| # taz.de -- Lehrerverbände und Corona: Berufsmäßiges Unken | |
| > Lehrerverbände vertreten die Interessen ihrer Mitglieder, das ist ihre | |
| > legitime Aufgabe. Aber müssen sie deshalb aktiv auf Schulschließungen | |
| > drängen? | |
| Bild: Mit weißen Fahnen wollen Grundschulen in NRW auf ihre Überlastung aufme… | |
| Im ersten Coronalockdown protestierte die Gewerkschaft Erziehung und | |
| Wissenschaft (GEW), als ältere Lehrkräfte in Sachsen ein ärztliches Attest | |
| über ihre „Vorerkrankung“ vorlegen sollten. Zuvor waren diese auf eigenen | |
| Wunsch ohne medizinische Prüfung von ihrer Tätigkeit freigestellt worden. | |
| Die GEW beanspruchte für sie Sonderrechte. | |
| Bald danach wandte sich der Landesverband Nordrhein-Westfalen gegen eine | |
| Wiedereröffnung der Förderschulen: Ausgerechnet Kinder mit geistigen, | |
| körperlichen oder sozialen Handicaps sollten weiter zu Hause bleiben, mit | |
| der Begründung, sie könnten die Abstandsregeln nicht einhalten. In | |
| Schleswig-Holstein warf die Gewerkschaft kürzlich der Schulministerin vor, | |
| „nur auf [1][Präsenz] zu setzen und den Distanzunterricht zu tabuisieren“. | |
| Solche Aussagen kommen von einer Organisation, deren wichtigstes Anliegen | |
| das Fördern junger Menschen sein müsste. Stattdessen betreibt die GEW seit | |
| zwei Jahren Lobbypolitik für jene, die sich (teils sehr verständlich) vor | |
| dem [2][Unterrichten] in Coronazeiten fürchten. Sie agiert nur als | |
| Vertretung der Lehrenden – und vernachlässigt die Lernenden. Priorität hat | |
| der Gesundheitsschutz der Mitglieder, Probleme von Kindern und Eltern | |
| interessieren nur am Rande. Doch im Vergleich zu ihren Mitbewerbern wirkt | |
| die GEW noch moderat. | |
| Wenn Heinz-Peter Meidinger vor die Mikrofone tritt, weiß man schon vor dem | |
| ersten Satz, was kommt. „Mehr Schulen werden dichtmachen müssen“, | |
| prophezeite der medial dauerpräsente Vorsitzende des Deutschen | |
| Lehrerverbands zuletzt. Omikron habe in den Klassen „leichtes Spiel“, | |
| Normalität sei „in weite Ferne gerückt“. Der pensionierte Pädagoge, bis | |
| 2020 Direktor eines Gymnasiums im niederbayerischen Deggendorf, trägt nicht | |
| umsonst den spöttischen Spitznamen „Unke“. Düstere Prognosen verbindet er | |
| mit Appellen an Solidarität, sorgt sich aber stets um die eigene Klientel: | |
| „Wenn wir die Kontakte herunterfahren müssen, können die Schulen nicht | |
| außen vor bleiben.“ Meidinger ist der Lautsprecher einer Berufsvereinigung, | |
| die den Arbeitsplatz ihrer Mitglieder am liebsten geschlossen sieht. | |
| ## Sonderweg in der Pandemie | |
| Udo Beckmann, Chef des Verbands Bildung und Erziehung, der Lehrkräfte im | |
| Deutschen Beamtenbund organisiert, verfasst ähnliche Stellungnahmen. Die | |
| eher progressiv orientierte GEW, Einzelgewerkschaft im DGB, steckt in einem | |
| besonderen Dilemma: Verbal tritt sie für offene Schulen ein, lehnt | |
| Schließungen jedoch nicht grundsätzlich ab. Sie will legitimerweise | |
| Ansteckungen beim Lehrpersonal verhindern, doch es fehlt ihr an | |
| Sensibilität für die sozialen und psychologischen Folgen der Pandemie. Das | |
| Dichtmachen von Bildungsstätten – dazu zählen übrigens auch die | |
| Universitäten, von denen in öffentlichen Debatten selten die Rede ist – | |
| verschärft die von der Gewerkschaft angeprangerte Spaltung der | |
| Gesellschaft. | |
| Vor allem Kinder aus armen Haushalten leiden unter zugesperrten Schulen und | |
| Digitalunterricht. Zahlreiche Forschungsergebnisse haben das inzwischen | |
| bestätigt. Nach einer Studie des Uniklinikums Essen sind die Suizidversuche | |
| Minderjähriger in der Coronakrise deutlich gestiegen. Benachteiligte werden | |
| weiter abgehängt, in geflüchteten Familien sind Rückschritte beim Lernen | |
| der deutschen Sprache erkennbar. Enge Wohnungen bieten wenig Platz, die | |
| Eltern können oft nicht helfen, es fehlen technische Voraussetzungen wie | |
| Internetanschluss oder Drucker. | |
| Trotz Auflagen wie Maskenpflicht und regelmäßigem Testen ist die Gefahr | |
| erneuter Schulschließungen nicht gebannt. Das rigide deutsche Vorgehen | |
| unterscheidet sich von dem der Nachbarn. Frankreich etwa verfolgte stets | |
| das Ziel der „ecole ouverte“, auch als es noch keine Impfungen gab. Die | |
| Geringschätzung öffentlicher Bildung hierzulande hat Tradition; die Zahl | |
| jener Eltern, die das „Freilernen“ zu Hause propagieren und die | |
| Schulpflicht generell ablehnen, ist größer als anderswo. | |
| In der Pandemie führte das zu einem Sonderweg, zumindest im europäischen | |
| Vergleich. Mexiko, Bangladesch oder die Philippinen erließen allerdings | |
| noch viel radikalere Maßnahmen, teilweise waren die Schulen dort mehr als | |
| ein Jahr lang dicht. Unicef schätzt, dass mindestens 200 Millionen Kinder | |
| über einen langen Zeitraum auf Unterricht verzichten mussten, es spricht | |
| von einer „schweren weltweiten Bildungskrise“. In Brasilien sind viele | |
| Kinder nicht mehr in die Klassen zurückgekehrt: Wegen der Not ihrer | |
| verarmten Familien haben sie Billigjobs angenommen, verrichten wie in der | |
| Vergangenheit Kinderarbeit. | |
| ## Blick auf die Schüler:innen richten | |
| Die deutsche GEW bezeichnet sich als „Bildungsgewerkschaft“. Das suggeriert | |
| ein Profil, das gesellschaftspolitische Ziele verfolgt und über | |
| berufsständischen Egoismus hinausweist. Die Funktionäre verfolgen sicher | |
| keine bösen Absichten, doch ihre einseitige Parteinahme für die Lehrkräfte | |
| schickt [3][Kinder und Jugendliche] ins Abseits. Zu Recht hat die | |
| Gewerkschaft die Versäumnisse der Schulbürokratie kritisiert, als die sich | |
| kaum um die Anschaffung von Luftfiltern kümmerte. Sie hat auch auf den | |
| maroden Zustand der Gebäude hingewiesen, der vielerorts dazu führt, dass | |
| sich kaputte Fenster nicht öffnen lassen. | |
| Täglich über Stunden vor mehr als 30 Kindern in einem kleinen Raum zu | |
| stehen, birgt ein deutlich höheres Infektionsrisiko als Büroarbeit im | |
| Homeoffice. Und die Schulen schließen sich von selbst, wenn zu viele | |
| Lehrkräfte fehlen. Doch inzwischen sind über 90 Prozent von ihnen geimpft, | |
| die meisten schon geboostert. Daher sollte der Blick wieder vorrangig auf | |
| die Schülerinnen und Schüler gerichtet werden, denn sie gehören zu den | |
| Hauptleidtragenden der Pandemie. | |
| Es irritiert, dass selbst Heinz Hilgers, der engagierte Präsident des | |
| Deutschen Kinderschutzbunds, dafür plädiert, „nicht um jeden Preis am | |
| Präsenzunterricht festzuhalten“. Wie die GEW sieht er Schließungen nur als | |
| „letztes Mittel“. Dennoch zeigt sich hier exemplarisch eine geradezu | |
| missbräuchliche Umdeutung des Begriffs „Schutz“: Denn die benachteiligten | |
| Kinder und Jugendlichen werden so ihrer Zukunftschancen beraubt. | |
| 1 Feb 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Thomas Gesterkamp | |
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