsten ihrer psychischen Gesundheit zeitweise auszusteigen und zu
versuchen, ungute Gefühle tagelang wegzuschlafen, wie die Frau in Moshfeghs
Roman, müssen andere auch depressiv funktionieren; die Depression kann auf
der einen Seite Existenzen zerstören, auf der anderen Seite ist zumindest
in materieller Hinsicht ein Neuanfang möglich. Und wenn es einem hier dann
wirklich besser geht, kann man auch das Hobby Lohnarbeit wieder aufnehmen.
9 Apr 2021
## LINKS
[1] /Soziologe-Didier-Eribon-in-Berlin/!5362643
[2] /Neuer-Roman-von-Ottessa-Moshfegh/!5743240
## AUTOREN
Volkan Ağar
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