| # taz.de -- Depressionen und Antidepressiva: Pillen statt eines Gesprächs | |
| > In Deutschland steigt die Medikamentierung mit Antidepressiva | |
| > kontinuierlich an. Oft werden andere Behandlungsmethoden gar nicht erst | |
| > ausprobiert. | |
| Bild: In Deutschland werden immer mehr Antidepressiva verschrieben | |
| Es ist viele Jahre her. Ich stand vor dem Gebäude der psychiatrischen | |
| Notfallambulanz. Ich hatte drei Tage lang nicht geschlafen, nicht gegessen. | |
| Ich hatte eine traumatische, belastende Situation in meiner Beziehung | |
| erlebt, hatte [1][das Gefühl, dass der Schmerz mich auffraß]. Ich wollte | |
| mit jemandem sprechen, einer Person, die sich mit emotionalen | |
| Ausnahmezuständen auskannte. Was ich genau wollte, wusste ich | |
| wahrscheinlich gar nicht. Aber ich brauchte Hilfe. Also ging ich rein. | |
| Der Psychiater hörte mir zu und nickte ab und zu. Dann sagte er: „Sie | |
| können doch an jedem Finger Ihrer Hand einen anderen Mann haben. Das wird | |
| schon.“ Dann nahm er ein Rezept zur Hand: „Ich verschreibe Ihnen ein | |
| Antidepressivum. Das heißt Mirtazapin. Das macht müde. Nehmen Sie es | |
| abends, dann können Sie schlafen.“ Er stand auf und öffnete die Tür. | |
| Was ich erlebte, ist nicht alltäglich. Aber es ist auch keine Ausnahme. In | |
| Deutschland werden heute siebenmal so viele Antidepressiva verschrieben wie | |
| vor 25 Jahren. Um es vorneweg zu sagen: Es ist wichtig, es ist | |
| lebensrettend, dass es Antidepressiva gibt. | |
| Sie helfen Millionen von Menschen auf der Welt, [2][die unter einer | |
| Depression,] einer lähmenden, schweren Erkrankung leiden. Aber: | |
| Antidepressiva werden auch Menschen verschrieben, die keine oder nur | |
| leichte Depressionen haben, die unter anderen psychischen oder gar keinen | |
| Erkrankungen leiden. | |
| ## Nebenwirkungen und Studien | |
| [3][Eine kanadische Studie] aus dem Jahr 2016 zeigte, dass nur 50 Prozent | |
| der Patient*innen, denen Antidepressiva verschrieben wurden, [4][eine | |
| Depression hatten.] Die anderen 50 Prozent hatten Leiden wie | |
| Schlaflosigkeit oder Bulimie. Auch ist Depression nicht gleich Depression: | |
| Antidepressiva wirken nachweislich bei schweren Depressionen; bei leichten | |
| und mittelschweren Depressionen konnte man bisher nicht nachweisen, dass | |
| sie [5][besser wirken als andere Therapiemethoden] wie eine Psychotherapie. | |
| Ein Teil der immensen Steigerung an Antidepressiva-Gaben liegt sicherlich | |
| auch an der größeren Sensibilität für Depressionen. Expert*innen warnen | |
| aber vor der „starken Dominanz der Medikamente“. [6][Nur bei 16 bis 25 | |
| Prozent der gesetzlich Versicherten] in Deutschland, die die Diagnose | |
| Depression erhalten, kommen auch psychotherapeutische Methoden zum Einsatz. | |
| Und das, obwohl Antidepressiva schwere Nebenwirkungen haben können; sie | |
| wirken immerhin im Gehirn und greifen in das empfindliche System neuronaler | |
| Transmitter ein. | |
| Zu vielen Menschen werden diese Medikamente verschrieben und Nebenwirkungen | |
| in Kauf genommen, anstatt dass mit ihnen gesprochen wird. Dazu bräuchte es | |
| aber eine bessere Versorgung mit Psychotherapieplätzen. | |
| Ich nahm das Antidepressivum nicht, das mir der Arzt verschrieb. Wer weiß, | |
| wie lange ich etwas eingenommen hätte, das nicht in meinen Körper gehörte. | |
| Traurigkeit und Schmerz gehören zum Leben dazu. Man muss sie nicht mit | |
| Medikamenten betäuben. Es gibt andere Wege. | |
| 17 May 2021 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Depression/!t5012168 | |
| [2] /Ketamin-gegen-Depression/!5760481 | |
| [3] https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2524175 | |
| [4] https://time.com/4345517/antidepressants-depression-insomnia-depression-mig… | |
| [5] https://www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/sind-antidepressiva-wirklich… | |
| [6] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/98188/Experten-beklagen-hohe-Zahl-ve… | |
| ## AUTOREN | |
| Gilda Sahebi | |
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