# taz.de -- Psychotherapeutische Behandlung: Die Suche nach dem kleineren Übel | |
> Einer medikamentösen Behandlung zusätzlich zu ihrer Therapie stehen viele | |
> skeptisch gegenüber. Auch unsere Autorin hat gemischte Gefühle. | |
Bild: „Sometimes I wonder if I should be medicated“ | |
Sometimes I wonder if I should be medicated. If I would feel better just | |
slightly sedated“, beginnt Florence Welch von der Band Florence + The | |
Machine ihren Song „Free“. Im dazugehörigen Videoclip rennt und tanzt die | |
Sängerin durch ihr Leben; immer an ihrer Seite die Angst, gespielt vom | |
großartigen Bill Nighy. Welchs Zeilen offenbaren einen Zwiespalt, in dem | |
sich Menschen meist irgendwann befinden, wenn sie anhaltende psychische | |
Schwierigkeiten haben: Medikamente nehmen, ja oder nein? | |
Eine Bekannte erzählte mir, dass ihr kürzlich von ihrem Arzt die Einnahme | |
eines Antidepressivums empfohlen wurde. Sie hatte länger schon mit | |
Angstattacken und depressiven Episoden zu kämpfen und befand sich deshalb | |
in psychotherapeutischer Behandlung. [1][Einer medikamentösen Behandlung | |
ihrer Leiden] stand sie aber skeptisch gegenüber. Sie fürchtete eine | |
Gewichtszunahme, Schläfrigkeit, sowie sexuelle Störungen. Ebenso gaben ihr | |
potenzielle körperliche Effekte wie Übelkeit und Herzrasen zu denken. | |
Heute verstehe ich die Bedenken. Als ich selbst vor gut zehn Jahren begann, | |
Antidepressiva in Form eines selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmers | |
(SSRI) zu nehmen, machte ich mir all diese Gedanken nicht. Einzig, dass ich | |
nun ein Medikament für die Psyche und nicht für den Körper (dass | |
Antidepressiva ja körperlich wirken, indem sie Prozesse im Gehirn anstoßen, | |
so weit dachte ich nicht) nehmen sollte, wirkte anfangs befremdlich. Mit | |
meinem [2][Medikament bin ich jahrelang gut gefahren]. Nebenwirkungen | |
spürte ich kaum, und auch wenn meine depressiven Phasen sich nicht | |
vollkommen auflösten, schienen sie erträglicher. | |
SSRIs zählen zu den am häufigsten verordneten Psychopharmaka, gerade wegen | |
ihrer guten Verträglichkeit. Unklar ist aber, wie sinnvoll eine | |
Langzeitbehandlung ist, denn es gibt keine Garantie dafür, dass die Wirkung | |
wirklich über mehrere Jahre bestehen bleibt. Bis man richtig eingestellt | |
ist, kann einige Zeit vergehen. Mit mindestens zwei bis drei Wochen muss | |
man rechnen, in manchen Fällen dauert es noch länger. Wirkt das Medikament | |
bei einem dann weiter nicht wie erhofft oder kommen Nebenwirkungen hinzu, | |
fängt die Suche nach dem richtigen Präparat wieder von vorne an. | |
Als ich nach Jahren mein Medikament ausschleichen ließ, hatte ich starke | |
Absetzungssymptome. Nachdem diese besser wurden, ich kurzzeitig nichts mehr | |
nahm, [3][zog Covid-19 in unser aller Alltag ein]. Meine Angstzustände und | |
depressiven Schübe wurden mit einem Mal wieder so stark, dass ich erneut | |
Tabletten verschrieben bekam. Wieder die gleichen, nur leider wirkten sie | |
nicht mehr richtig. Seitdem befinde ich mich auf einer Odyssee durch die | |
Welt der Arzneimittel: Übelkeit, Verdauungsbeschwerden, Libidoverlust, | |
Herzrasen – irgendeine Nebenwirkung bekomme ich immer. Die Frage ist, was | |
ist das kleinere Übel? | |
15 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sophia Zessnik | |
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