# taz.de -- Sehnsucht und Corona: Fühlt ihr noch was? | |
> Die Pandemie ist längst berechenbar geworden, aber die Regierung tut | |
> weiter so, als würde sie ständig ganz arg überrascht. Und wir so? | |
Bild: Vielleicht sind wir einfach zu müde für Gefühle? | |
Scheiß Corona“, sagt sie. Wir gehen zusammen spazieren. Sie ist eine gute | |
Freundin, und zusammen spazieren heißt, dass wir nachts um 17.30 Uhr um | |
ein, zwei, drei Blocks in unserem jeweiligen Stadtviertel gehen und dabei | |
telefonieren. „Frische Luft tut gut“, sage ich. „Hm. Fühlst du das | |
wirklich? Fühlst du noch was?“, fragt sie. | |
Ich denke, dass das eine gute Frage ist. Das mit der frischen Luft sage ich | |
eher so dahin, wie ein Sprichwort, weil es leichter ist, Sprichwörter zu | |
zitieren, wenn man selbst keine klugen Gedanken mehr hat. Währenddessen | |
ziehe ich in Vierecken durch den Abend wie eine Brettspielfigur. Eigentlich | |
habe ich längst den Überblick verloren. Über das Datum: 2020, 2021 oder | |
2022? Was ist der Unterschied zwischen Dienstag und Mittwoch? Über die | |
Zahlen: Welle vier(einhalb), Inzidenz irgendwo 2000+, Todesfälle über | |
100.000, Impfquote zu wenig. Über die Wut: Was ist der schlimmste Satz von | |
Jens Spahn? Alles ist durcheinander und trotzdem immer gleich. „Vielleicht | |
sind wir zu erschöpft für Gefühle“, sage ich. | |
Für Gefühle gibt es ohnehin nicht genug Therapieplätze. Ich stelle mir | |
Deutschland als einen Ort vor, an dem Millionen Menschen gegen Wände | |
schreien, gegen Spiegel, gegeneinander. Mit einer Hand klatschen sie sich | |
ab und zu ins Gesicht, um zu überprüfen, ob sie noch da sind. Mit der | |
anderen Hand gehen sie ihren Bürger:innenpflichten nach: arbeiten, | |
Steuererklärung, einkaufen, wählen, Bad putzen, Baby füttern, Mutter | |
anrufen, Vater pflegen, sich vierteilen – der Tag hat nur 24 Stunden – und | |
sich danach wieder zusammenreißen. | |
„Scheiß Corona“, seufze ich in mein Kopfhörermikro, obwohl ich weiß, dass | |
ich was anderes meine. Die Pandemie ist längst zu großen Teilen berechenbar | |
geworden, aber die Regierung tut weiter so, als würde sie ständig böse | |
überrascht. Als bliebe nur die Eigenverantwortung, jede:r für sich; ganz | |
steinzeitlich oder neoliberal überleben die Starken, die Reichen, die mit | |
den Connections. Sie kaufen noch eine Wohnung, sie kaufen den Stress weg | |
(ich kaufe mir am Späti noch eine Limo), vielleicht kaufen sie bald | |
Grundstücke auf dem Mond, wenn hier alles unter Wasser steht. Das alles | |
liegt nicht an Corona, sondern daran, dass wir von vornherein kein wirklich | |
solidarisches Gesellschaftsmodell hatten. | |
## Was sich lohnt | |
Ich stelle mir uns auch als Menschen vor, die längst wissen, dass es so | |
nicht weitergeht. Aber auch als welche, die selbst im Angesicht der größten | |
Krisen nicht radikal sein, ja, nicht mal so wirken wollen. Wir machen ja | |
was: kein Plastik, weniger Auto, die Geburtstagsparty absagen, den | |
Pflegestreik unterstützen, gebraucht kaufen. Bloß reicht das nicht, ohne | |
Politik, die zeigt, dass Veränderung im Kleinen sich lohnt, weil das Große | |
mitzieht, oder sogar vorgeht. | |
„Stell dir vor, man müsste nicht um ein gutes Leben kämpfen, sondern würde | |
eins bekommen, damit man für was anderes kämpfen kann“, sagt sie. Und ich | |
denke, ich sollte jetzt was fühlen, Sehnsucht vielleicht. | |
26 Nov 2021 | |
## AUTOREN | |
Lin Hierse | |
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