# taz.de -- Psychische Folgen von Corona: Generation kontaktlos | |
> Kinder und Jugendliche leiden besonders in der Pandemie. Schüler:innen, | |
> Therapeut:innen, Sozialarbeiter:innen und andere Betroffene | |
> erzählen. | |
## | |
## „Jetzt habe ich Angst, meine Jugend zu verpassen“ | |
Eine 15-jährige Gymnasiastin aus Hamburg: | |
Ich lebe in einem Vorort von Hamburg und gehe in die neunte Klasse. Der | |
Corona-Lockdown hat mich stark belastet. Seit über einem Jahr habe ich | |
Depressionen, leide manchmal an Panikattacken und habe eine leichte | |
Anorexie entwickelt. Im letzten Herbst habe ich mit Therapien begonnen, | |
damit habe ich die Magersucht in den Griff bekommen. Aber schlecht ging es | |
mir schon früher. Im Januar 2020 ist meine Großtante gestorben und dann hat | |
jemand aus der Schule Selbstmord begangen. | |
Als Corona losging, bin ich erst mal zusammen mit meinem Bruder bei | |
Freunden auf dem Land gewesen. Ich bin sehr introvertiert und fand es | |
schwierig, dort richtig Anschluss zu finden. Ich habe mich eher | |
zurückgezogen und isoliert. Wieder zu Hause bin ich nicht mehr aus dieser | |
Zurückgezogenheit rausgekommen. Außerdem fing ich an, zwei Stimmen zu | |
hören. Sie klangen wie meine Gedanken, nur dass sie mit mir geredet haben. | |
Die eine immer gegen mich. Sie meinte, ich sei nichts wert und solle besser | |
sterben. Die andere setzte sich für mich ein, versuchte dagegenzuhalten. | |
Weil Lockdown war, hatte ich nicht mehr so viel Kontakt zu meinen | |
Freundinnen. Davor habe ich sie jeden Tag in der Schule gesehen und hätte | |
einfach mit ihnen reden können. Irgendwann konnte ich kaum mehr | |
einschlafen, weil es so schlimm war, und ich habe meiner Mutter eine E-Mail | |
geschrieben, dass ich gerne eine Therapie machen würde. Meine Eltern sind | |
geschieden, in der Woche war ich gerade bei meinem Vater. Zuvor hatte es | |
einen Moment gegeben, da hätte ich mich beinahe umgebracht: Auf meinem | |
Nachhauseweg komme ich an der U-Bahn vorbei. An einem Punkt ist man auf | |
einer Höhe mit den Schienen. | |
Meine Mutter ist dann online auf die Beratungsstelle für Frauen und Mädchen | |
ISIS in Poppenbüttel gestoßen, wo ich dann sehr schnell Hilfe bekommen | |
habe. Die Therapeutin fragte mich, warum ich hier bin, und ich habe erst | |
mal angefangen zu weinen. Danach habe ich erzählt. Die Therapeutin war | |
super nett, aber meinte, die Beratung alleine reiche nicht. So geriet ich | |
an einen Therapieplatz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als im Winter | |
die „gute“ Stimme immer leiser geworden ist, bin ich auch für drei Tage | |
dort geblieben. Später hätte ich einen festen Klinikplatz für einige Monate | |
bekommen. Das habe ich aber abgelehnt, was ich jetzt bereue. | |
Medikamente bekomme ich keine. Seit März mache ich eine Gruppentherapie. | |
Alle sind ungefähr in meinem Alter und mit unterschiedlichen Problemen, | |
aber alle leiden unter Schuldruck. Im Lockdown fing ich an, mir Vorwürfe zu | |
machen, wenn ich mich mit etwas anderem als Schule beschäftigt habe. Obwohl | |
die Hausaufgaben längst fertig waren. | |
Ein Teil von mir würde sich gerne weiter isolieren, gleichzeitig wünsche | |
ich mir, dass alles bald wird wie vor Corona. Ich meine, ich war nicht mal | |
14, als alles angefangen hat. Jetzt habe ich Angst, meine Jugend zu | |
verpassen. | |
Protokoll: Ruth Fuentes | |
## „Ängste müssen bearbeitet werden“ | |
Bettina Schötz, Analytische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin | |
Berlin: | |
Tatsächlich beobachte ich, dass sich Angstsymptomatiken bei Kindern in der | |
Pandemie stärker zeigen. Nicht so sehr die Angst, sich mit dem Coronavirus | |
zu infizieren, wobei das vereinzelt auch vorkommt. Viel dominanter ist, | |
dass sich bereits vorhandene Ängste, seien es Sozialphobien, Engeängste, | |
also etwa Klaustrophobie, oder Redeängste verstärkt haben. Beispielsweise | |
könnte ein Kind, das vorher Angst hatte, mit der U-Bahn zu fahren, diese | |
Angst nun mit Corona begründen. Die ursächlichen ängstlichen Vorstellungen | |
sind dann wie zugedeckt durch die realen Gefahren der Pandemie und werden | |
nicht mehr bearbeitet. | |
Hinzu kommt, dass die selbst durch die Pandemie hochbelasteten Eltern | |
mitunter nicht adäquat auf die Ängste der Kinder eingehen können. Und da | |
Corona für Ältere lebensbedrohlicher ist, haben die Eltern womöglich reale | |
Ängste, zu Schaden zu kommen und nicht mehr für die Kinder da sein zu | |
können. Eventuell bekommen sie in dieser Situation dann gar nicht mit, wie | |
belastet ihre Kinder sind. Oder sie haben wenig Verständnis, wenn die | |
Kinder jammern, weil sie etwa zur Schule fahren müssen. | |
Und was Schule angeht? Mal war Schule, mal nicht. Mal war | |
Online-Unterricht, dann wieder Präsenz. Dann gab es | |
Quarantäneunterbrechungen. Und es kam vor, dass Kinder zur Schule fuhren, | |
aber die Lehrer fehlten und den Kindern wurde nicht gesagt, was die hatten. | |
Man kann sagen: Die Koordinaten, die das Leben der Kinder strukturieren, | |
waren in der Pandemie nicht mehr verlässlich. In den Familien sollte das | |
aufgefangen werden. | |
Da, wo Eltern eine Ersatzstruktur gewährleisten konnten, ging es halbwegs | |
gut. Mitunter hat es auch die Bindungen zwischen Eltern und Kindern | |
verbessert. Und Kindern mit sozialen Ängsten mag es gefallen haben, dass | |
sie zu Hause bleiben konnten. Aber die sozialen Entwicklungen wurden in der | |
Pandemie total unterbrochen. Vor allem bei Kindern mit Angststörungen, wo | |
es wichtig ist, dass sie sich den Ängsten aussetzen. | |
Zur Belastung durch die Pandemie kamen in vielen Fällen berufliche | |
Existenzängste der Eltern hinzu. Wenn Kinder mit Angststörungen aber | |
zusätzlich deren Ängste mitbekommen, dann ist Entwicklung kaum mehr | |
möglich. Kommen Alkohol oder Drogen mit ins Spiel, wird es noch | |
schwieriger. Kindesmissbrauch hat in der Pandemie zugenommen, | |
Alkoholmissbrauch auch. | |
Wenn Kinder in so einer Situation einen Therapieplatz gefunden haben, hat | |
das zu Entlastung geführt. Die Kassenärztliche Vereinigung in Hessen hat | |
auf den riesigen Bedarf reagiert und Kindertherapeut:innen ohne | |
Kassenzulassung für zwei Jahre eine Notfallzulassung gegeben, damit mehr | |
[1][Kinder behandelt werden können]. Dieses Modell müsste bundesweit | |
übernommen werden. Ängste bei Kindern müssen therapeutisch bearbeitet | |
werden, damit sie sich nicht verstetigen oder ausweiten und | |
Lebensentwicklungen blockieren. | |
Protokoll: Waltraud Schwab | |
## „Kein Grund für Alarmismus“ | |
Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbands: | |
Natürlich hat die Pandemie im sozialen Bereich die Befindlichkeiten von | |
Kindern beeinflusst, vor allem in Familien, in denen die Schule der einzig | |
stützende Lebensraum war. Die Effekte, die daraus entstehen, sind zwar | |
massiv, das bedeutet aber nicht, dass sie zugleich klinische Ausmaße | |
annehmen. | |
Eine Veränderung, die die Lehrkräfte vor allem beobachten, ist die | |
drastische Zunahme des Medienkonsums. Dass Medien während der Lockdowns | |
auch dazu benutzt wurden, um im Austausch mit Gleichaltrigen zu bleiben, | |
ist völlig nachvollziehbar. Ich meine aber den Medienkonsum, der darüber | |
hinausgeht. Dieser veränderte Medienkonsum zieht Änderungen im Lebensablauf | |
mit sich und bedeutet auch oft den Verlust sozialer Kontakte. Ein | |
regelmäßiger Tagesablauf ist bei vielen Schüler:innen verloren gegangen. | |
Lehrer:innen sehen ja selten den Einzelnen, der besonders leidet, aber | |
natürlich hat das Ganze schlimmere Auswirkungen auf Kinder und Jugendliche, | |
die auch vorher schon eine labile Persönlichkeit hatten. Ich bin mir | |
sicher, dass wir mit diesen Auswirkungen noch lange zu tun haben werden. | |
Was die Situation in den Schulen betrifft: Die meisten Lehrkräfte im | |
Verband berichten von moderaten und handhabbaren Situationen in den | |
Klassenzimmern. Für die breite Masse der Schulen kann man nicht annehmen, | |
dass – übertrieben gesagt – überforderte Lehrkräfte auf völlig aus den | |
Fugen geratene Schüler:innen treffen. | |
Die Bundesregierung hat ja ein doppeltes Programm gefahren: Zum einen geht | |
es darum, Bildungsstandards nachzuholen, zum anderen gibt es Zuschüsse für | |
Freizeit und soziale Projekte. Ich halte es für sehr wichtig, die sozialen | |
Defizite zu beseitigen. | |
Man sollte sich jedoch vor Übertreibungen hüten und davor, das eine gegen | |
das andere auszuspielen: Es ist wichtig, nicht die Kinder aus dem Blick zu | |
verlieren, die dringend Unterstützung brauchen. Gleichzeitig ist das aber | |
noch kein Grund, in Alarmismus zu verfallen. Von einer „geschädigten | |
Generation“ zu reden ist genauso übertrieben wie das Gegenteil. Die | |
Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. | |
Protokoll: Annika Glunz | |
## „Wir haben die Kinder vergessen“ | |
Die Eltern der Achtklässlerin Karla* aus Berlin-Spandau: | |
Mutter: Der Lockdown hat unserer Tochter den Boden unter den Füßen | |
weggerissen, auch für uns als Familie wurde das existenziell bedrohlich. | |
Vater: Jetzt läuft die Schule wieder, sie macht Sport. Und sie geht zum | |
Psychotherapeuten, das hilft. | |
Mutter: Aber noch immer müssen wir ständig hinterher sein, sie motivieren, | |
in die Schule zu gehen. Ich weiß: Wenn jetzt wieder ein Lockdown käme, das | |
wäre hart. | |
Vater: Mitten im Coronajahr 2020 ist Karla aufs Gymnasium gewechselt. Sie | |
kam in eine Klasse mit 31 anderen, sie kannte niemanden. Nach ein paar | |
Monaten wurden die Schulen dichtgemacht, danach hatte Karla nur noch | |
Unterricht per Video, und das sehr viel. | |
Mutter: Karla hat sich schon früher schwergetan mit Veränderungen. Wenn | |
eine neue Aufgabe auf sie zukommt, glaubt sie, die nicht bewältigen zu | |
können. Es war krass für sie, so in den Online-Unterricht geschubst zu | |
werden. Sich zu melden war eine Riesenhürde. | |
Vater: Ich war im Homeoffice, meine Frau hat Vollzeit als Ärztin | |
gearbeitet. Im Nachhinein würde ich sagen, ich habe das ziemlich schlecht | |
gemacht mit Karla. Ich habe zwischendrin ins Zimmer geschaut, ob sie an | |
ihren Aufgaben sitzt. Nachmittags sind wir die Sachen durchgegangen. | |
Irgendwas fehlte immer, Karla hat das als sehr negativ erlebt. | |
Mutter: Schule war von morgens bis abends im Kinderzimmer präsent. Da stand | |
immer dieses Gerät. Wir Eltern sind in dieser Zeit in die Lehrerrolle | |
gerutscht, dabei müssten Eltern auch im Lockdown in erster Linie Eltern | |
bleiben. | |
Vater: Ich war der Böse, der sie am Vormittag antreibt, am Nachmittag | |
kontrolliert. Wir haben ja noch Glück, die Kinder haben eigene Zimmer und | |
Computer. Aber mich hat die Situation mit Sicherheit überfordert. | |
Mutter: Anfangs dachten wir, sie hängt halt ein bisschen in der Schule. | |
Dabei hatte es da psychisch schon ein anderes Level erreicht. Sie hat die | |
Kamera nicht mehr angemacht, ist im Schlafanzug geblieben, gammelte rum. | |
Nachts schlief sie schlecht. Sie wollte überhaupt nicht mehr raus und ist | |
nicht ans Telefon, wenn Freundinnen anriefen. Irgendwann kam die Sinnfrage: | |
Wozu das alles? | |
Es ist richtig eskaliert. Wenn ich bei der Arbeit mein Handy angemacht | |
habe, waren da von Karla 40 Anrufe in Abwesenheit. Nervöses Geschrei, der | |
totale Zusammenbruch. | |
Karla hatte auch Suizidgedanken. Sie hat gesagt, ich will nicht mehr leben, | |
ich will nicht mehr aufwachen. Und das mit zwölf. Im Streit hat sie auch | |
gesagt: Ich will euch töten, ihr sollt mich in Ruhe lassen. Hinterher kam | |
sie aufgelöst an, es tat ihr leid. | |
Wir haben zu lange versucht, den Alltag am Laufen zu halten, erst nach | |
mehreren Monaten haben wir die Notbremse gezogen. Wir haben über Kontakte | |
einen Platz bei einem Kindertherapeuten bekommen, da hatten wir großes | |
Glück, viele warten ja sehr lange auf eine Therapie. | |
Vater: Der Therapeut hat versucht, die Problemkreise aufzusplitten: Schule, | |
Schlaf, Leistungsdruck, Familie. Es war dadurch nicht mehr so ein Berg. Er | |
hat vorgeschlagen, die Noten für zwei Monate auszusetzen. Dazu kam es nie, | |
aber für Karla war schon die Option total wichtig. Er hat ihr später auch | |
gesagt: Geh einfach jeden Tag in die Schule, auch wenn du da nur aus dem | |
Fenster guckst, aber geh hin. Das hat Karla annehmen können. | |
Mutter: Ich habe entschieden, erst mal nicht mehr zu arbeiten. Seit dem | |
Sommer bin ich zu Hause. Wenn es Karla schlecht geht, zieht sie sich | |
zurück, sie wird immer leiser. Ich dachte: Ich muss jetzt für sie da sein. | |
Wenn ich das mit Karla in den Sand setze, dann habe ich mein Lebensprojekt | |
versemmelt. | |
Wir haben im Frühjahr in der Praxis geimpft wie die Wilden, ich habe mich | |
um viele Patienten gekümmert. Aber wir haben in der Zeit echt die Kinder | |
vergessen. Eigentlich will ich ab Januar wieder arbeiten. Für mich ist | |
klar: Sollten sie die Schulen noch mal schließen, dann bleibe ich zu Hause. | |
Wenn das Kind sagt, es will nicht mehr leben … Es ist keine Option, dass es | |
noch mal so weit kommt. | |
Vater: Ich habe keine Sorge, dass sie die Schulen schließen. Es wurde von | |
Anfang an zu wenig bedacht, was das für Folgen hat für die Kinder. Das kann | |
niemand mehr verantworten. | |
Protokoll: Antje Lang-Lendorff | |
*Um Karla zu schützen, wurden der Name und wenige Details geändert. | |
## „Kinder und Jugendliche brauchen Geborgenheit“ | |
Renate Schepker, Kinder- und Jugendpsychiaterin, Vorstandsmitglied der | |
DGKJP Ravensburg, Baden-Württemberg: | |
Mittlerweile gibt es wissenschaftliche Belege dazu, dass durch die | |
Coronapandemie Depressionen, Angsterkrankungen, Gereiztheit und | |
Schlafstörungen bei Kindern und Jugendlichen zugenommen haben. Gleichzeitig | |
wissen wir, dass es nicht alle gleichermaßen trifft. Rund 70 Prozent kommen | |
mit der momentanen Situation gut zurecht. Allerdings gibt es auch die | |
anderen 30 Prozent – darunter überdurchschnittlich viele Mädchen. Es sind | |
oft Kinder und Jugendliche, die zu Hause wenig Platz haben und bei denen | |
die Situation ohnehin angespannt ist, etwa durch Arbeitslosigkeit der | |
Eltern. | |
Zugleich sind die Wartelisten für einen ambulanten Therapieplatz lang, wenn | |
es auch regional sehr unterschiedlich ist: Während eine Stadt wie | |
Heidelberg sehr gut mit Psychotherapieplätzen ausgestattet ist, gibt es in | |
den östlichen Bundesländern ganze Landstriche, wo es kaum ambulante | |
Therapieangebote gibt. | |
Ein großes Problem entstand daraus, dass Therapeuten aus | |
Infektionsschutzgründen keine Gruppensitzungen, sondern nur Einzelgespräche | |
anbieten konnten und ihre Kapazitäten daher schnell erschöpft waren – bei | |
gleichzeitig steigendem Bedarf wegen Corona. Man hat versucht, den Mangel | |
mit kürzeren Therapiezeiten und Online-Therapien zu kompensieren – was | |
nicht vollständig gelingen konnte. | |
Kinder und Jugendliche brauchen Sicherheit und Geborgenheit, und die hat es | |
während der vergangenen Monate kontinuierlich kaum gegeben. Sportvereine | |
und Jugendtreffs waren geschlossen, es fehlte der Kontakt zu Bezugspersonen | |
außerhalb der Familie. | |
Laut Kriminalstatistik haben die angezeigten Fälle von sexuellem | |
Kindesmissbrauch im vergangenen Jahr um knapp 7 Prozent zugenommen. Zwar | |
gab es zu Beginn der Pandemie weniger Hinweise auf Kindeswohlgefährdung bei | |
den Jugendämtern. Allerdings nur deshalb, weil außerhalb der Familien | |
niemand mehr richtig auf die Kinder geachtet und sie gesehen hat. | |
Lehrer sollten nun vor allem auf die Stillen achten. Denn das sind eher die | |
Ängstlichen und Depressiven. Aber auch als Eltern sollte man genauer | |
hinschauen, darüber reden, was sie bedrückt. Und umgekehrt Kinder und | |
Jugendliche daran teilhaben lassen, wenn es einem selbst nicht so gut geht | |
– und ihnen so zeigen, dass man damit umgehen kann. | |
Auf keinen Fall sollten die wieder geöffneten Schulen aufgrund verpassten | |
Unterrichts den Leistungsdruck erhöhen. Und auch wenn ich nicht fordern | |
würde, dass Kitas und Schulen unter allen Umständen offenbleiben müssen, | |
sollte bei einer erneuten Schließung der Kontakt besser gehalten werden als | |
bisher. Schlimm ist, dass es immer noch Familien ohne Laptops gibt. Wenn | |
einige den Unterricht auf dem Handy verfolgen müssen, während andere ein | |
eigenes Zimmer mit einer super Ausstattung haben, dann ist das schreiend | |
ungerecht. | |
Protokoll: Anna Fastabend | |
## „In einer negativen Gedankenschleife“ | |
Dorle Mesch, Schulsozialarbeiterin an einem Gymnasium in der Nähe von Köln | |
und Vorstand der LAG Schulsozialarbeit NRW (ehrenamtlich): | |
Im Bereich der Schulsozialarbeit sind in der Pandemie die Anfragen nach | |
Hilfe und Beratung stark gestiegen – und nach der Rückkehr in die Schulen | |
aufgrund der stärkeren Sichtbarkeit der Probleme sogar noch mehr. Es haben | |
sich vor allem die Familien gemeldet, die Kinder mit besonderen Bedarfen | |
wie etwa psychischen oder körperlichen Belastungen oder Erkrankungen | |
hatten. Eine große Rolle spielen Ängste: soziale Ängste, Zukunftsängste, | |
Schulängste. Von Letzteren sind besonders leistungsstarke Menschen | |
betroffen, sie haben Sorge, den eigenen Erwartungen nicht entsprechen zu | |
können. | |
Viele Betriebe haben ihre Ausbildungsangebote eingeschränkt, auch das | |
erzeugt Zukunftsängste bei jungen Menschen, die im Übergang von der Schule | |
in den Beruf sind. Als belastend erweist sich zunehmend auch die Angst vor | |
dem Klimawandel. Während der Pandemie ist auch ein erhöhter Medienkonsum | |
festzustellen. | |
Viele Reaktionen auf die Krise – Trauer, Rückzug, Wut – sind dennoch völl… | |
normal und kein zwingender Grund, einen Arzt aufzusuchen. | |
Aber es ist gut zu wissen, wie sich eine tatsächliche Krise manifestiert: | |
Schlafstörungen oder auch aggressives Gegenhalten im Alltag können ein | |
Hinweis sein. In einer solchen Krisensituation ist es hilfreich, darüber | |
nachzudenken, was man Gutes für sich tun kann in einer Situation, die man | |
ohnehin nicht ändern kann. Wer nur darüber nachdenkt, was er gerade nicht | |
tun kann, etwa aufgrund von Beschränkungen, verharrt in einer negativen | |
Gedankenschleife. | |
Als Schulsozialarbeiter:innen bieten wir jungen Menschen, Eltern | |
und Kolleg:innen Einzelfallhilfe und Beratung an. Wir sind vernetzt mit | |
Jugendämtern, Schulpsycholog:innen, Fachärzt:innen und | |
Therapeut:innen. Es gibt digitale Sprechstunden und eine telefonische | |
Erreichbarkeit für den Notfall. | |
Während des Lockdowns haben sich einige Kolleg:innen auch in Präsenz um | |
Kinder mit besonderem Bedarf gekümmert, in sogenannten Notgruppen in der | |
Schule. Das war ein wichtiges Angebot, denn unsere psychosoziale Gesundheit | |
spielt eine große Rolle beim Lernen. Es hat sich auch eine Methode | |
entwickelt, die die Kolleg:innen „Walk and Talk“ nennen: Man trifft sich | |
auf einen Spaziergang, um miteinander zu reden. Es gibt aber auch einige | |
Kinder, denen es in Distanzbeschulung gelungen ist, verbesserte Leistungen | |
zu zeigen, da die Reizarmut (weniger Ablenkung) ihnen zugute kam. Dies | |
betraf durchaus auch junge Menschen mit sozialen Ängsten, Asperger Autismus | |
oder ADHS. | |
Es ist entscheidend, Menschen darin zu begleiten, gute Wege im Umgang mit | |
Krisen zu finden. Dafür muss die Schulsozialarbeit intensiviert werden. Die | |
Wertschätzung dieser Arbeit wird zwar politisch und gesellschaftlich | |
bekundet, es fehlt aber an der Bereitschaft, sie ausreichend und angemessen | |
zu finanzieren. | |
Wir stellen fest, dass es bundesweit nicht an allen Schulen unbefristete | |
Stellen für Schulsozialarbeiter:innen gibt. Hilfesysteme dauerhaft | |
zu installieren und nicht nur in einer akuten Krisensituation ist | |
notwendig. In der Schulsozialarbeit bräuchte es eine Vollzeitstelle pro | |
einhundertfünfzig Schüler:innen, um diese Aufgabe zu erfüllen. Stattdessen | |
arbeiten viele Kolleg:innen befristet und sind gleichzeitig für mehr als | |
eine Schule verantwortlich. Hier benötigt es Qualitätsstandards in der | |
Schulsozialarbeit. Protokoll: Ruth Fuentes | |
## „Meine Generation braucht diese Zeit“ | |
Pauline, 18 Jahre, lebt in Kaiserslautern. | |
Irgendwann ging es nicht mehr. Ich stand vor der Tür der Kinder- und | |
Jugendpsychiatrie, anders wusste ich mir nicht mehr zu helfen. Seit meiner | |
Geburt habe ich ADHS, irgendwann kam noch eine | |
Borderline-Persönlichkeitsstörung hinzu, auch Depressionen. In meinen | |
Therapien habe ich gelernt, mit der Krankheit zu leben, Strategien | |
erarbeitet, mit der Krankheit im Alltag umzugehen. Ich habe gelernt, dass | |
Routinen das Wichtigste für mich sind. Feste Strukturen. | |
Dann kam der Lockdown und nichts war mehr, wie es war. Alle Routinen fielen | |
weg. Ich saß zu Hause vor meinem Laptop, es war ein einziger | |
Ausnahmezustand. Ich musste mich selbst strukturieren, mir die Arbeit | |
selbst einteilen. Ich konnte meine Freund:innen nicht mehr sehen. | |
Seit ich 16 bin, wohne ich allein. Meine Eltern zahlen mir Unterhalt. Das | |
reicht gerade so für Miete und Essen. Für den Rest gehe ich eigentlich | |
abends kellnern. Mit dem Lockdown änderte sich das: Ich konnte nicht mehr | |
arbeiten gehen, hatte also auch kein Geld mehr. Ich hatte kaum Kontakt zu | |
Freund:innen und meine Familie wollte ich nicht belasten, die hatte genug | |
eigene Probleme. Meine Mutter erzieht meine kleine Schwester allein. | |
Ich hatte nicht mal Geld für WLAN. Und ohne Internet im Lockdown zu Hause | |
sitzen – was will man da groß machen? Ich habe mir morgens einen Kaffee | |
gekocht, mich – wenn die mobilen Daten gereicht haben – vor den | |
Online-Unterricht gesetzt. Ich habe meine Aufgaben gemacht. Dann ging ich | |
einkaufen. Dann saß ich rum. | |
Ich konnte nichts streamen. Oft konnte ich nicht mal den Unterricht | |
verfolgen. Die Lehrer:innen wussten, dass ich alleine wohne. Sie kennen | |
auch meine Diagnose. Sie wissen, dass ich nur stabil sein kann, wenn mir | |
Struktur vorgegeben wird: Orte, an die ich gehen kann. Verabredungen, auf | |
die ich mich freuen kann. Aber es hat sich niemand wirklich gekümmert. Auch | |
nicht, wenn ich gesagt habe, dass ich kein Internet zu Hause habe. Oder | |
wenn ich gesagt habe, dass ich nicht mitkomme. Und ich habe es oft gesagt. | |
Irgendwann habe ich entschieden, die Klasse zu wiederholen. Was hätte ich | |
auch sonst machen sollen? | |
Nachts lag ich oft wach. Immer öfter kamen die Gedanken: Wofür mache ich | |
das überhaupt? Welchen Sinn hat das noch? Ich habe gemerkt, dass ich immer | |
weiter in eine schwere Depression falle. Ich kenne das Gefühl. Wenn ich | |
denke, den Boden zu verlieren. Die Suizidgedanken. Und irgendwann wusste | |
ich: Es geht nicht mehr. Ich brauche Hilfe. | |
Insgesamt war ich acht Wochen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Ich | |
brauchte die Routine. Das gemeinsame Essen, die Therapiestunden, einen | |
festen Tagesplan. Das hat geholfen. Und die Klinik war voll. Mehr als voll. | |
Patient:innen haben auf dem Flur geschlafen. Oder in den Gruppenräumen. | |
Anders konnten sie die vielen Krisenfälle nicht aufnehmen. | |
Nach der Klinik habe ich mich dazu entschieden, die elfte Klasse erneut zu | |
wiederholen. Erst habe ich mich dafür geschämt. Zweimal wiederholen! Aber | |
inzwischen denke ich: Diese zwei Jahre Pandemie waren die Hölle. Es fühlt | |
sich an, als wäre in der ganzen Zeit nichts passiert. Wie ein leerer Raum. | |
Als wäre ich an nichts gewachsen. Außer an mir selbst. Und das möchte ich | |
nachholen. Ich brauche diese Zeit. Meine Generation braucht diese Zeit. | |
Alle wollen jetzt wieder was erleben. Aber unsere Gesellschaft ist eben nur | |
darauf ausgelegt, schnell, produktiv und leistungsfähig zu sein. Kein | |
Wunder, dass man daran früher oder später kaputtgeht. | |
Protokoll: Luisa Thomé | |
## „Unruhe und Ungeduld im Unterricht“ | |
Manuel Birke, Lehrer an einer reformpädagogischen Gemeinschaftsschule in | |
Dresden: | |
Homeschooling und die Lockdowns haben definitiv Spuren bei den | |
Schüler:innen hinterlassen. Zusammengefasst würde ich sagen, dass ein | |
behäbiges, konservatives Schulbild mit den dazugehörigen Werten entlarvt | |
worden ist. Und das so auch schon vorher nicht mehr funktioniert hat. So | |
waren viele Schulen bereits vor der Pandemie hochgradig digitalisiert, aber | |
völlig an den Kindern vorbei. Und schon damals hatten sich viele Kinder | |
zurückgezogen. | |
In der Pandemie passierte dann zunächst wochenlang gar nichts. | |
Schulleitungen haben ewig gebraucht, um zu reagieren, Wochen vergingen, bis | |
die Ansagen der Kultusministerien umgesetzt wurden. Die Schulen reagierten | |
fast mürrisch. Alles stand still, dabei wäre es gar nicht schwer gewesen, | |
den Schüler:innen etwas anzubieten. Die technischen Möglichkeiten waren | |
ja da, es wurde dafür gesorgt, dass jedes Kind ein Gerät mit nach Hause | |
bekommt. Aber die meisten Lehrkräfte wollten einfach so schnell wie möglich | |
wieder zum Altbewährten zurück und waren völlig hilflos. | |
Das Lehrmaterial war so unterirdisch langweilig, dass viele Kinder einfach | |
irgendwann aufhörten, sich damit zu beschäftigen. So, wie die Aufgaben | |
gestellt waren und in dem Maße, wie die Kinder damit förmlich zugeschüttet | |
wurden, konnte das ohne Begleitung nicht funktionieren. Viele Kinder haben | |
so den Anschluss verloren, von einigen habe ich monatelang nichts gehört. | |
Die Probleme, die während der Zeit der Schulschließungen auftauchten, spüre | |
ich bis heute. Das Vertrauen in stabile Lernprozesse wurde erschüttert. Es | |
fällt vielen schwer, eigene Lernprozesse anzugehen. Es gibt einige Kinder | |
mit krisensicheren Elternhäusern, die sind vielleicht ganz okay durch die | |
Zeit gekommen, aber ich würde sagen, dass das ein kleinerer Teil der | |
Schüler:innen ist. | |
Gerade haben die Kinder das Problem, dass ihnen immer gesagt wird: „Ihr | |
müsstet eigentlich schon weiter sein.“ Das führt natürlich zu Druck, | |
Überforderung und Unsicherheit. Im Unterricht äußert sich das dann in | |
Unruhe und Ungeduld. Ich finde es schwierig, in diesen Klassen Unterricht | |
zu machen. | |
Und was die Kinder auf jeden Fall auch mitbekommen haben: Diese krasse | |
Polarisierung, diese Grabenkämpfe im Umgang mit Corona. Da gab es ja | |
brutalste Konflikte, die auch vor Schulen nicht halt gemacht haben. Der | |
Schutzraum, den Schule ja auch bietet, hat in dieser Hinsicht nicht | |
funktioniert. Auch da wurde Vertrauen zerstört. | |
Protokoll: Annika Glunz | |
13 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://ptk-hessen.de/allgemein/verbesserte-ambulante-versorgung-fuer-kinde… | |
## AUTOREN | |
Ruth Lang Fuentes | |
Antje Lang-Lendorff | |
Annika Glunz | |
Luisa Thomé | |
Waltraud Schwab | |
Anna Fastabend | |
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