| # taz.de -- Essen und Revolution: Futterneider aller Länder, vereinigt euch! | |
| > Futterneid haben Menschen, die in Knappheit aufgewachsen sind, heißt es. | |
| > Gerade sie sollten gegen den Egotrip ankämpfen, statt sich darauf | |
| > auszuruhen. | |
| Bild: Soviel Pasta wie möglich | |
| Ich liebe Pasta, aber Pastaessen kann harte Arbeit sein. Wenn der Parmesan | |
| am Stück serviert wird, dann muss man ihn reiben. Und dann reibe ich und | |
| reibe. Und reibe. Im besten Fall haben die anderen am Tisch schon vor mir | |
| gerieben. Wenn meine Gier größer war als die Vernunft, dann sitzen sie da | |
| und warten und warten. Und warten. Während der Parmesanberg immer größer | |
| wird, versuchen sie kein Ding daraus zu machen, manchmal gucken sie | |
| trotzdem verständnislos. | |
| „Was ist das wieder für ein Haufen? Was kompensierst du?“, fragte letztens | |
| eine Freundin. „Stimmt“, dachte ich, „wieso esse ich eigentlich Parmesan | |
| mit Pasta statt Pasta mit Parmesan? Was passiert mit mir, wenn ich esse? | |
| Was ist eigentlich los mit mir?“ | |
| Dabei ist das nur die Spitze des Parmesanbergs. Wenn ich Hunger habe, dann | |
| schaue ich nicht nur, ob ich genug auf den Teller bekomme, sondern auch | |
| darauf, ob die anderen nicht vielleicht mehr bekommen. Wenn es ein | |
| Schnitzel gibt oder einen Burger, dann habe ich immer das Gefühl, dass das | |
| Schnitzel oder der Burger der anderen größer ist. Verteilen möchte ich das | |
| Essen lieber nicht, auch wenn ich selbst gekocht habe, denn beim | |
| Essenverteilen verrät sich der Futterneider am ehesten, die Versuchung ist | |
| groß. | |
| Dabei gibt es heute für mich fast nie einen rationalen Grund für die Angst, | |
| nicht satt zu werden. Außer wenn jemand Sushi bestellt – so klein, so wenig | |
| und dann auch noch so teuer! Aber selbst dann ist Futterneid unsozial und | |
| uncool. Weil nicht nur die anderen am Tisch einen komisch finden, man | |
| versaut sich damit ja auch selbst die Mahlzeit. | |
| ## Geschwister und Knappheit | |
| Es gibt ja die populäre Erklärung, dass Futterneid hat, wer mit vielen | |
| Geschwistern und in armen Verhältnissen aufgewachsen ist. Ich bin mit drei | |
| Geschwistern und nicht im Überfluss aufgewachsen. Die küchenpsychologische | |
| Theorie befriedigt mich trotzdem so wenig wie eine normale Portion | |
| Parmesan. Am Ende dient sie dazu, den eigenen Futterneid schönzureden. Und | |
| selbst wenn sie stimmte: Wäre es nicht tragisch, dass gerade diejenigen, | |
| die Knappheit erlebt haben und es deshalb besser wissen müssten, so eine | |
| Egoshow am Esstisch abziehen? | |
| Marxistisch gesehen geht es gar nicht um die Moral des Einzelnen, sondern | |
| um die Art und Weise, wie Produktion und Konsum in unserer Gesellschaft | |
| organisiert sind, auf Ungleichheit basierend und diese stetig | |
| hervorbringend. Wieso sollten sich da gerade die Ausgebeuteten besser | |
| verhalten als die Ausbeuter? | |
| Trotzdem hängen wir da alle gemeinsam drin – die Futterneider und die | |
| Nichtfutterneider. Und irgendjemand muss ja damit anfangen, etwas zu | |
| verändern. Deshalb werde ich es ab jetzt mit Pasta mit Parmesan statt | |
| Parmesan mit Pasta probieren. Die Futterneider haben nichts zu verlieren | |
| als ihre Parmesanreiben. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Futterneider | |
| aller Länder, vereinigt euch! | |
| 4 Aug 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Volkan Ağar | |
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