# taz.de -- Götz Werner gestorben: Eine Flatrate für die Freiheit | |
> Götz Werner war einer der reichsten Männer Deutschlands und Anwalt für | |
> das bedingungslose Grundeinkommen. Er baute auf die Initiative der | |
> Mitarbeiter. | |
Bild: Eröffnete 1973 die erste „dm“-Filiale: Götz Werner | |
Wenn ich das bedingungslose Grundeinkommen in einem Satz erklären soll, | |
dann – so Götz Werner –, dass jeder Nein sagen kann. Dieses Nein steht wie | |
der Notenschlüssel vor der Partitur seines Lebens. Damit sich ein Nein so | |
aufbäumen kann, braucht es einen Gegenpol. Das waren Drogerien. Drogerien? | |
Schon der Urgroßvater war Drogist. Und nichts anderes war für ihn, 1944 in | |
Heidelberg geboren, vorstellbar. Immerhin gab es eine Falte in der | |
Herkunft. Die Mutter hatte Psychologie studiert, sie kam aus Ostpreußen an | |
den Neckar. Aber der Junge blieb in der väterlichen Spur. | |
Er machte die mittlere Reife und eine Lehre in Konstanz, um nach ein paar | |
Gesellenjahren in das Familiengeschäft einzutreten. Das war im tollen Jahr | |
1968. Nicht von den Hauptströmungen dieses Jahres getrieben, wohl aber von | |
antiautoritären Unterströmungen, verkrachte er sich, weil mein Vater | |
meinte, er wüsste alles und ich meinte, ich wüsste alles besser. Nach einer | |
Affäre von fünf Wochen war ich wieder draußen, erzählte Werner, als er | |
einmal im Philosophischen Café im Hamburger Literaturhaus mein Gast war. | |
Er ging nach Karlsruhe in die Großdrogerie Idro. Da habe ich auch wieder | |
Glück gehabt, einen Chef, der gemeint hat, er wüsste alles und ich würde es | |
nur besser wissen. Das hat dann dazu geführt, dass ich gesagt habe, na ja | |
gut, dann scheide ich aus und zeige ihnen mal, wie man das macht. | |
## Ödipus als glücklicher Mensch | |
Man muss sich Ödipus zuweilen als glücklichen Menschen vorstellen. Ödipus | |
braucht dazu allerdings Glück. 1973, als Götz Werner seinen ersten | |
Drogerie-Markt gründete, den er „dm“ nannte, war die Preisbindung für | |
Drogerieprodukte entfallen. Pünktlich war die Bahn frei für das, was er | |
zuvor schon durchsetzen wollte, eine Kette von Discounter-Filialen. Nach 5 | |
Jahren waren es über 100, nach weiteren 15 Jahren gab es 2.500 dm-Märkte | |
mit 36.000 Mitarbeitern und 5,6 Milliarden Umsatz. Heute erwirtschaften | |
europaweit 66.000 Menschen 12,3 Milliarden. | |
Das ist Kapitalismus, oder? Ja, aber der ist, wie man seit Karl Heinrich | |
Marx weiß, das System der allergrößten Widersprüche, die nach ihrer | |
Auflösung drängen. Darin ist Götz Werner ein Protagonist. Er ist an die | |
Grenzen des Systems gegangen und hat sie überschritten. | |
Es waren nicht die schönen 68er-Theorien, die aus ihm irgendwie von oben | |
nach unten träufelten. Anders herum. Das Gegenteil von Wissen und Belehrung | |
ist Lernen. Und dazu war Götz Werner gezwungen und bereit. | |
Mit dem Erfolg begann die Karriere eines, wie er sagt, totalen | |
Autodidakten. Die letzte Prüfung, die ich gemacht habe, war die | |
Führerscheinprüfung, da bin ich einmal durchgefallen. Ich hatte vorher | |
meine Drogistengehilfenprüfung. Mehr Prüfungen habe ich nicht gemacht. | |
Zuletzt war Götz Werner Professor am KIT, dem renommierten Karlsruher | |
Institut für Technologie, und leitete das Interfakultative Institut für | |
Entrepreneurship. Anders als Uni-üblich bekamen Studis dort eine | |
Meisterlehre. | |
## Den Menschen frei lassen | |
Er war mit der enormen Vervielfältigung der Filialen an die Grenzen des | |
zentral geführten Unternehmens gestoßen. Zunächst gegen seinen Widerstand, | |
denn er wusste ja, wie es geht, hatte er akzeptiert und dann begeistert | |
verstanden, dass es besser geht, wenn man den Menschen ihre Freiheit lässt. | |
In einem arbeitsteiligen System geht es nicht von oben nach unten, sondern | |
von hinten nach vorne, immer zum Kunden hin. Aus vertikal wurde mehr und | |
mehr horizontal. | |
In den Filialen wird entschieden. Über die Produkte, über das Personal, | |
sogar über die Bezahlung. Es entstand die Arbeitsgemeinschaft dm-drogerie | |
markt. Die Sache war mir über den Kopf gewachsen und dann ist mir klar | |
geworden, aha, du musst dich bilden. Da halfen ihm die Klassiker: Blaise | |
Pascal: „Der Mensch übersteigt unendlich den Menschen.“ Freiherr vom Stein: | |
„Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft behindert seine | |
Reifung.“ | |
Dann die Aufklärer. Kant: dass der Mensch niemals Mittel sein darf. Aber | |
überall in der sogenannten Wirtschaft sind die Menschen doch Instrumente | |
der Wertschöpfung. Götz Werner rebellierte mit seinem, wie er sagte, | |
heiligen Zorn, und er machte aus seinem Glück, dass ich nicht in ein | |
Prokrustesbett gelegt wurde, einen Freiheitsraum. (Prokrustes war der Wirt | |
in der griechischen Mythologie, der für seine Gäste nur ein Maßbett hatte. | |
Damit jeder hineinpasste, wurde entweder an den Füßen oder am Kopf | |
gekürzt.) | |
Werner, und damit war er bald nicht mehr allein, entdeckte den Spielraum | |
und die Vorteile des Indirekten, den Raum für die Initiative der | |
Mitarbeiter. Der Autodidakt adoptierte sich weiter bei selbstgewählten | |
Autoritäten. | |
## Mittel oder Zweck | |
Vor allem bei Goethe, auch beim Goethe-Fortsetzer [1][Rudolf Steiner.] | |
Werner nannte das fortan die Gretchenfrage: Ist der Mensch Mittel oder | |
Zweck? Und dann Schiller. Das Spiel. Das hatte Folgen. Die früheren | |
Lehrlinge, die nun Auszubildende heißen, nennt man bei dm „Lernlinge“. Sie | |
lernen nicht nur in der Berufsschule und on the job, ein Hauptfach ist | |
Theater, gegen die verbreiteten Hauptfächer „Durchkommen“ und „Ist doch | |
egal“. | |
Das sollte ich kennenlernen, nachdem ich Götz Werner und seine Frau | |
Beatrice näher kennengelernt hatte. Sie luden mich ein, eine Woche bei | |
ihnen in Stuttgart zu wohnen. Sie wollten mir Waldorfschulen zeigen und das | |
Theater der „Lernlinge“, das bei dm ein Teil von „Abenteuer Kultur“ ist. | |
Das gibt es seit mehr als 20 Jahren und es hat nur ein Ziel: Gutes Theater | |
machen. | |
Keinerlei Zweckorientierung, außer der Aufführung, Freiräume schaffen. | |
Viele Jugendliche finden das Theaterspielen zunächst Quatsch. Mancher | |
Filialleiter meinte, da spinnt Götz Werner wohl mal wieder. Aber nach den | |
Folgen und Nebenwirkungen von „Abenteuer Kultur“ kommen nun auch ältere | |
Mitarbeiter und wollen mitspielen. Die Quintessenz: Wenn nichts egal ist | |
und wenn die Menschen nicht zu Mitteln degradiert werden, dann lassen sich | |
Erfolg und auch Gewinne gar nicht mehr vermeiden. | |
Und das ist auch die Idee des [2][bedingungslosen Grundeinkommens]. Idee | |
ist nicht das beste Wort und es ist schon gar keine arbeitsmarkt- oder | |
sozialpolitische Verbesserung von Hartz IV. Beim bedingungslosen | |
Grundeinkommen ist „bedingungslos“ das wichtigere Wort. Es geht nicht um | |
Parolen, sondern um eine andere Grammatik des Zusammenlebens. Hier schlägt | |
schnell das Blitzen und Donnern der großen Worte ein, die dann vom Alltag | |
abgespalten bald verklingen. Aber diese andere Grammatik verändert schon | |
den Alltag. | |
## Verlostes Grundeinkommen | |
Ein Beispiel. Der Verein Mein Grundeinkommen ruft auf zu spenden. Immer | |
wenn zwölf Mal 1.000 Euro zusammen sind, werden diese Euronen als | |
Grundeinkommen für ein Jahr verlost. Jeder kann sich bewerben, ohne es | |
weiter begründen zu müssen. Bedingungslos. Inzwischen haben die Spenden | |
mehreren Hundert Menschen ein Jahres-Grundeinkommen ermöglicht. Die | |
Initiatoren haben die Empfänger besucht und erzählen in ihrem Buch „Was | |
würdest du tun?“ (Econ Verlag) von einer unglaublichen Bildungsreise. | |
Vieles kam anders als gedacht. Kaum einer entsprach dem Bild, das sich die | |
Autoren zuvor etwa so gemacht hatten: Jetzt habe ich Sicherheit und mache, | |
was ich wirklich, wirklich will. | |
Die meisten erfüllten sich Wünsche, bei denen die Besucher erst mal | |
dachten, oh je, haben wir den Verein dafür gegründet? Es wurde gereist. | |
Auch sehr weit. Konzertkarten wurden gekauft. Oder das Geld wurde auf die | |
Seite gelegt. Aber fast alle berichteten, dass sie besser schlafen. Sie | |
stellen ihren Job in Frage, ihre Ehe, manche ihr ganzes Dasein. „Viele | |
strampeln sich erst mal frei. Dann merken sie: Nur freistrampeln ist es | |
nicht.“ Es kam etwas in Gang. | |
„Man muss die Freiheit auch aushalten“, sagt Michael Bohmeyer, einer der | |
Autoren, „denn es ist gar nicht so leicht, viele Möglichkeiten zu haben.“ | |
Langsam entwickelte sich Tatendrang. „Sie lernen, sich besser um sich | |
selbst zu sorgen“, und sich zu fragen: „Was kann ich, was will ich?“ Für | |
diese Reisen ins eigene Leben und in die Welt ist der Grundeinkommensscheck | |
die Fahrkarte. | |
## Sein, nicht Haben | |
Die Grundidee, sagt Bohmeyer, „ist gar nicht das Geld. Die große Wirkung | |
entfaltet die Bedingungslosigkeit. Es geht nicht so sehr ums Haben, sondern | |
ums Sein.“ | |
Wenn man über all das weiter nachdenken will, sollte man das erste, 1964 | |
erschienene Buch des vor einem Jahr verstorbenen Klaus Heinrich „Die | |
Schwierigkeit nein zu sagen“ hervorholen. Die Schwierigkeit, den Verrat am | |
Lebendigen aufzugeben, die Verneinung der Perfektion, die ein Glaube an den | |
Tod ist. Es lohnt sich und hilft mir über die Trauer hinweg, dass nun | |
Gespräche mit Götz Werner nicht mehr möglich sind. | |
15 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Reinhard Kahl | |
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