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# taz.de -- Journalismus in Corona-Zeiten: Die neuen Betroffenen
> Plötzlich nehmen deutsche Journalist*innen die Perspektive von
> Betroffenen ein. Beim Thema Rassismus ist sie verpönt.
Bild: Selbst erlebt: Homeoffice mit Homeschooling: Corona-Betroffenheitstexte s…
Wenn man Texte über Migration oder Rassismus schreibt, sagen Deutsche ohne
Migrationshintergrund gerne mal zu „betroffenen“! Autor*innen: Ihr seid
Betroffene, das merkt man euren Texten (leider) an. Werdet erst mal die Wut
los, lauft um den Block, es hat noch keiner wütend einen guten Text
geschrieben. Sachlich, sachlich. Unaufgeregt! Selbst nach [1][Hanau], nach
den Morden an Unschuldigen, kommen Leute auf die Idee, zu sagen: Warte
lieber kurz, lass etwas Zeit vergehen, nicht dass du zu emotional
schreibst, wäre doch schöner mit ein bisschen Luft, so ein unaufgeregter
Text über das alles.
Ich weiß in einem solchen Moment: uns trennen Welten. Es ist nicht „ein
Thema“ für mich. Es ist ein Erinnerungsgewebe, zahllose Momente in diesem
Land, in denen Einwanderer und ihre Nachfahren zu spüren bekommen haben:
Der migrantische Körper steht leicht zur Disposition. Selbst ein
rassistisches Töten wie in Hanau kann in kürzester Zeit vergessen werden.
Wir haben ja jetzt Covid-19, die unser aller Körper bedroht. Das macht ja
alle wieder gleich, oder nicht?
Vor Hanau stieß mir diese Haltung selten auf. Ich dachte: Ja, warum sollte
sich gerade meine Wut in irgendeine Textform ergießen dürfen? Ich habe
diese Überheblichkeit, die man auch als „silencing“ bezeichnen könnte,
unaufgeregt geschluckt und gedacht: Vielleicht machen die Deutschen ohne
Migrationsgeschichte das wirklich kühler und besonnener. Sie werden, warum
auch immer, den besseren Text schreiben. Sie werden ihn mit Fakten
anreichern, ihre Meinungen besonnen belegen, sie sind ja meist gutmeinende
Linke – daher so nah am Betroffensein, wie es nur geht und trotzdem
distanziert genug, um objektiv zu schreiben. Was habe ich, außer meiner
Fassungslosigkeit über gesellschaftlich akzeptierten Rassismus, der sich in
Morden niederzuschlagen weiß in diesem Land?
Doch jetzt, in Zeiten von Corona, sehe ich, wie deutsche Journalist*innen
ohne Migrationshintergrund permanent ihre alltäglichen Situationen und
Erfahrungen zum Thema machen: Ihr Homeoffice, ihre Beziehung, ihre Kinder,
ihre Überforderung wird zur Grundlage der Kritik an den familienpolitischen
Maßnahmen der Regierung. Care-Arbeit meint plötzlich nicht mehr den
sachlichen Artikel, bei dem ein paar Betroffene und Expert*innen zum Thema
Sorgearbeit angehört werden, nein! Man sitzt selbst in der Wohnung und
erlebt die Situation, über die man schreibt, tagtäglich.
Die Artikel zum Thema häufen sich, aus dem Makel Betroffenheit wird
Glaubwürdigkeit: Sie wissen, wovon sie reden! Ich sehe, wie die Wut der
[2][Corona-Eltern], vor allem der Mütter, sich steigert und plötzlich
selbst die besonnensten Stimmen ausfällig werden. Ich denke: Aha, schön,
die Wütenden sind da. Sie wollen etwas, weil es wehtut, täglich wehtut. Du
wachst auf, und trotz deiner Empörung ist alles wie gestern. Letztlich ist
Politisierung ja auch ein Moment, in dem Welt wehtut und man diesen Schmerz
nicht akzeptieren will.
Plötzlich ist Schluss mit halbmüden Aussagen wie: „Interessant, das könnten
wir mal näher beleuchten!“ Und dann wird es verschoben. Nein, jeden Tag
bekommt man jetzt zu spüren, wie wenig die eigenen Erfahrungen wahrgenommen
werden. Man darf plötzlich als Expertin in Talkshows, endet aber letztlich
als Betroffene im Talk, obwohl man neben der Betroffenheit noch ganz viel
Wissen erarbeitet hat, weil man eben journalistisch arbeitet, aber das
Wissen wird neben dem Betroffensein nicht mehr wahrgenommen.
## Erfahrungswissen als Makel
Ich habe da kein Problem damit, im Gegenteil: Das Erkenntnisinteresse wird
von Erfahrungswissen genährt. Nur für Menschen mit Migrationsgeschichte
wird es oft zum Makel. Nun lese ich zwischen den Zeilen vieler
familienpolitischer Artikel eine unbändige Wut und Ungeduld heraus. Im
Migrationsbereich hieße das schnell: Hier überschreiten Sie gerade die
Schwelle zum Engagement. Sie sind Journalistin, nicht Aktivistin! Wenn
Mütter und Väter in diesen Zeiten Journalist*innen sind und die Missstände
persönlich beschreiben, sind sie jetzt Corona-Eltern-Aktivist*innen?
Ach woher, werden sie entgegnen – solche Texte sind gewiss kein Engagement!
Die Haltung der Schreibenden erzählt lediglich von der Auseinandersetzung
mit der Gerechtigkeitsfrage, die man eben aus erster Hand kennt. Bei
Menschen mit Migrationgeschichte kommt hingegen schnell die Frage: „Haben
Sie Zahlen für Ihre Behauptungen oder nur Erfahrungen?“ Es gibt nicht immer
die Zahlen, die man braucht, weil Zahlen, die beim Argumentieren helfen
würden, hierzulande teilweise nicht erhoben werden. Corona-Eltern haben
jetzt zum ersten Mal dasselbe Problem: Die Zahlen, auf die sie sich stützen
könnten, sind noch nicht belastbar genug, die Daten zu mager. Man kann die
Beschwerden mit einer einfachen Rückfrage aushebeln: „Vielleicht ist das
nur Ihr persönliches Empfinden?“
In vielen Bereichen, in denen Missstände für Menschen mit
Migrationsgeschichte herrschen, gibt es keine belastbaren Daten. Das
öffentlich-rechtliche Fernsehen wird zum Beispiel nicht vermessen: Man
möchte ja nicht rassistisch sein und zum Beispiel Moderator*innen der
Ethnie nach sortieren, das ginge, gerade wegen der deutschen Vergangenheit,
nicht. Die Neuen deutschen Medienmacher*innen haben für den Print-Bereich
diesen Missstand einmal behoben, und es zeigt sich: Nur 6 Prozent der
Chefredakteur*innen haben einen Migrationshintergrund. Viele hätten das
aber auch über einen persönlichen Zugang erzählen können, weil wir ständig
Texte abliefern bei Menschen, die unsere Perspektiven eben nicht kennen und
sie exotisieren, weil auch sie nicht aus der Homogenität ihrer Erlebniswelt
herauskommen.
Die Pandemie macht auch Milieus zu Betroffenen, die es nicht gewohnt sind,
in diesem Ausmaß persönlich betroffen zu sein. Darum hört man jetzt oft:
Jedes Leid muss seinen Platz haben. Man darf die [3][Härten des Lebens]
nicht gegeneinander aufwiegen. „Wohlstandsprobleme“ sei ein hässliches
Wort. Dabei werden Probleme immerzu gegeneinander aufgewogen. Jene, die an
der Macht sind, haben das Privileg, über die Relevanz von Themen zu
entscheiden. Oder zum Beispiel darüber, in welcher Haltung man über Themen
schreiben sollte. Sie entscheiden, ab wann ein Text „zu betroffen“ klingt,
weil Emotion spürbar ist. Sie vergessen dabei zu oft den Erkenntnisgewinn
durch diese Emotionen.
Corona ist eine Lehrzeit für den Journalismus. Die Medien lernen Neues über
den Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen und selbstbewussten Akteuren
aus der Wissenschaft. Sie könnten auch etwas Neues lernen über das
Schreiben aus einer Situation heraus, von der man täglich betroffen ist,
die einen unversöhnlich und beharrlich werden lässt, ohne gleich
aktivistisch zu sein.
20 May 2020
## LINKS
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[3] /Depressionen-und-die-Coronakrise/!5685741
## AUTOREN
Jagoda Marinić
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Schwerpunkt Rechter Anschlag in Hanau
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Schwerpunkt Rechter Terror
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