| # taz.de -- Belastungen in der Coronapandemie: Melodramatischer Clown | |
| > Verschleppte Erkältungen kennt man. Aber was ist eigentlich mit | |
| > verschleppten Gefühlen? Mit denen hat unsere Autorin seit der Pandemie zu | |
| > kämpfen. | |
| Bild: Mit Spaziergängen und Spaghettieis versuchte sich unsere Autorin währen… | |
| Wir alle kennen verschleppte Erkältungen oder Krankheiten, aber seit Kurzem | |
| bemerke ich das auch bei Gefühlen. Hört sich vielleicht merkwürdig an, aber | |
| ich habe Gefühle verschleppt, und jetzt holen sie mich mit voller Wucht | |
| ein. Wut, Trauer, Verliebtheit, aber auch Neid und Ohnmacht mischen sich | |
| unter. | |
| Die letzten zweieinhalb Jahre waren für die meisten von uns eine | |
| [1][merkwürdige Phase]. Ich bin seit der [2][Pandemie viel mehr alleine], | |
| gehe seltener unter Menschen und arbeite viel im Homeoffice. Früher war ich | |
| ständig unterwegs, heute strengen mich soziale Situationen an. Ich habe | |
| aber auch aufgehört zu trinken, vielleicht hängt es damit zusammen. Alkohol | |
| wirkt manchmal wie eine Powerbank für den sozialen Akku und macht | |
| Gespräche und Abende leichter und die Morgen danach schwerer. | |
| Ich habe in den letzten fünf Monaten viel erlebt, aber keinen Platz gehabt | |
| oder gemacht, um es zu verarbeiten. Es fehlte mir die Zeit, sag ich mir. | |
| Aber irgendwie glaube ich es mir nicht so richtig. Ich hab mich verliebt, | |
| ich hab mich geärgert, ich hab mich übergangen, überarbeitet und übersehen | |
| gefühlt. Ich war stolz, glücklich und dann wieder traurig. Ich war krank | |
| und gesund und habe mich über meinen Körper geärgert, der nicht so | |
| funktionieren will, wie ich möchte. Dann hatte ich wieder das Gefühl, | |
| undankbar zu sein. Es passiert mir doch so viel Gutes in meinem Leben, wie | |
| kann ich es wagen, traurig sein? | |
| Zur Ablenkung habe ich mehr gearbeitet, mehr Projekte angenommen. Ich bin | |
| [3][spazieren gegangen]. Alle sagen, man soll spazieren gehen. Ich habe es | |
| gemacht, obwohl ich es wirklich hasse. Ich habe mir dann einfach | |
| Spaghettieis gekauft. Bei jedem Spaziergang. Dann habe ich traurige Musik | |
| gehört, auf einer Bank gesessen, Spaghettieis gegessen und geweint. Ich | |
| musste fast lachen, weil ich mir vorkam wie ein weinender, trauriger und | |
| ziemlich melodramatischer Clown. Wer weint schon, wenn er Spaghettieis hat? | |
| ## Auseinandersetzung statt Ablenkung | |
| Spaziergänge haben also auch nicht geholfen. Ob ich sechs Schritte oder | |
| sechs Kilometer laufe, hat an meinem Gemüt nicht viel geändert. Vielleicht | |
| erwarte ich aber auch zu viel. Ich flüchte mich in die Arbeit und | |
| halbherzige Spaziergänge, weil ich Angst habe, das Erlebte zu verarbeiten. | |
| Am liebsten würde ich die Vorspultaste drücken und alles in 1,5-facher | |
| Geschwindigkeit fühlen und verarbeiten. So, wie ich es bei allen | |
| Sprachnachrichten mache, die länger als zweieinhalb Minuten dauern. Aber | |
| das geht leider nicht. | |
| Mein Therapeut sagt dazu: Nehmen Sie sich die Zeit und den Platz, alles in | |
| Echtzeit zu verarbeiten. Wovor haben Sie Angst? Was soll schon passieren? – | |
| Ich kann es nicht genau sagen. Ich glaube, ich hab Angst, dass alles | |
| passiert, ich alles gleichzeitig fühle und zusammenbreche, oder, noch | |
| schlimmer, gar nichts passiert, weil ich nichts mehr fühle. Viel länger | |
| darf ich das alles aber nicht verschleppen. Das ist weder bei Erkältungen | |
| noch bei Gefühlen gut. | |
| 23 May 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Die-Psyche-in-der-Pandemie/!5747207 | |
| [2] /Psychische-Belastung-in-der-Corona-Krise/!5692717 | |
| [3] /Eine-philosophische-Annaeherung/!5737027 | |
| ## AUTOREN | |
| Anna Dushime | |
| ## TAGS | |
| Kolumne Bei aller Liebe | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Stress | |
| psychische Gesundheit | |
| Kolumne Bei aller Liebe | |
| Gefühle | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| Schule und Corona | |
| Kolumne Poetical Correctness | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Letzte Kolumne „Bei aller Liebe“: Das Ende einer Reise | |
| Ob Ungerechtigkeiten, den Genozid an den Tuts oder TK-Pizzen, in dieser | |
| Kolumne ging es immer mehr als nur ums Daten. Nun ist Zeit für eine | |
| Auszeit. | |
| Verloren gegangene Gefühle: Sie kommen wieder | |
| Ständig lernen wir Neues und vergessen dafür Altbekanntes. Doch manchmal | |
| kehren auch längst verdrängte Gefühle und Fähigkeiten zurück. | |
| Bekämpfung der Coronapandemie: Zeit für „Fuck you, Omikron“-Shirts | |
| Wir können nach zwei Jahren Pandemie endlich durchatmen? Nicht, wenn wir an | |
| Long Covid denken. | |
| Jugendliche in der Coronapandemie: Wenn alles ineinander verschwimmt | |
| Wie frustrierend ist es, als Jugendliche*r übersehen und nicht gehört zu | |
| werden? Über die dramatische Verschlechterung der psychischen Gesundheit. | |
| Sehnsucht und Corona: Fühlt ihr noch was? | |
| Die Pandemie ist längst berechenbar geworden, aber die Regierung tut weiter | |
| so, als würde sie ständig ganz arg überrascht. Und wir so? |