Introduction
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# taz.de -- Psychische Folgen von Corona: Generation kontaktlos
> Kinder und Jugendliche leiden besonders in der Pandemie. Schüler:innen,
> Therapeut:innen, Sozialarbeiter:innen und andere Betroffene
> erzählen.
##
## „Jetzt habe ich Angst, meine Jugend zu verpassen“
Eine 15-jährige Gymnasiastin aus Hamburg:
Ich lebe in einem Vorort von Hamburg und gehe in die neunte Klasse. Der
Corona-Lockdown hat mich stark belastet. Seit über einem Jahr habe ich
Depressionen, leide manchmal an Panikattacken und habe eine leichte
Anorexie entwickelt. Im letzten Herbst habe ich mit Therapien begonnen,
damit habe ich die Magersucht in den Griff bekommen. Aber schlecht ging es
mir schon früher. Im Januar 2020 ist meine Großtante gestorben und dann hat
jemand aus der Schule Selbstmord begangen.
Als Corona losging, bin ich erst mal zusammen mit meinem Bruder bei
Freunden auf dem Land gewesen. Ich bin sehr introvertiert und fand es
schwierig, dort richtig Anschluss zu finden. Ich habe mich eher
zurückgezogen und isoliert. Wieder zu Hause bin ich nicht mehr aus dieser
Zurückgezogenheit rausgekommen. Außerdem fing ich an, zwei Stimmen zu
hören. Sie klangen wie meine Gedanken, nur dass sie mit mir geredet haben.
Die eine immer gegen mich. Sie meinte, ich sei nichts wert und solle besser
sterben. Die andere setzte sich für mich ein, versuchte dagegenzuhalten.
Weil Lockdown war, hatte ich nicht mehr so viel Kontakt zu meinen
Freundinnen. Davor habe ich sie jeden Tag in der Schule gesehen und hätte
einfach mit ihnen reden können. Irgendwann konnte ich kaum mehr
einschlafen, weil es so schlimm war, und ich habe meiner Mutter eine E-Mail
geschrieben, dass ich gerne eine Therapie machen würde. Meine Eltern sind
geschieden, in der Woche war ich gerade bei meinem Vater. Zuvor hatte es
einen Moment gegeben, da hätte ich mich beinahe umgebracht: Auf meinem
Nachhauseweg komme ich an der U-Bahn vorbei. An einem Punkt ist man auf
einer Höhe mit den Schienen.
Meine Mutter ist dann online auf die Beratungsstelle für Frauen und Mädchen
ISIS in Poppenbüttel gestoßen, wo ich dann sehr schnell Hilfe bekommen
habe. Die Therapeutin fragte mich, warum ich hier bin, und ich habe erst
mal angefangen zu weinen. Danach habe ich erzählt. Die Therapeutin war
super nett, aber meinte, die Beratung alleine reiche nicht. So geriet ich
an einen Therapieplatz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als im Winter
die „gute“ Stimme immer leiser geworden ist, bin ich auch für drei Tage
dort geblieben. Später hätte ich einen festen Klinikplatz für einige Monate
bekommen. Das habe ich aber abgelehnt, was ich jetzt bereue.
Medikamente bekomme ich keine. Seit März mache ich eine Gruppentherapie.
Alle sind ungefähr in meinem Alter und mit unterschiedlichen Problemen,
aber alle leiden unter Schuldruck. Im Lockdown fing ich an, mir Vorwürfe zu
machen, wenn ich mich mit etwas anderem als Schule beschäftigt habe. Obwohl
die Hausaufgaben längst fertig waren.
Ein Teil von mir würde sich gerne weiter isolieren, gleichzeitig wünsche
ich mir, dass alles bald wird wie vor Corona. Ich meine, ich war nicht mal
14, als alles angefangen hat. Jetzt habe ich Angst, meine Jugend zu
verpassen.
Protokoll: Ruth Fuentes
## „Ängste müssen bearbeitet werden“
Bettina Schötz, Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin
Berlin:
Tatsächlich beobachte ich, dass sich Angstsymptomatiken bei Kindern in der
Pandemie stärker zeigen. Nicht so sehr die Angst, sich mit dem Coronavirus
zu infizieren, wobei das vereinzelt auch vorkommt. Viel dominanter ist,
dass sich bereits vorhandene Ängste, seien es Sozialphobien, Engeängste,
also etwa Klaustrophobie, oder Redeängste verstärkt haben. Beispielsweise
könnte ein Kind, das vorher Angst hatte, mit der U-Bahn zu fahren, diese
Angst nun mit Corona begründen. Die ursächlichen ängstlichen Vorstellungen
sind dann wie zugedeckt durch die realen Gefahren der Pandemie und werden
nicht mehr bearbeitet.
Hinzu kommt, dass die selbst durch die Pandemie hochbelasteten Eltern
mitunter nicht adäquat auf die Ängste der Kinder eingehen können. Und da
Corona für Ältere lebensbedrohlicher ist, haben die Eltern womöglich reale
Ängste, zu Schaden zu kommen und nicht mehr für die Kinder da sein zu
können. Eventuell bekommen sie in dieser Situation dann gar nicht mit, wie
belastet ihre Kinder sind. Oder sie haben wenig Verständnis, wenn die
Kinder jammern, weil sie etwa zur Schule fahren müssen.
Und was Schule angeht? Mal war Schule, mal nicht. Mal war
Online-Unterricht, dann wieder Präsenz. Dann gab es
Quarantäneunterbrechungen. Und es kam vor, dass Kinder zur Schule fuhren,
aber die Lehrer fehlten und den Kindern wurde nicht gesagt, was die hatten.
Man kann sagen: Die Koordinaten, die das Leben der Kinder strukturieren,
waren in der Pandemie nicht mehr verlässlich. In den Familien sollte das
aufgefangen werden.
Da, wo Eltern eine Ersatzstruktur gewährleisten konnten, ging es halbwegs
gut. Mitunter hat es auch die Bindungen zwischen Eltern und Kindern
verbessert. Und Kindern mit sozialen Ängsten mag es gefallen haben, dass
sie zu Hause bleiben konnten. Aber die sozialen Entwicklungen wurden in der
Pandemie total unterbrochen. Vor allem bei Kindern mit Angststörungen, wo
es wichtig ist, dass sie sich den Ängsten aussetzen.
Zur Belastung durch die Pandemie kamen in vielen Fällen berufliche
Existenzängste der Eltern hinzu. Wenn Kinder mit Angststörungen aber
zusätzlich deren Ängste mitbekommen, dann ist Entwicklung kaum mehr
möglich. Kommen Alkohol oder Drogen mit ins Spiel, wird es noch
schwieriger. Kindesmissbrauch hat in der Pandemie zugenommen,
Alkoholmissbrauch auch.
Wenn Kinder in so einer Situation einen Therapieplatz gefunden haben, hat
das zu Entlastung geführt. Die Kassenärztliche Vereinigung in Hessen hat
auf den riesigen Bedarf reagiert und Kindertherapeut:innen ohne
Kassenzulassung für zwei Jahre eine Notfallzulassung gegeben, damit mehr
[1][Kinder behandelt werden können]. Dieses Modell müsste bundesweit
übernommen werden. Ängste bei Kindern müssen therapeutisch bearbeitet
werden, damit sie sich nicht verstetigen oder ausweiten und
Lebensentwicklungen blockieren.
Protokoll: Waltraud Schwab
## „Kein Grund für Alarmismus“
Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands:
Natürlich hat die Pandemie im sozialen Bereich die Befindlichkeiten von
Kindern beeinflusst, vor allem in Familien, in denen die Schule der einzig
stützende Lebensraum war. Die Effekte, die daraus entstehen, sind zwar
massiv, das bedeutet aber nicht, dass sie zugleich klinische Ausmaße
annehmen.
Eine Veränderung, die die Lehrkräfte vor allem beobachten, ist die
drastische Zunahme des Medienkonsums. Dass Medien während der Lockdowns
auch dazu benutzt wurden, um im Austausch mit Gleichaltrigen zu bleiben,
ist völlig nachvollziehbar. Ich meine aber den Medienkonsum, der darüber
hinausgeht. Dieser veränderte Medienkonsum zieht Änderungen im Lebensablauf
mit sich und bedeutet auch oft den Verlust sozialer Kontakte. Ein
regelmäßiger Tagesablauf ist bei vielen Schüler:innen verloren gegangen.
Lehrer:innen sehen ja selten den Einzelnen, der besonders leidet, aber
natürlich hat das Ganze schlimmere Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche,
die auch vorher schon eine labile Persönlichkeit hatten. Ich bin mir
sicher, dass wir mit diesen Auswirkungen noch lange zu tun haben werden.
Was die Situation in den Schulen betrifft: Die meisten Lehrkräfte im
Verband berichten von moderaten und handhabbaren Situationen in den
Klassenzimmern. Für die breite Masse der Schulen kann man nicht annehmen,
dass – übertrieben gesagt – überforderte Lehrkräfte auf völlig aus den
Fugen geratene Schüler:innen treffen.
Die Bundesregierung hat ja ein doppeltes Programm gefahren: Zum einen geht
es darum, Bildungsstandards nachzuholen, zum anderen gibt es Zuschüsse für
Freizeit und soziale Projekte. Ich halte es für sehr wichtig, die sozialen
Defizite zu beseitigen.
Man sollte sich jedoch vor Übertreibungen hüten und davor, das eine gegen
das andere auszuspielen: Es ist wichtig, nicht die Kinder aus dem Blick zu
verlieren, die dringend Unterstützung brauchen. Gleichzeitig ist das aber
noch kein Grund, in Alarmismus zu verfallen. Von einer „geschädigten
Generation“ zu reden ist genauso übertrieben wie das Gegenteil. Die
Wahrheit liegt wie immer in der Mitte.
Protokoll: Annika Glunz
## „Wir haben die Kinder vergessen“
Die Eltern der Achtklässlerin Karla* aus Berlin-Spandau:
Mutter: Der Lockdown hat unserer Tochter den Boden unter den Füßen
weggerissen, auch für uns als Familie wurde das existenziell bedrohlich.
Vater: Jetzt läuft die Schule wieder, sie macht Sport. Und sie geht zum
Psychotherapeuten, das hilft.
Mutter: Aber noch immer müssen wir ständig hinterher sein, sie motivieren,
in die Schule zu gehen. Ich weiß: Wenn jetzt wieder ein Lockdown käme, das
wäre hart.
Vater: Mitten im Coronajahr 2020 ist Karla aufs Gymnasium gewechselt. Sie
kam in eine Klasse mit 31 anderen, sie kannte niemanden. Nach ein paar
Monaten wurden die Schulen dichtgemacht, danach hatte Karla nur noch
Unterricht per Video, und das sehr viel.
Mutter: Karla hat sich schon früher schwergetan mit Veränderungen. Wenn
eine neue Aufgabe auf sie zukommt, glaubt sie, die nicht bewältigen zu
können. Es war krass für sie, so in den Online-Unterricht geschubst zu
werden. Sich zu melden war eine Riesenhürde.
Vater: Ich war im Homeoffice, meine Frau hat Vollzeit als Ärztin
gearbeitet. Im Nachhinein würde ich sagen, ich habe das ziemlich schlecht
gemacht mit Karla. Ich habe zwischendrin ins Zimmer geschaut, ob sie an
ihren Aufgaben sitzt. Nachmittags sind wir die Sachen durchgegangen.
Irgendwas fehlte immer, Karla hat das als sehr negativ erlebt.
Mutter: Schule war von morgens bis abends im Kinderzimmer präsent. Da stand
immer dieses Gerät. Wir Eltern sind in dieser Zeit in die Lehrerrolle
gerutscht, dabei müssten Eltern auch im Lockdown in erster Linie Eltern
bleiben.
Vater: Ich war der Böse, der sie am Vormittag antreibt, am Nachmittag
kontrolliert. Wir haben ja noch Glück, die Kinder haben eigene Zimmer und
Computer. Aber mich hat die Situation mit Sicherheit überfordert.
Mutter: Anfangs dachten wir, sie hängt halt ein bisschen in der Schule.
Dabei hatte es da psychisch schon ein anderes Level erreicht. Sie hat die
Kamera nicht mehr angemacht, ist im Schlafanzug geblieben, gammelte rum.
Nachts schlief sie schlecht. Sie wollte überhaupt nicht mehr raus und ist
nicht ans Telefon, wenn Freundinnen anriefen. Irgendwann kam die Sinnfrage:
Wozu das alles?
Es ist richtig eskaliert. Wenn ich bei der Arbeit mein Handy angemacht
habe, waren da von Karla 40 Anrufe in Abwesenheit. Nervöses Geschrei, der
totale Zusammenbruch.
Karla hatte auch Suizidgedanken. Sie hat gesagt, ich will nicht mehr leben,
ich will nicht mehr aufwachen. Und das mit zwölf. Im Streit hat sie auch
gesagt: Ich will euch töten, ihr sollt mich in Ruhe lassen. Hinterher kam
sie aufgelöst an, es tat ihr leid.
Wir haben zu lange versucht, den Alltag am Laufen zu halten, erst nach
mehreren Monaten haben wir die Notbremse gezogen. Wir haben über Kontakte
einen Platz bei einem Kindertherapeuten bekommen, da hatten wir großes
Glück, viele warten ja sehr lange auf eine Therapie.
Vater: Der Therapeut hat versucht, die Problemkreise aufzusplitten: Schule,
Schlaf, Leistungsdruck, Familie. Es war dadurch nicht mehr so ein Berg. Er
hat vorgeschlagen, die Noten für zwei Monate auszusetzen. Dazu kam es nie,
aber für Karla war schon die Option total wichtig. Er hat ihr später auch
gesagt: Geh einfach jeden Tag in die Schule, auch wenn du da nur aus dem
Fenster guckst, aber geh hin. Das hat Karla annehmen können.
Mutter: Ich habe entschieden, erst mal nicht mehr zu arbeiten. Seit dem
Sommer bin ich zu Hause. Wenn es Karla schlecht geht, zieht sie sich
zurück, sie wird immer leiser. Ich dachte: Ich muss jetzt für sie da sein.
Wenn ich das mit Karla in den Sand setze, dann habe ich mein Lebensprojekt
versemmelt.
Wir haben im Frühjahr in der Praxis geimpft wie die Wilden, ich habe mich
um viele Patienten gekümmert. Aber wir haben in der Zeit echt die Kinder
vergessen. Eigentlich will ich ab Januar wieder arbeiten. Für mich ist
klar: Sollten sie die Schulen noch mal schließen, dann bleibe ich zu Hause.
Wenn das Kind sagt, es will nicht mehr leben … Es ist keine Option, dass es
noch mal so weit kommt.
Vater: Ich habe keine Sorge, dass sie die Schulen schließen. Es wurde von
Anfang an zu wenig bedacht, was das für Folgen hat für die Kinder. Das kann
niemand mehr verantworten.
Protokoll: Antje Lang-Lendorff
*Um Karla zu schützen, wurden der Name und wenige Details geändert.
## „Kinder und Jugendliche brauchen Geborgenheit“
Renate Schepker, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Vorstandsmitglied der
DGKJP Ravensburg, Baden-Württemberg:
Mittlerweile gibt es wissenschaftliche Belege dazu, dass durch die
Coronapandemie Depressionen, Angsterkrankungen, Gereiztheit und
Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen haben. Gleichzeitig
wissen wir, dass es nicht alle gleichermaßen trifft. Rund 70 Prozent kommen
mit der momentanen Situation gut zurecht. Allerdings gibt es auch die
anderen 30 Prozent – darunter überdurchschnittlich viele Mädchen. Es sind
oft Kinder und Jugendliche, die zu Hause wenig Platz haben und bei denen
die Situation ohnehin angespannt ist, etwa durch Arbeitslosigkeit der
Eltern.
Zugleich sind die Wartelisten für einen ambulanten Therapieplatz lang, wenn
es auch regional sehr unterschiedlich ist: Während eine Stadt wie
Heidelberg sehr gut mit Psychotherapieplätzen ausgestattet ist, gibt es in
den östlichen Bundesländern ganze Landstriche, wo es kaum ambulante
Therapieangebote gibt.
Ein großes Problem entstand daraus, dass Therapeuten aus
Infektionsschutzgründen keine Gruppensitzungen, sondern nur Einzelgespräche
anbieten konnten und ihre Kapazitäten daher schnell erschöpft waren – bei
gleichzeitig steigendem Bedarf wegen Corona. Man hat versucht, den Mangel
mit kürzeren Therapiezeiten und Online-Therapien zu kompensieren – was
nicht vollständig gelingen konnte.
Kinder und Jugendliche brauchen Sicherheit und Geborgenheit, und die hat es
während der vergangenen Monate kontinuierlich kaum gegeben. Sportvereine
und Jugendtreffs waren geschlossen, es fehlte der Kontakt zu Bezugspersonen
außerhalb der Familie.
Laut Kriminalstatistik haben die angezeigten Fälle von sexuellem
Kindesmissbrauch im vergangenen Jahr um knapp 7 Prozent zugenommen. Zwar
gab es zu Beginn der Pandemie weniger Hinweise auf Kindeswohlgefährdung bei
den Jugendämtern. Allerdings nur deshalb, weil außerhalb der Familien
niemand mehr richtig auf die Kinder geachtet und sie gesehen hat.
Lehrer sollten nun vor allem auf die Stillen achten. Denn das sind eher die
Ängstlichen und Depressiven. Aber auch als Eltern sollte man genauer
hinschauen, darüber reden, was sie bedrückt. Und umgekehrt Kinder und
Jugendliche daran teilhaben lassen, wenn es einem selbst nicht so gut geht
– und ihnen so zeigen, dass man damit umgehen kann.
Auf keinen Fall sollten die wieder geöffneten Schulen aufgrund verpassten
Unterrichts den Leistungsdruck erhöhen. Und auch wenn ich nicht fordern
würde, dass Kitas und Schulen unter allen Umständen offenbleiben müssen,
sollte bei einer erneuten Schließung der Kontakt besser gehalten werden als
bisher. Schlimm ist, dass es immer noch Familien ohne Laptops gibt. Wenn
einige den Unterricht auf dem Handy verfolgen müssen, während andere ein
eigenes Zimmer mit einer super Ausstattung haben, dann ist das schreiend
ungerecht.
Protokoll: Anna Fastabend
## „In einer negativen Gedankenschleife“
Dorle Mesch, Schulsozialarbeiterin an einem Gymnasium in der Nähe von Köln
und Vorstand der LAG Schulsozialarbeit NRW (ehrenamtlich):
Im Bereich der Schulsozialarbeit sind in der Pandemie die Anfragen nach
Hilfe und Beratung stark gestiegen – und nach der Rückkehr in die Schulen
aufgrund der stärkeren Sichtbarkeit der Probleme sogar noch mehr. Es haben
sich vor allem die Familien gemeldet, die Kinder mit besonderen Bedarfen
wie etwa psychischen oder körperlichen Belastungen oder Erkrankungen
hatten. Eine große Rolle spielen Ängste: soziale Ängste, Zukunftsängste,
Schulängste. Von Letzteren sind besonders leistungsstarke Menschen
betroffen, sie haben Sorge, den eigenen Erwartungen nicht entsprechen zu
können.
Viele Betriebe haben ihre Ausbildungsangebote eingeschränkt, auch das
erzeugt Zukunftsängste bei jungen Menschen, die im Übergang von der Schule
in den Beruf sind. Als belastend erweist sich zunehmend auch die Angst vor
dem Klimawandel. Während der Pandemie ist auch ein erhöhter Medienkonsum
festzustellen.
Viele Reaktionen auf die Krise – Trauer, Rückzug, Wut – sind dennoch völl…
normal und kein zwingender Grund, einen Arzt aufzusuchen.
Aber es ist gut zu wissen, wie sich eine tatsächliche Krise manifestiert:
Schlafstörungen oder auch aggressives Gegenhalten im Alltag können ein
Hinweis sein. In einer solchen Krisensituation ist es hilfreich, darüber
nachzudenken, was man Gutes für sich tun kann in einer Situation, die man
ohnehin nicht ändern kann. Wer nur darüber nachdenkt, was er gerade nicht
tun kann, etwa aufgrund von Beschränkungen, verharrt in einer negativen
Gedankenschleife.
Als Schulsozialarbeiter:innen bieten wir jungen Menschen, Eltern
und Kolleg:innen Einzelfallhilfe und Beratung an. Wir sind vernetzt mit
Jugendämtern, Schulpsycholog:innen, Fachärzt:innen und
Therapeut:innen. Es gibt digitale Sprechstunden und eine telefonische
Erreichbarkeit für den Notfall.
Während des Lockdowns haben sich einige Kolleg:innen auch in Präsenz um
Kinder mit besonderem Bedarf gekümmert, in sogenannten Notgruppen in der
Schule. Das war ein wichtiges Angebot, denn unsere psychosoziale Gesundheit
spielt eine große Rolle beim Lernen. Es hat sich auch eine Methode
entwickelt, die die Kolleg:innen „Walk and Talk“ nennen: Man trifft sich
auf einen Spaziergang, um miteinander zu reden. Es gibt aber auch einige
Kinder, denen es in Distanzbeschulung gelungen ist, verbesserte Leistungen
zu zeigen, da die Reizarmut (weniger Ablenkung) ihnen zugute kam. Dies
betraf durchaus auch junge Menschen mit sozialen Ängsten, Asperger Autismus
oder ADHS.
Es ist entscheidend, Menschen darin zu begleiten, gute Wege im Umgang mit
Krisen zu finden. Dafür muss die Schulsozialarbeit intensiviert werden. Die
Wertschätzung dieser Arbeit wird zwar politisch und gesellschaftlich
bekundet, es fehlt aber an der Bereitschaft, sie ausreichend und angemessen
zu finanzieren.
Wir stellen fest, dass es bundesweit nicht an allen Schulen unbefristete
Stellen für Schulsozialarbeiter:innen gibt. Hilfesysteme dauerhaft
zu installieren und nicht nur in einer akuten Krisensituation ist
notwendig. In der Schulsozialarbeit bräuchte es eine Vollzeitstelle pro
einhundertfünfzig Schüler:innen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Stattdessen
arbeiten viele Kolleg:innen befristet und sind gleichzeitig für mehr als
eine Schule verantwortlich. Hier benötigt es Qualitätsstandards in der
Schulsozialarbeit. Protokoll: Ruth Fuentes
## „Meine Generation braucht diese Zeit“
Pauline, 18 Jahre, lebt in Kaiserslautern.
Irgendwann ging es nicht mehr. Ich stand vor der Tür der Kinder- und
Jugendpsychiatrie, anders wusste ich mir nicht mehr zu helfen. Seit meiner
Geburt habe ich ADHS, irgendwann kam noch eine
Borderline-Persönlichkeitsstörung hinzu, auch Depressionen. In meinen
Therapien habe ich gelernt, mit der Krankheit zu leben, Strategien
erarbeitet, mit der Krankheit im Alltag umzugehen. Ich habe gelernt, dass
Routinen das Wichtigste für mich sind. Feste Strukturen.
Dann kam der Lockdown und nichts war mehr, wie es war. Alle Routinen fielen
weg. Ich saß zu Hause vor meinem Laptop, es war ein einziger
Ausnahmezustand. Ich musste mich selbst strukturieren, mir die Arbeit
selbst einteilen. Ich konnte meine Freund:innen nicht mehr sehen.
Seit ich 16 bin, wohne ich allein. Meine Eltern zahlen mir Unterhalt. Das
reicht gerade so für Miete und Essen. Für den Rest gehe ich eigentlich
abends kellnern. Mit dem Lockdown änderte sich das: Ich konnte nicht mehr
arbeiten gehen, hatte also auch kein Geld mehr. Ich hatte kaum Kontakt zu
Freund:innen und meine Familie wollte ich nicht belasten, die hatte genug
eigene Probleme. Meine Mutter erzieht meine kleine Schwester allein.
Ich hatte nicht mal Geld für WLAN. Und ohne Internet im Lockdown zu Hause
sitzen – was will man da groß machen? Ich habe mir morgens einen Kaffee
gekocht, mich – wenn die mobilen Daten gereicht haben – vor den
Online-Unterricht gesetzt. Ich habe meine Aufgaben gemacht. Dann ging ich
einkaufen. Dann saß ich rum.
Ich konnte nichts streamen. Oft konnte ich nicht mal den Unterricht
verfolgen. Die Lehrer:innen wussten, dass ich alleine wohne. Sie kennen
auch meine Diagnose. Sie wissen, dass ich nur stabil sein kann, wenn mir
Struktur vorgegeben wird: Orte, an die ich gehen kann. Verabredungen, auf
die ich mich freuen kann. Aber es hat sich niemand wirklich gekümmert. Auch
nicht, wenn ich gesagt habe, dass ich kein Internet zu Hause habe. Oder
wenn ich gesagt habe, dass ich nicht mitkomme. Und ich habe es oft gesagt.
Irgendwann habe ich entschieden, die Klasse zu wiederholen. Was hätte ich
auch sonst machen sollen?
Nachts lag ich oft wach. Immer öfter kamen die Gedanken: Wofür mache ich
das überhaupt? Welchen Sinn hat das noch? Ich habe gemerkt, dass ich immer
weiter in eine schwere Depression falle. Ich kenne das Gefühl. Wenn ich
denke, den Boden zu verlieren. Die Suizidgedanken. Und irgendwann wusste
ich: Es geht nicht mehr. Ich brauche Hilfe.
Insgesamt war ich acht Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich
brauchte die Routine. Das gemeinsame Essen, die Therapiestunden, einen
festen Tagesplan. Das hat geholfen. Und die Klinik war voll. Mehr als voll.
Patient:innen haben auf dem Flur geschlafen. Oder in den Gruppenräumen.
Anders konnten sie die vielen Krisenfälle nicht aufnehmen.
Nach der Klinik habe ich mich dazu entschieden, die elfte Klasse erneut zu
wiederholen. Erst habe ich mich dafür geschämt. Zweimal wiederholen! Aber
inzwischen denke ich: Diese zwei Jahre Pandemie waren die Hölle. Es fühlt
sich an, als wäre in der ganzen Zeit nichts passiert. Wie ein leerer Raum.
Als wäre ich an nichts gewachsen. Außer an mir selbst. Und das möchte ich
nachholen. Ich brauche diese Zeit. Meine Generation braucht diese Zeit.
Alle wollen jetzt wieder was erleben. Aber unsere Gesellschaft ist eben nur
darauf ausgelegt, schnell, produktiv und leistungsfähig zu sein. Kein
Wunder, dass man daran früher oder später kaputtgeht.
Protokoll: Luisa Thomé
## „Unruhe und Ungeduld im Unterricht“
Manuel Birke, Lehrer an einer reformpädagogischen Gemeinschaftsschule in
Dresden:
Homeschooling und die Lockdowns haben definitiv Spuren bei den
Schüler:innen hinterlassen. Zusammengefasst würde ich sagen, dass ein
behäbiges, konservatives Schulbild mit den dazugehörigen Werten entlarvt
worden ist. Und das so auch schon vorher nicht mehr funktioniert hat. So
waren viele Schulen bereits vor der Pandemie hochgradig digitalisiert, aber
völlig an den Kindern vorbei. Und schon damals hatten sich viele Kinder
zurückgezogen.
In der Pandemie passierte dann zunächst wochenlang gar nichts.
Schulleitungen haben ewig gebraucht, um zu reagieren, Wochen vergingen, bis
die Ansagen der Kultusministerien umgesetzt wurden. Die Schulen reagierten
fast mürrisch. Alles stand still, dabei wäre es gar nicht schwer gewesen,
den Schüler:innen etwas anzubieten. Die technischen Möglichkeiten waren
ja da, es wurde dafür gesorgt, dass jedes Kind ein Gerät mit nach Hause
bekommt. Aber die meisten Lehrkräfte wollten einfach so schnell wie möglich
wieder zum Altbewährten zurück und waren völlig hilflos.
Das Lehrmaterial war so unterirdisch langweilig, dass viele Kinder einfach
irgendwann aufhörten, sich damit zu beschäftigen. So, wie die Aufgaben
gestellt waren und in dem Maße, wie die Kinder damit förmlich zugeschüttet
wurden, konnte das ohne Begleitung nicht funktionieren. Viele Kinder haben
so den Anschluss verloren, von einigen habe ich monatelang nichts gehört.
Die Probleme, die während der Zeit der Schulschließungen auftauchten, spüre
ich bis heute. Das Vertrauen in stabile Lernprozesse wurde erschüttert. Es
fällt vielen schwer, eigene Lernprozesse anzugehen. Es gibt einige Kinder
mit krisensicheren Elternhäusern, die sind vielleicht ganz okay durch die
Zeit gekommen, aber ich würde sagen, dass das ein kleinerer Teil der
Schüler:innen ist.
Gerade haben die Kinder das Problem, dass ihnen immer gesagt wird: „Ihr
müsstet eigentlich schon weiter sein.“ Das führt natürlich zu Druck,
Überforderung und Unsicherheit. Im Unterricht äußert sich das dann in
Unruhe und Ungeduld. Ich finde es schwierig, in diesen Klassen Unterricht
zu machen.
Und was die Kinder auf jeden Fall auch mitbekommen haben: Diese krasse
Polarisierung, diese Grabenkämpfe im Umgang mit Corona. Da gab es ja
brutalste Konflikte, die auch vor Schulen nicht halt gemacht haben. Der
Schutzraum, den Schule ja auch bietet, hat in dieser Hinsicht nicht
funktioniert. Auch da wurde Vertrauen zerstört.
Protokoll: Annika Glunz
13 Nov 2021
## LINKS
[1] https://ptk-hessen.de/allgemein/verbesserte-ambulante-versorgung-fuer-kinde…
## AUTOREN
Ruth Lang Fuentes
Antje Lang-Lendorff
Annika Glunz
Luisa Thomé
Waltraud Schwab
Anna Fastabend
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